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Pankaj Mishra
Begegnungen mit China und seinen Nachbarn

Gibt es eine Einheit Asiens jenseits westlicher Zuschreibungen, aber auch jenseits der imaginären Wertegemeinschaft, wie sie autoritäre asiatische Herrscher gern zur Selbstbeweihräucherung anführen? Der indische Schriftsteller und ausgebildete Ökonom Pankaj Mishra, der seit langem den größten Kontinent bereist und mit kritischem Instrumentarium erforscht, behauptet: ja.

Von Angela Gutzeit | 08.02.2016
    Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra, Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung während des Festakts anlässlich der Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2014 im Gewandhaus.
    Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra, Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung während des Festakts anlässlich der Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2014 im Gewandhaus. (Leipziger Buchmesse)
    Was die Region eint, ist seiner Beobachtung nach die verspätete Ankunft des Kapitalismus und mithin die Erfahrung einer "bitter paradoxen Moderne", die neues Leben verspricht, indem sie alte Orientierungen zerstört:
    "Die großen Veränderungen, welche im 19. Jahrhundert Europa erschütterten, lassen sich heute in ganz Asien beobachten: die Verwandlung des Lebens und des Bodens in Waren, deren Bewertung durch die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, der Zerfall der Gemeinschaften zu Aggregaten aus Individuen auf der Suche nach sich selbst, das Streben nach persönlichem Reichtum und Status, die Verzweiflung und Angst der Verlierer sowie der erbitterte Widerstand und die hektischen Improvisationen der Zurückgebliebenen und Zurückgestoßenen."
    Der Mittvierziger Mishra ist einer der international einflussreichen Intellektuellen, die mit ihrer biographischen Erfahrung, mit profunder Bildung und politischem Weitblick das zerfallende westliche Weltbild transzendieren. Nachdem er im vergangenen Jahr für seine Studie über den Weg Asiens aus der kolonialen Umklammerung den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten hat, präsentiert er nun einen historisch grundierten Rundblick über die Gegenwart Chinas und seiner Nachbarn. Taiwan und Hongkong, Tibet und die Mongolei, die südostasiatischen Länder Indonesien und Malaysia. Und schließlich Japan werden in Reiseeindrücken, in Gesprächen mit Politikern und Intellektuellen sowie in historischen, politischen und literarischen Lektüren erkundet. Der Autor selbst betrachtet seine zwischen Reportage und Essay angesiedelten Arbeiten als "Prozess der Selbstbildung" und Erweiterung seines eigenen indischen Horizonts. Wenn er etwa feststellt, dass China, früher das Land mit der größten Gleichheit der Welt, nun eines der Länder mit der größten Ungleichheit geworden ist, so fällt sein Blick auf den Politikwechsel in Indien unter dem neuen Premierminister der Hindu-Nationalisten:
    "In Indien bevorzugen Großindustrielle (...) gemeinsam mit der aufkommenden Mittelschicht wirtschaftsfreundliche Politiker wie Narendra Modi, dessen Beteiligung an der Ermordung von mehr als 2000 Muslimen im Jahr 2002 seinen Erdrutschwahlsieg nicht verhinderte. (...) Modi, der öffentliche Ressourcen für private Industrie- und Infrastrukturprojekte enteignet und Kritiker unterdrückt, ist der erste indische Vertreter eines Kapitalismus chinesischer Prägung."
    Entwicklung des Kapitalismus in Staaten mit autoritärer Hierarchie
    Mit China beschäftigt sich gut die Hälfte des Buches, von Maos Großem Sprung und den gigantischen Hungerkatastrophen, die er hervorrief, über die von Deng Xiaoping dekretierten marktwirtschaftlichen Reformen bis zu dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz und der kollektiven Amnesie, die das Geschehen von 1989 aus der Erinnerung tilgte. Die Analyse des in China verbotenen Romans "Peking Koma" von Ma Jian entschädigt den Autor für die ängstliche Zurückhaltung vieler chinesischer Gesprächspartner zu diesem Thema, belehrt ihn aber auch über die Zerstrittenheit der damaligen Opposition und die Tatsache, dass die meisten Protestierenden und Opfer nicht Studenten, sondern einfache Beijinger Bürger waren. Solchen überraschenden Korrekturen einer vereinfachenden Sichtweise begegnet man allenthalben, etwa bei der folgenden Beobachtung:
    "Zum größten öffentlichen Tumult in China seit dem Tiananmen kam es im August 1992, als Hunderttausende von Chinesen an der gerade eröffneten Börse von Shenzen Aktien zu kaufen versuchten."
    Und als so engagierter wie differenzierter Kapitalismuskritiker wendet sich Mishra gegen jene, die auf eine Milliarde chinesischer Neukunden für westliche Waren spekulieren und das Land zugleich ins Vorzimmer der Demokratie verweisen:
    "Im Westen fragen die Menschen, wie China den Kapitalismus mit einem autoritären Staat entwickeln konnte. Aber dabei übersehen sie, dass der Kapitalismus sich im Westen (...) mit Hilfe von Imperialismus und Kolonialismus entwickelt hat."
    Vollends bei der Erkundung Tibets versagt laut Pankaj Mishra die übliche Gegenüberstellung von autoritärer Herrschaft und Demokratie. Was er bei seinem Besuch bei der tibetischen Aktivistin Woeser, in besonders erschütternder Weise aber auf seiner Fahrt auf der neuen Eisenbahnstrecke von Beijing nach Lhasa erlebt, ist weit eher der Gegensatz zwischen einer alten, auf kollektiven Werten und Nachhaltigkeit gründenden Kultur und einer aggressiven Fortschrittsideologie, die zudem nicht davor zurückschreckt, die ethnischen Traditionen der tibetischen Modernisierungsopfer zynisch zu vermarkten. Wiederum aber werden den Lesern simple Zuschreibungen verweigert. Mishra beschreibt den trostlosen Zustand von Entwurzelung, Umweltkrise und chinesischem Rassismus in Tibet ebenso wie die Grausamkeiten der früheren feudalen Mönchsherrschaft. Dieselbe Unbestechlichkeit zeigt er auch in einem klugen Porträt des Dalai Lama. Besonders eindrucksvoll sind kleine Beobachtungen wie die im Gebetsraum eines tibetischen Bauernhauses:
    "An einer relativ leeren Wand hing ein Poster, das obligatorische Porträt von Hu Jintao. (...) Auf diesem Porträt hatte man den chinesischen Präsidenten tibetisiert. Er trug einen Gebetsschal, und man hatte sein Gesicht über Bilder des Potala-Palasts und ekstatischer tibetischer Tänzer in traditioneller Tracht gesetzt. Mit einem verschwörerischen Lächeln wies der Bauer auf eine der hölzernen Truhen. Da drinnen, so sagte er, befinde sich ein Bild des Dalai Lama."
    Neben dem Pfeffersack-Utopia Hongkong, das nur zaghafte Oppositionsbestrebungen zeigt, und Taiwan mit seiner selbstbewussten Identität und seinen starken gegenkulturellen Strömungen rückt mit der Mongolei das untergegangene Reich Dschingis Khans in den Blick, das seine Abhängigkeit von Russland mit der von China getauscht hat. Malaysias fließende indochinesische Multikulturalität weiß sich gegen einen ethnisch-malaiischen Nationalismus zu behaupten, wie Mishra hoffnungsvoll analysiert. Die komplexesten Studien widmet er neben China dem Inselstaat Indonesien mit seinen politischen und religiösen Verstrickungen und Japan, diesem Land ohne kosmopolitische Tradition, das mit seiner Nachahmung des Westens eine Art innere Kolonisierung vollzogen hat. So charakterisiert Mishra Japans militaristische Entwicklung in den sarkastischen Worten des großen Kunstwissenschaftlers Okakura Tenshin:
    "'Im Westen hielt man Japan für barbarisch, als es sich in der sanften Kunst des Friedens übte; man nennt es zivilisiert, seit es auf den mandschurischen Schlachtfeldern massenhafte Blutbäder anzurichten begann.'"
    Pankaj Mishras so fundierte wie lebendige Arbeiten sind in den letzten Jahren im Auftrag von führenden US-amerikanischen Zeitschriften entstanden. Leider fehlt der geschickten Kompilation, auch in der englischen Ausgabe, nicht nur ein Nachweis der Originalveröffentlichungen, sondern auch ein Literaturverzeichnis, was umso bedauerlicher ist, als niemand, der sich näher für eines der behandelten Länder interessiert, an diesem aufregenden Buch vorbeikommen wird.
    Pankaj Mishra, Begegnungen mit China und seinen Nachbarn.
    Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, 381 S., € 24,99