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Pankaj Mishra: "Das Zeitalter des Zorns"
Ein Unbehagen an der Moderne

"Es gibt weit mehr Sehnsüchte, als sich im Zeitalter der Freiheit und des Unternehmertums legitim verwirklichen lassen", schreibt der indische Essayist Pankaj Mishra in "Das Zeitalter des Zorns". Sein neues Buch beschreibt das Unbehagen an der Moderne und ist eine Kritik an einem nicht zur Selbstreflexion fähigen Liberalismus.

Von Ulrich Rüdenauer | 19.07.2017
    Buchcover Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns
    "Diese universelle Krise reicht sehr viel weiter als die Probleme des Terrorismus oder der Gewalt", schreibt Pankaj Mishra in "Das Zeitalter des Zorns". (S. Fischer Verlag / Deutschlandradio, Oranus Mahmoodi)
    Den Mythos vom Tellerwäscher, der zum Millionär aufsteigt, könnte man als das große Versprechen des Liberalismus verstehen: Jeder hat nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Chancen - jeder ist seines Glückes Schmied. Es schwingt darin ein immenser Zukunftsoptimismus mit. Das politische und ökonomische Selbstverständnis moderner Gesellschaften basiert nicht zuletzt auf den Träumen von Fortschritt und Wachstum, Selbstverwirklichung und Durchlässigkeit. In Zukunft, so die zugrunde liegende Idee, wird es dem Einzelnen materiell besser gehen als in der Gegenwart.
    Wir sehen aber heute, dass dieses Versprechen für eine große Zahl von Menschen drastisch an Überzeugungskraft verloren hat. Das gilt nicht allein für jene Länder, die in den letzten 200 Jahren zu den Verlierern der kapitalistischen Dynamik gezählt haben und heute verzweifelt versuchen, sich in die globalen Handelsströme einzufügen. Sondern auch für die Kernländer des Liberalismus, wie Pankaj Mishra in seinem neuen Buch feststellt.
    Mehr Sehnsüchte als sich legitim verwirklichen lassen
    "Es gibt weit mehr Sehnsüchte, als sich im Zeitalter der Freiheit und des Unternehmertums legitim verwirklichen lassen; mehr Wünsche nach Konsumgütern, als mit den gegenwärtigen Einkommen erfüllt werden können; mehr Träume, als durch Umverteilung und größere Chancen mit einer stabilen Gesellschaft vereinbar wären; mehr Unzufriedenheit, als Politik oder traditionelle Therapien zu beschwichtigen vermöchten; mehr Nachfrage nach Statussymbolen und Markennamen, als mit nichtkriminellen Mitteln befriedigt werden könnte; mehr Ansprüche auf Prominenz, als angesichts der zunehmend zersplitterten Aufmerksamkeit noch durchsetzbar wären; mehr Reize aus den sozialen Medien, als man in Handeln umsetzen könnte; und mehr Empörung, als sich durch die sozialen Medien zum Ausdruck bringen ließe." (Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns)
    Die einmal geweckten Wünsche lassen sich, so Mishra, nicht mehr bändigen - schon gar nicht in der Ära des Internets. Den bestehenden politischen, sozialen und ökonomischen Institutionen gelinge es zudem immer weniger, die frei gesetzten Energien zu kanalisieren. Diese Diagnose steht im Zentrum seiner Studie "Das Zeitalter des Zorns".
    Irrationale Wut, Chauvinismus und Gewalt
    Die Symptome, die dem Befund zugrunde liegen, lassen sich seit einigen Jahren nicht mehr übersehen: Stetig wiederkehrende Finanzkrisen, nationalistische Strömungen allerorten, weltweiter Terrorismus, Kriege, rechte Bewegungen, Brexit, die Wahl Donald Trumps und die Unterhöhlung demokratischer Institutionen in der Türkei, in Polen, in Ungarn oder die Sehnsucht nach starken Führern - die Liste ließe sich problemlos noch erweitern. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr repräsentiert, sondern ausgeschlossen und machtlos. Und sie reagieren auf die Komplexität und Unüberschaubarkeit aktueller Probleme mit irrationaler Wut, mit Chauvinismus und Gewalt.
    Die Rede vom "Ende der Geschichte", das Francis Fukuyama vor 25 Jahren ausrief, erscheint heute als hohle Selbsttäuschung: Wir stecken inmitten einer der konfliktreichsten und explosivsten Epochen.
    Der 1969 geborene, indische Gesellschaftstheoretiker und Schriftsteller Pankaj Mishra versucht, mit seinem Buch herkömmliche Erklärungsmuster der derzeitigen Krise zu unterlaufen. Und so zu einem anderen Verständnis akuter Verwerfungen und des unheiligen Zorns etwa der Dschihadisten beizutragen.
    Kein Kampf der Kulturen
    "Diese universelle Krise reicht sehr viel weiter als die Probleme des Terrorismus oder der Gewalt. Diejenigen, die reflexhaft behaupten, es handle sich um einen 'clash of civilisations', einen Konflikt oder gar Kampf der Kulturen, in dem der Islam und der Westen, Religion und Vernunft einander gegenüberstehen, vermögen zahlreiche politische, soziale und ökologische Übel nicht zu erklären." (Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns)
    Unter der Schicht quasireligiöser Rhetorik des IS verberge sich nämlich etwas, das an weltlich ausgerichtete Radikale des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Bakunin oder D'Annunzio erinnere: Frauenverachtung, Kriegsverherrlichung, Nationalismus, Judenhass und Ressentiment gediehen damals mitten in Europa. Hintergrund war die zu tiefen Erschütterungen führende Industrialisierung. Der Anarchismus fand viele Anhänger: Eropäische Großstädte und Eliten wurden von unzählbaren Bombenattentaten heimgesucht.
    Mishra verfolgt die Spur der Gewalt und der Kritik an der Aufklärung und am Liberalismus von Rousseau über die Romantiker bis zum Faschismus und Stalinismus im 20. Jahrhundert auf geradezu stupende Weise. Von Herder über Dostojewski bis zu Nietzsche wird jeder zitiert, der ein Unbehagen an der Moderne formulierte.
    Mishra: Moderne Werte niemals für die Mehrheit der Menschen vorgesehen
    Mishra entdeckt dabei tiefe geistige und psychologische Bezüge zu unserem heutigen "Zeitalter des Zorns". Das grundlegende Problem bestehe darin, so Mishra, dass moderne Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Wohlstand niemals für die Mehrheit der Menschen vorgesehen gewesen seien. Voltaire, die "Ikone der Aufklärung", habe zwar für die Meinungsfreiheit und eine bürgerliche Gesellschaft gestritten, sich zugleich aber der herrschenden Klasse anheischig gemacht. Dass auch der kleine Mann in den Genuss bürgerlicher Rechte und wirtschaftlichen Wachstums kommen sollte, hatten die frühen Aufklärer kaum im Sinn.
    Erst in Folge der Französischen Revolution sollten liberale Ideen universell durchgesetzt werden - auch mit imperialistischer Gewalt. Dieses Projekt der Moderne allerdings stößt seither immer wieder an Grenzen. Traditionelle Beharrungskräfte und irrationale Stimmungen werden von Liberalen häufig unterschätzt. Die Gefühle von Ungerechtigkeit und Frustration sind schließlich da unvermeidlich, so Mishra, wo sich das Versprechen von Gleichheit und Prosperität in der globalisierten Welt nur für wenige erfüllt und wirtschaftliche Potenz wie im Neoliberalismus zum Maß aller Dinge wird.
    "Ob in Indien, Ägypten oder den Vereinigten Staaten, überall bemerken wir heute bei den Enttäuschten denselben Hang zur Revolte und bei den Verwirrten die Neigung, Zuflucht in einer kollektiven Identität und in Phantasien einer neuen Gemeinschaft zu suchen. Die Last persönlicher Unzulänglichkeit und Entfremdung wird außerdem noch verstärkt durch das unausweichliche Bewusstsein eines grenzenlosen Horizonts globaler Komplikationen." (Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns)
    Zorn bei jenen, die sich abgehängt fühlen
    An den metaphysischen Dualismen festzuhalten und die vorgebliche Rationalität liberaler Demokratien dem "islamischen Irrationalismus" entgegenzusetzen, ist nach Pankaj Mishra der sichere Weg in den Untergang demokratischer Gesellschaften. All dies verschleiere nur die wirklichen Konflikte, die den Westen seit dem 19. Jahrhundert prägen und die er schließlich in weite Teile Asiens und Afrikas exportiert hat. Die Ideologie der Anhäufung privaten Reichtums nämlich erzeuge unweigerlich Zorn bei jenen, die sich abgehängt fühlen.
    Was aber ist die Alternative zum von Mishra skeptisch betrachteten Projekt der Moderne? Darüber gibt das Buch keine Auskunft. Es endet sehr allgemein mit dem Plädoyer für ein verändertes Denken über das Ich und die Welt: Man müsse anerkennen, dass die Widersprüche und Kosten des Fortschritts enorm seien und die Globalisierung für viele Menschen Unsicherheit und Armut bedeute.
    Auch wenn Mishra viele Krisensymptome über einen Kamm schert und manch positive Entwicklung seit 1945 in Sachen Demokratisierung und Menschenrechte außer Acht lässt: Sein Blick auf die liberale Weltordnung, die Dialektik der Aufklärung und die Verknüpfung geistiger Strömungen verschiedener Epochen ist gleichwohl originell, anregend, provokant. Als Geschichtsschreiber der Gegenwart weist Pankaj Mishra sehr eindrücklich auf die blinden Flecken in unserem Denken hin.
    Pankaj Mishra: "Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart." Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff. S. Fischer Verlage. 416 Seiten. 24 Euro.