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Panorama einer vergangenen Welt

Ostpreußen ist in den Feuerstürmen des Zweiten Weltkrieges untergegangen, geblieben sind Erinnerungen und Fotos. Einige sehr alte Aufnahmen haben die Zeit überdauert und wurden jetzt mit einem Begleittext des Schriftstellers Arno Surminski veröffentlicht. Den Bildband "Das alte Ostpreußen" hat sich Ulla Lachauer angesehen.

07.01.2008
    Das Buch im weinroten Einband liegt schwer in der Hand. Sein Titelfoto: einige Keitelkähne, die sich im stillen Wasser spiegeln, Eingeweihte wissen gleich: Das ist Ostpreußen, wir sind am Kurischen Haff, anno 1900 oder etwas später.

    "Das Gefühl des Nachhausekommens wird sich bei vielen einstellen, die die Bilder dieses Buches anschauen."

    Schreibt Arno Surminski, der als Autor firmiert, aber doch eher ein Herausgeber ist. Eine bewährte gute Idee: einen bekannten Schriftsteller, der in der Gegend beheimatet ist, Bilder einer vergangenen, verlorenen Welt, kommentieren und erzählerisch umrahmen zu lassen.

    Diese Fotos hier stammen ursprünglich aus Königsberg, aus dem Bestand des Denkmalamtes, vor einigen Jahren wurden sie in Warschau wiederentdeckt.

    "In den traurigen Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges sind die ’Familienbilder’ einer ganzen Region gefunden worden, jener Region, die einmal Ostpreußen war und heute mit Polen und Litauen zu Europa gehört und mit der russischen Exklave Kaliningrad auf Europa wartet. Mit mehr als 8000 Fotos ist das alte Ostpreußen aus der Geschichte wieder aufgetaucht, keine Gelegenheitsschnappschüsse aus dem Familienkreis, sondern künstlerisch bedeutsame Bilder, die von professionellen Fotografen angefertigt worden sind."

    Städtebilder, Dorfbilder, Landschaftsbilder, der Großteil der hier ausgewählten ist vor dem Ersten Weltkrieg aufgenommen worden. Der Marktplatz von Wormditt mit seinen Laubenhäusern, die Alte Börse in Königsberg, Reet gedeckte, niedrige Häuser in Pillkoppen, davor Fischerfrauen in blütenweißen Kopftüchern. Totalen zumeist, mit Sachverstand kadriert, und weil sie im Buch oft großformatig dargeboten werden, kann man darin spazieren gehen.

    Immer wieder umkreist Arno Surminski den Untergang, wird das Kriegsende zum Thema. Auf dem Foto der Marktplatz von Allenstein, im Text ein Literaturhinweis auf Lew Kopelew, der den Einzug der Roten Armee in Allenstein, Januar 1945, schildert. Auch das Schicksal der Fotos in dieser Zeit wird beleuchtet:

    "Ein Wunder ist es, dass die Fotosammlung nicht in den Flammen der Bombardierung 1944 unterging oder in der Endphase des Krieges zerstört wurde. Ihre Evakuierung aus Königsberg wurde zu spät ins Werk gesetzt. Der Zug, in dem sich die Kisten mit der Fotosammlung befanden, blieb unweit der Stadt Thorn auf freier Strecke liegen. Nach dem Ende der Kriegshandlungen entdeckte man den Fund in einem Güterwagen auf einem Abstellgleis. Von Warschau kamen Kunsthistoriker, die sich der Sammlung annahmen und sie in die polnische Hauptstadt überführten."

    Glücklicherweise konnten besonders viele Fotos aus dem nördlichen Ostpreußen gerettet werden, also dem Gebiet, wo nach 1945, unter sowjetischer Herrschaft, massenhaft Kulturdenkmäler, sogar ganze Ortschaften vernichtet wurden. Zu den interessantesten Bildern gehören Ansichten aus der Memelniederung, von den Fischerdörfern Inse und Gilge, dem Großen Moosbruch. Heute ist diese Kulturlandschaft im Delta weitgehend von Wildnis überwuchert.

    Das Landschaftliche war nicht eigentlich Thema der Fotografen des Königsberger Denkmalamtes, ihr Auftrag war, Gebäude aufzunehmen, einzelne Häuser, Kirchen und Burgen, Weichbilder von Ortschaften. Aber es ist gelungen, aus den vielen tausend Bildern einige herauszufischen, in denen das Gesicht der Natur und der Kulturlandschaft festgehalten wurde: eine Allee, die Ostseeküste, das Frische und das Kurische Haff, Flüsse und von Menschenhand geschaffene Kanäle, ein ganzes Kapitel ist allein der Bedeutung des Wassers gewidmet. Und wieder setzt Arno Surminski zu den idyllischen Bildern den Kontrapunkt:

    "Während die Kurische Nehrung 1945 vom Krieg fast vergessen wurde, spielten Frisches Haff und Frische Nehrung eine tragische Rolle. Nachdem alle Landwege von der Roten Armee blockiert waren, mussten die Ostpreußen auf dem Wasserweg über Pillau und Danzig die Provinz verlassen. Das Frische Haff leistete ihnen einen besonderen Dienst, es fror zu und eröffnete den Flüchtlingen einen Weg über das Eis und die Nehrung hinab nach Danzig."

    Auch Menschen sind auf den Fotos zu sehen, das macht sie für unsere heutigen Augen besonders reizvoll. Damals waren sie eher Nebensache, die Fotografen des Denkmalamtes nahmen in Kauf, dass sie da waren. Oft platzierten sie Passanten und Fuhrwerke nach ihren künstlerischen Wünschen, hierhin und dorthin, hübsch in einer Reihe oder in Grüppchen, und dann hieß es: Stillgestanden! Denn die Verschlusszeiten der Kameras waren noch relativ lang. In einem der schönsten Kapitel stellt Arno Surminski Fotos von Kindern zusammen.

    "Warum die Fotografen sie so oft ins Bild gebracht haben, lässt sich heute nicht mehr klären. ’Kulturdenkmäler’ waren sie nicht, aber die Kinder versammelten sich vor jenen Objekten, die der Fotograf aufnehmen wollte, und waren durch nichts zu bewegen, aus dem Weg zu gehen. Wenn der Fotograf das Rathaus fotografieren wollte, musste er die Kinderschar davor wohl oder übel mit aufnehmen."

    Schade, dass Herausgeber und Verlag sich nicht entschließen konnten, hier und da Ausschnitte zu vergrößern. Ich hätte die Menschen gern etwas näher gesehen und nur Panoramen und Totalen sind auf einer Strecke von 250 Seiten etwas eintönig. Ich hätte auch gern ein wenig mehr über die großartigen Fotografen erfahren, denen wir dieses facettenreiche Porträt des alten Ostpreußens verdanken. Sie sind die eigentlichen Schöpfer dieses Werkes. Und wir erfahren nicht einmal ihre Namen!

    Es wäre ein Leichtes gewesen, diese und andere Informationen aus dem deutsch-polnischen Katalog zu entnehmen, der begleitend zur Wanderausstellung erschien, die Teile des Bestandes unter dem Titel "Der Fotograf kommt!" präsentierte. Und ein bisschen deutlicher hätte der Hinweis auf die mühevolle und kluge Vorarbeit der Warschauer Kollegen, die sich der Sammlung annahmen, schon ausfallen dürfen. So bleibt der Band in seinen Texten allzu sehr im Erfahrungshorizont des Schriftstellers Arno Surminski aus Masuren.

    Nichtsdestoweniger ist dieser subjektive, autobiografische Text die Stärke dieses Buches. Als Leserin begegne ich Surminskis Büchern wieder, und das ist ein besonderes Erlebnis. Seine Schilderungen beleben die oft spröden Fotos, und so spüre ich beim Anblick der Erntebilder die Hitze des August, wie das Getreide duftet.

    "Zu keiner Jahreszeit war das Land so belebt wie im August. Da blieben sie auf den Feldern, bis das Tageslicht erlosch. Auf Pflasterstraßen und Feldwegen klapperten die Erntewagen, schwenkten ein zur Feldscheune, kamen leer zum hinteren Tor heraus, fuhren im Trab zu den Hockenreihen, die sich rot färbten in der Abendsonne. Wie viele Bilder sind uns verloren gegangen? Hockenaufstellen. Zwei Mann in jeder Reihe. Vierundzwanzig Garben auf eine Hocke, eine schönes Haus, das Schatten wirft und inwendig nach Brot duftet. In der Hocke kannst du schlafen. Wer das nie getan hat, hat viel versäumt. Einen Tag in der Hocke verträumen. Zwischen den Stoppeln huscht eine Maus, ein Grashüpfer kommt zu Besuch, draußen geht der warme Wind übers Land. Und niemand kann dich finden."

    Arno Surminski: Das alte Ostpreußen
    Fotografien des Königsberger Denkmalamtes von 1880 bis 1943

    Ellert und Richter Verlag, Hamburg 2007, 19,90 Euro