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Panoramabilder einer Gesellschaft

Leonid Dobycin erzählt in "Die Stadt N." eine Familiengeschichte, die sich über mehrere Jahre im vorrevolutionären Russland hinzieht. Er schafft eine brillante Milieustudie über das Kleinbürgertum im baltischen Dvinsk, das als Vorbild für die Stadt N. diente.

Von Uli Hufen | 25.02.2010
    Die beiden besten Bücher russischer Schriftsteller, die in diesem Herbst in Deutschland erschienen sind, haben vieles gemein und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Lew Tolstois "Anna Karenina" - gerade ist im Hanser Verlag eine hervorragende neue Übersetzung erschienen, die erste seit 50 Jahren – ist ein Klassiker der Weltliteratur, wurde x-mal übersetzt und verfilmt, von Literaturwissenschaftlern in alle Einzelteile zerlegt und von Generationen von Lesern auf der ganzen Welt verschlungen. Leonid Dobycin und sein Roman "Die Stadt N." aus dem Jahr 1935 waren über 50 Jahre vergessen, bevor Autor und Werk gegen Ende der 80er-Jahre neu entdeckt wurden. Der Nobelpreisträger Iosif Brodskij nannte Dobycin einst den besten russischen Prosaautoren des 20. Jahrhunderts. Doch Dobycin blieb ein Geheimtipp, auch in Russland.

    Wie Tolstoi erzählt auch Leonid Dobycin eine Familiengeschichte, die sich über mehrere Jahre hinzieht. Beide Geschichten spielen im vorrevolutionären Russland: Während es bei Tolstoi um die 1870er-Jahre geht, zeigt Dobycin uns die Jahre zwischen 1903 und 1911. Beide Autoren schaffen brillante Milieustudien – hier der Moskauer und Petersburger Hochadel, da das Kleinbürgertum im baltischen Dvinsk, das als Vorbild für die Stadt N. diente. Beide flechten den historischen Hintergrund elegant ein, bei beiden entstehen nach und nach Panoramabilder einer Gesellschaft, wie sie nur ganz große Schriftsteller erschaffen können.

    Der Realist Lew Tolstoi breitet sein Gesellschaftspanorama auf deutlich mehr als 1000 eng bedruckten Seiten aus. Kein Grashalm bleibt unbeschrieben, jede Seelenregung der Figuren wird bis ins feinste Detail ausgestaltet. Es ist, als ob die ganze, ganze Welt in Worte verwandelt wäre. Leonid Dobycin kommt – in der schön gestalteten deutschen Ausgabe, die gerade bei der Friedenauer Presse erschienen ist – mit 150, noch dazu lose gesetzten Seiten aus. Hätte man "Die Stadt N." so gedruckt, wie "Anna Karenina", es wären 70, vielleicht 80 Seiten geworden.

    Wie aber ist das möglich? Wie kann Leonid Dobycin auf weniger als 100 Seiten Ähnliches leisten, wie Tolstoi auf mehr als 1000? Diese Frage führt direkt ins Herz der Dobycinschen Kunst und zeigt, welche dramatischen Umwälzungen sich in der russischen Literatur zwischen 1875 und 1935 abspielten. Tolstoi war ein klassischer Erzähler des 19. Jahrhunderts, vielleicht der größte von allen. Dobycin schrieb unter dem Eindruck der Revolution und der Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er schrieb nach Tschechow, nach Majakowskij, nach Chlebnikow; als Zeitgenosse von Wiktor Schklowskij, Juri Tynjanow, Isaak Babel und Daniil Charms. Und das merkt man auf jeder Seite und in jedem Satz. Ohne Übertreibung ließe sich sagen, dass es in der "Stadt N." nicht einen einzigen Satz gibt, der von Tolstoi hätte stammen können.

    In diesem Herbst infizierte sich bei einer Obduktion und verstarb der Vater. Bis man ihn zur Kirche hinaustrug, stand unser Haupteingang offen, und jeder konnte zu uns kommen. Die Kellerbewohner waren viele Male da. Statt sie hinauszujagen, liefen ihnen die Köchin und das Kindermädchen entgegen, standen, von ihnen umringt, und teilten ihnen jegliche Einzelheiten über uns mit.

    Beim Totenamt war großes Gedränge, und eine liebenswürdige Dame, die eigens aus Vitebsk zur Beerdigung gekommen war, hob ihre Schleppe auf, führte mich beiseite und stellte sich mit mir vor den Cruzifixus. Johannes neben dem Kreuz, anmutig, erinnerte mich an Vasja. Tief gerührt, konnte ich mich nicht sattsehn an den Wunden Jesu Christi und dachte, das auch Vasja litte.

    Der Erzähler in "Die Stadt N." ist ein kleiner Junge, der abwechselnd "ich" sagt oder "wir", womit er seine Familie meint, die nach dem Tod des Vaters nur noch aus ihm selbst und der Mutter besteht. Der Junge erzählt, was er sieht und erlebt, nicht mehr, nicht weniger. Er erklärt nicht, er psychologisiert nicht, er fragt sich selten, warum jemand etwas tut oder nicht tut.

    Vater Fedor hielt an diesem Tage eine interessante Predigt; er wandte sich an Maman, nannte sie, als wäre er bei uns zu Besuch, beim Vor- und Vatersnamen und sagte "Du" zu Maman. – Gott hat dir das Leid geschickt, - sprach er, - und ist dir in ihm begegnet. Es war einmal ein Heiliger, der keine Leiden hatte, und er weinte deswegen."

    Am Abend, als die letzten Gäste gegangen waren und nur die Dame aus Vitebsk bei uns blieb und begann, ihr Kleid mit der Schleppe und die Haare abzulegen, sahen wir, wie groß jetzt diese Wohnung für uns war.

    Maman fand eine andere, unweit der Kircha, und wir zogen dorthin um.

    Wie jedes Kind bemerkt der Junge eine Vielzahl von Details, die Erwachsene übersehen: in Geschäftsauslagen, in Bilderbüchern, an der Kleidung der Erwachsenen und an ihren seltsamen Umgangsformen. Andererseits versteht er vieles nicht und schreibt Begriffe aus anderen Sprachen so, wie sie ihm ins Ohr kommen. Er weiß nicht, dass die Wohnung gewechselt werden muss, weil sie nach dem Tod des Vaters nicht mehr zu bezahlen ist, und er sagt Kircha statt Kirche. In Dünaburg lebten nur wenige Russen, dafür viele Juden, Deutsche und Polen.

    All das macht den Text unglaublich präzise und das Lesen schwer. Ein Roman entsteht aus den Wahrnehmungsfragmenten des Jungen nur, weil Leonid Dobycin sie so überaus kunstvoll arrangiert. Wie immer steckt hinter dem, was leicht und beiläufig, ja zufällig wirkt, die Hand eines großen Meisters. Man merkt das zum Beispiel daran, wie Dobycin seine Nebenfiguren plastisch macht und mit Lebensläufen ausstattet. Viele von ihnen streifen die Wahrnehmung des Jungen nur drei, vier mal – folglich widmet Dobycin ihnen auch nur drei, vier kurze Absätze. Doch auf wundersame Weise genügt das, um komplexe Biografien zumindest anzudeuten.

    Dobycins Text ist ein perfektes Beispiel für die alte Behauptung, der Leser habe Sinn und Bedeutung eines Buches in seinem Kopf zusammenzusetzen. Auf "Die Stadt N." trifft dies zu 100 Prozent zu. Doch vor dieses Wunder hat Leonid Dobycin harte Arbeit gesetzt: "Die Stadt N." ist ein schwieriges Buch, obwohl es keinen einzigen schwierigen Satz enthält. Wer erleben will, wie aus Dobycins kurzen Sätzen und Absätzen, aus Hunderten Andeutungen und winzigen Details ein großer Roman wird, muss höchste Konzentration aufbringen. Gelingt das, so wird man mit dreierlei belohnt: Erstens die Geschichte eines heranwachsenden Jungen mit allen Problemen, die das Heranwachsen auch 100 Jahren später noch bietet: die Suche nach Freundschaft, die Schule, die erwachende, noch konfuse Sexualität, die seltsamen Erwachsenen. Zweitens ein denkbar präzises Portrait einer Kleinstadt im russischen Reich wenige Jahre vor den Revolutionen von 1917. Und drittens ein Meisterwerk der russischen Moderne, das im Übrigen mit einer Entdeckung endet, die den Leser dazu zwingt, das Buch sofort noch einmal zu lesen.

    "Die Stadt N." wurde Ende 1935 in Leningrad veröffentlicht und erhielt vernichtende Kritiken. Man warf Dobycin die Verherrlichung der kleinbürgerlich-bourgeoisen Vergangenheit vor und natürlich: Formalismus. 1934 war der sowjetische Schriftstellerverband gegründet worden, sämtliche literarischen Vereinigungen waren aufgelöst, die Zeit der Experimente vorbei. Dobycin kam zu spät. Im Frühjahr 1936 verschwand Leonid Dobycin aus Leningrad und wurde nie wieder gesehen. Seine Werke aber – neben "Die Stadt N." existieren noch Erzählungen und der Kurzroman "Schurkas Verwandtschaft" – seine Werke haben überlebt.

    Leonid Dobycin: "Die Stadt N.".Roman
    Friedenauer Presse, 230 Seiten, Aus dem Russischen von Peter Urban