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Papa in der Krise

Der Patriarch hat ausgedient, ist zur lächerlichen Witzfigur verkommen: Auf der Suche nach einem neuen Rollenbild für heutige Väter begibt sich der Philosoph und Essayist Dieter Thomä auf einen Streifzug durch die Geschichte des Patriarchats. Und zieht in seinem Buch "Väter. Eine moderne Heldengeschichte" die Bilanz, dass der einstige "Ernährer der Familie" vor allem in der Rolle als "Lebenshelfer" seiner Kinder eine Zukunft hat.

Von Marli Feldvoß | 23.04.2009
    Der Philosophieprofessor Dieter Thomä fing an, sich für Eltern-, später speziell für Vaterprobleme zu interessieren, als er selbst zweifacher Vater wurde und die Beeinträchtigungen seines gewohnten Lebensstils zu verkraften hatte. Sein Brevier "Eltern. Eine riskante Lebensform?" ist schon sechzehn Jahre alt, die Kinder sind aus dem Schneider und dem zuständigen "Vater" werden andere Opfer abverlangt. Das heißt jedoch nicht, dass der Autor sich je als ein Alltagsphilosoph oder Ratgeber verstanden hätte. Dieter Thomä vertritt hingegen eine philosophische Grundhaltung, die sich "ins Leben wagt". So werden Aussagen wie "Ich will dich nicht mehr als Vater, ich rufe jetzt einen Krankenwagen, der soll dich zum Friedhof bringen" nur als beängstigende Beispiele aus erlebter Vaterschaft angeführt und als Teil einer "Normalbiografie" eingeordnet.

    Im Fokus von "Väter. Eine moderne Heldengeschichte" stehen die "Väter in der Krise" und das in historischer Dimension. Dabei gehe es, so Thomä, um zwei Debatten: zum einen um die Pendelbewegung vom Autoritären zum Antiautoritären und wieder zurück, zum andren um die "Zukunft der Vaterschaft", die heute durch den "Rückzug der Väter" von ihren traditionellen Aufgaben gefährdet sei.

    "Das Spiel, das hier gespielt wird, ist ein langes Spiel. Es ist eine schier endlose Partie - und man kann sagen, dass dieses Buch ein Spielbericht ist. Früh, nach meiner Rechnung Ende des 17. Jahrhunderts, ist die Familie, das Verhältnis der Generationen in heftige Bewegung geraten. In meiner Geschichte dieser Bewegung halte ich mich an die Väter, weil sie bei dem fliegenden Start, mit dem die Umwälzung des privaten Lebens begann, am Drücker saßen. Die 'toten weißen europäischen Männer' oder die DWEMs ('dead white European males'), die vor einigen Jahren als Buhmänner der Kulturgeschichte herumgereicht wurden, sind die Hauptverantwortlichen für den Weg, den die moderne Gesellschaft genommen hat. Über die Jahrhunderte haben sie Autoritäten verteidigt, aber auch gestürzt. Sie haben an der Spitze der Familien gestanden, bis ihnen schwindlig wurde. Mein Bericht vom Generationenspiel muss dort beginnen, wo die Macht sitzt, denn dann bin ich am nächsten dran, wenn sie bröckelt, sich erschöpft oder erholt, sich schließlich verwandelt, verlagert oder auflöst."

    Als Erstes gibt der Autor den Ring frei für die "Helden" unserer Tage, Promis mit neuen und alten Vaterbildern wie Oliver Kahn, Karl Lagerfeld, Brad Pitt oder Nicolas Sarkozy. Aber sie spielen nur Vorhut für eine geschichtsphilosophische Betrachtung, die in neunzehn Kapiteln vom "Niedergang" bis zur "Wiederkehr" des Vaters handelt, sogar bis zur antiken Figur des Saturn zurückgeht, der seine Kinder verschlang und, so Thomä, bis heute durch viele Seelen geistere.

    Der Saturn-Komplex stellt so etwas wie den roten Faden durch diese Geschichte der Väter dar, in der spätestens seit der Revolution von 1789 die Köpfe rollen: Patriarchenköpfe. Der Anfang vom Ende einer umfassenden Welt- und Gesellschaftsordnung mit dem göttlichen Vater an der Spitze, dem Monarchen in der Mitte und dem "Pater Familias" am unteren Ende.

    "Als Kind war ich fasziniert von diesen Türmen aus Holzbauklötzen, die zusammenstürzten, wenn man nur unten an der richtigen Stelle ein kleines Stück herauszog. Genauso hantiert Locke mit dem Gebäude des Patriarchats. Einige geschickte Bewegungen genügen, und schon ist dieses Gebäude eingestürzt. Aber der Zusammenbruch des Einen ist noch nicht das Richtfest des Anderen. Eine andere Welt - sie muss erst noch erfunden werden."

    Dieter Thomä bleibt bei seinem spielerischen Tonfall, auch wenn er die Theoretiker des Gesellschaftsvertrags wie John Locke, David Hume oder Adam Smith verhandelt, die einst die Kräfte der politischen Emanzipation entfesselten und letztlich für die Folgen verantwortlich sind. Dazu gehört die tückische Frage: "Wenn alle Menschen Brüder sind, wer sind dann ihre Eltern?"

    In kleinen Schritten kämpft sich Thomä durch Revolution und Gegenrevolution diesseits und jenseits des Rheins, befragt einschlägige Autoren wie Büchner, Goethe, Schiller oder den Marquis de Condorcet und seine hochaktuellen "Ratschläge", die dieser seiner vierjährigen Tochter hinterließ, kurz bevor die Revolution auch ihn verschluckte.

    "Die Geburt der Menschenrechte aus dem Geist der Frauen", heißt die nächste Kapitelüberschrift, um schnellstens zu den Männern in Person von Friedrich Hebbel zurückzukehren, der das häusliche Familienoberhaupt als ärgsten Tyrannen geißelte. Gemächlich tastet sich Thomä über das demokratische Vaterbild der neuen Welt weiter vor ins neunzehnte Jahrhundert, zur patriarchalischen Utopie Zolas oder zur Wiederauferstehung der Väter bei Dostojewskij, um im zwanzigsten Jahrhundert, dem Zeitalter der Ideologien mit Kommunismus, Nationalsozialismus und Kapitalismus, festzustellen, dass die Väter immer noch genügend Potenzial besitzen, um den Aufstand der Söhne von 1968 zu provozieren. Dass spätestens seit Entwicklung der Industriegesellschaft Alexander Mitscherlichs Schlagwort von der "vaterlosen Gesellschaft" zum Tragen kommt, ändert nichts daran, dass der Vater noch zur "Witzfigur" verkommen kann.

    "Beim Blick durchs Teleobjektiv zoome ich einen Vater heran, der ziemlich erschöpft wirkt. Auch wenn keiner, der heute lebt, die ganze Geschichte der Moderne auf dem Buckel hat, scheint mir doch, dass das ganze Hin und Her Spuren der Zermürbung in den Köpfen hinterlassen hat. Der lange Abschied vom Patriarchat hat die Väter davon abgebracht, sich als kleine Götter zu fühlen. Zäh klebten sie an ihren Sesseln, aber rückblickend darf man sagen, dass es für Menschen aus Fleisch und Blut letztlich ein gemischtes Vergnügen gewesen sein muss, ein Popanz zu sein. Inzwischen ist der Abschied aus der alten Welt erfolgt, doch die Väter sind noch längst nicht am Ziel angekommen. Das liegt schlicht daran, dass sie nicht wissen, was ihr Ziel eigentlich ist."

    Der Vater als tragischer Held? Mit gemischten Gefühlen kehrt der Philosoph zuletzt zum Schauplatz Familie zurück und damit zu seinem ganz persönlichen Plädoyer für ein Überleben der Väter. Dieter Thomä holt sich dafür Unterstützung bei den "Glanzstücken, die im Fluß der Geschichte treiben", von Martin Luther, der gerne Windeln wasche bis zu Makarenkos väterlicher Autorität, die das "zarte Leben" des Kindes beschütze. Folgerichtig lässt er seine "Heldengeschichte" mit dem Kapitel "Der Vater als Lebenshelfer" und unter Berufung auf Sigmund Freuds "Vaterschutz" so enden: dass die gebeutelten Väter - eigentlich wie von alters her - ihre Kinder in die Unabhängigkeit begleiten und diese dann "als Helden willkommen heißen".

    Das ist kein ironischer Schlenker, sondern bitterer Ernst. Dieter Thomä ist entschlossen, die Fackel der Väter unter den bestmöglichen Umständen weiterzureichen. Wie dieser Philosophieprofessor bei alledem so gut wie ohne Frauen auskommt, ist ein Kunststück für sich. Für die Leserin bleibt nach so viel erkenntnisreicher Lektüre ein bitterer Nachgeschmack.

    Dieter Thomä: Väter. Eine moderne Heldengeschichte
    Carl Hanser Verlag München 2008, 368 Seiten, 24,90 Euro
    Dieter Thomä: Väter
    Dieter Thomä: Väter. (Carl Hanser Verlag)