Philosophin von Redecker über Revolutionen

"Je weniger Barrikaden desto besser"

Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918.
Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918. © dpa picture-alliance / Ullstein
Eva von Redecker im Gespräch mit Ute Welty · 09.11.2018
Wenn eine Revolution gelingen soll, kann sie eigentlich nur friedlich sein, sagt die Philosophin Eva von Redecker. Andernfalls gingen die Errungenschaften der Revolution verloren, die eigentlich auf ein freies, friedliches Zusammenleben zielten.
Ute Welty: Es war Karl Liebknecht, der heute vor einhundert Jahren am Berliner Schloss die sozialistische Revolution ausrief. Die Geschichte hat inzwischen gezeigt, dass dieses Vorhaben bestenfalls von mäßigem Erfolg gekrönt war. Anlass für "Studio 9", zu fragen, kann Deutschland überhaupt Revolutionen? Eva von Redecker ist die Fachfrau für diese Frage. Sie ist stellvertretende Direktorin des Center for Humanities and Social Change an der Berliner Humboldt-Universität, und sie hat ein Buch geschrieben über Praxis und Revolution. Guten Morgen, Frau von Redecker!
Eva von Redecker: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Revolution bedeutet einen grundlegenden strukturellen Wandel, so steht es unter anderem im Lexikon. Wie viel Revolutionspotenzial sehen Sie demzufolge derzeit in Deutschland?

Die Rolle der Kieler Matrosen

von Redecker: Die Frage nach dem Potenzial ist ja eigentlich eine, die auf die Möglichkeit zielt. Das würde ich zunächst mal damit überbieten, zu sagen, eigentlich sehe ich sogar Notwendigkeit. Wenn Sie von strukturellen Änderungen reden, glaube ich, dass die objektive Lage, so wie manche Strukturen im Moment laufen, eigentlich verlangt, dass wir unsere Lebensweise ändern. Und ich glaube, das wissen eigentlich auch alle. So, wie auch eigentlich alle wussten, dass die Kieler Matrosen vernünftig waren, dass sie sich nicht im Meer versenken ließen. Alle bis auf einen ganz kleinen Teil von Frontsoldaten, die vielleicht selbst sogar mit dem Gedanken gespielt haben, ihn dann verworfen haben, genau die Leute, aus denen dann die Freikorps sich rekrutierten, an denen schließlich auch die Revolution mit scheiterte.
die Philosophin Eva von Redecker liest und diskutiert am 06.06.2018 in Köln auf der 6. phil.cologne, dem grössten deutschen Philosophie Festival . *** the philosopher Eva von Redecker will read and discuss the biggest German Philosophy Festival on 06.06.2018 in Cologne at the 6 phil cologne
Die Philosophin Eva von Redecker.© imago stock&people
Welty: Aber ehrlich gesagt, als ich heute früh hier hergekommen bin, konnte ich auf den Straßen noch keine Anzeichen einer Revolution entdecken.

Worauf kann die Revolution 2.0 verzichten?

von Redecker: Gut, dann habe ich ja nichts verpasst. Ich glaube, das ist eine gute Beobachtung. Ich glaube, das ist der andere Fehler, der einem unterläuft, wenn man so nach Potenzial fragt, als schaute man von außen auf einen Gegenstand. Das ist so ein bisschen der Blick derer, die schon die letzte Revolution verpasst haben, und jetzt guckt man, wann es wieder kracht.
Und in meinem Buch zum Beispiel geht es eigentlich die ganze Zeit darum, die Vorstellung von Revolution so zu ändern, dass wir nicht mehr wie das Kaninchen vor der Schlage, oder auch wie die hungrige revolutionäre Schlange, die wartet, dass endlich ein Kaninchen Revolution vorbeikommt, auf was Äußeres schauen, sondern viel genauer gucken, welche Prozesse, Anknüpfungspunkte, welche untergründigen Strömungen vielleicht schon unterwegs sind. Und die machen eigentlich das Potenzial aus. Wenn es nicht irgendwelche Einstellungen, Organisationen, Handlungsweisen gibt, die schon in die Zukunft weisen, die schon über die Probleme, die wir jetzt nicht lösen können – Klimawandel, Konkurrenz, verhärtetes Zusammenleben – hinausweisen, dann kann man eigentlich froh sein, dass auf der Straße noch nichts passiert, denn dann wäre auch noch nichts, worauf das Neue bauen könnte oder "das Unerhörte", wie Scheidemann eben sagte.
Welty: Aber ich verstehe Sie richtig, dass eine Revolution 2.0 im Jahr 2018 auf Barrikaden sehr wohl verzichten kann?
von Redecker: Ich glaube, Barrikaden braucht man immer für die Konterrevolution, und oft verliert man in der Konterrevolution, also in dem Versuch, den Widerstand der bestehenden Ordnung dann, sich gegen den zu verteidigen. Da verliert man oft die entscheidenden Errungenschaften der Revolution, die eigentlich auf ein freies, friedliches, vor allem auch gewaltfreies Zusammenleben zielt. Insofern, je weniger Barrikaden, desto besser – auch wenn das natürlich Spaß machen kann, so was mal mit der Straße zu machen, statt da immer die doofen Autos langfahren zu lassen.
Welty: Technische Revolutionen scheinen sehr schnell zu passieren. Warum sind politische oder gesellschaftliche Revolutionen dem Eindruck zufolge per se träger?

Ein großes, neues Destruktionspotenzial

von Redecker: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, das unterscheidet uns auch von Marx und rechtfertigt vielleicht auch, dass man sich ein Buch lang noch mal Gedanken darüber macht, wie Revolutionen funktionieren. Denn Marx war ja wahnsinnig beeindruckt von dem rapiden technischen Wandel des industriellen Zeitalters und hat sehr eng verzahnt damit sich vorgestellt, das jetzt auch das soziale hinterherrauscht. Und ich glaube, inzwischen gibt es, ist auch weit verbreitet eine Haltung viel größerer Ambivalenz, dass man denkt, diese Sachen können sozusagen – es gibt uns viele Möglichkeiten, wir könnten alles viel besser einsetzen. Aber es ist auch großes, neues Destruktionspotenzial entstanden. Die Technik kann natürlich auch auf der Gegenseite arbeiten und die Gewalt, die es gibt, verlängern.
Welty: Der Fall der Mauer wird ja oft als friedliche Revolution beschrieben. Kann in Deutschland nur eine solche Revolution gelingen?
von Redecker: Ich würde ja auf eine bestimmte Weise sogar sagen, richtig gelingen kann überall nur eine solche. Bini Adamczak macht die gute Unterscheidung zwischen Niederlagen und Scheitern in Revolutionen. Unterliegen tut man seinen Feinden in einer nicht friedlichen Revolution. Und Scheitern tut man daran, dass man nicht anhand seiner eigenen Ideale das Zusammenleben gestalten kann. Und wenn die Revolution in einen Bürgerkrieg kippt, dann ist es meistens schon um die Revolution geschehen.
Ich glaube, '89 ist ja auch ein gutes Beispiel für eine Revolution in Deutschland, einen Wandel, der in bestimmter Hinsicht erfolgreich und wunderbar war, in anderer Hinsicht aber sehr wenig dem entsprach, was die Akteure sich vorgestellt hatten. Auf eine bestimmte Art ist es auch eine Revolution, auf die sich nachher niemand einigen konnte. Genauso, wie die Novemberrevolution eigentlich, sowohl die radikalen Kräfte als auch die konservativen, sogar enttäuscht hat. Und ich glaube, wenn am Grund einer Gesellschaft so eine Art unausgegorene, enttäuschende, missverständliche Revolution steht, ist das für den Zusammenhalt und auch für die Überlegung, wie es weitergehen kann, nicht leicht.

Das große Wüten der Konterrevolution

Welty: Wie kann es denn weitergehen? Wenn Sie nach Polen gucken, nach Ungarn oder auch nach Brasilien und in die USA?
von Redecker: Ja, es gibt gar kein Exil mehr. Ich glaube, was wir da sehen, ist ja eigentlich das große Wüten der Konterrevolution gegen '68, also sozusagen die Reaktion derer, die sich wütend, zynisch, verzweifelt gegen eine ich würde ja auch sagen bereits im Raum stehende Hoffnung wenden, dass wir anders zusammenleben könnten. Und deren Radikalität beruht im Wesentlichen darauf, dass man nicht nach ganz neuen, besseren Lösungen sucht, unter anderem, weil man sich vielleicht auch so oft von den Versprechungen derer betrogen gefühlt hat, sondern dass man sich die Gewalt, die schon in der Welt ist, aneignet und sie noch verlängert. Also sozusagen nicht nur sagt, irgendwie halte ich diesen unerträglichen Widerspruch, dass hier ständig Leute im Meer ertrinken, nicht mehr aus, sondern sagt, ha, das soll auch so sein, darin sehe ich meine Stärke, lass uns die Grenzen befestigen. Also diese Art von Aneignung der bestehenden Gewalt ist, glaube ich, auch ein Zeichen dafür, dass Institutionen und Selbstverständlichkeiten im Wanken sind und dass sich was bewegen muss. Jetzt muss man eben sehen, wie es sich weiter bewegt. Wir haben also viel zu tun.
Welty: Hundert Jahre nach Liebknecht und Scheidemann ist Zeit für viele kleine Revolutionen, sagt die Philosophin Eva von Redecker im "Studio 9"-Gespräch. Haben Sie herzlichen Dank!
von Redecker: Vielen Dank, schöne Sendung noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema