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Papstansprache als Privileg für Parlamentarier

Zur besonderen kirchenrechtlichen Konstruktion in Deutschland gehöre die Möglichkeit, eine herausgehobene Persönlichkeit wie den Papst im Bundestag sprechen zu lassen, sagt die Grünen-Politikerin Christa Nickels, die Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist.

Christa Nickels im Gespräch mit Mario Dobovisek | 22.09.2011
    Mario Dobovisek: Strahlender Sonnenschein, Applaus und stehende Ovationen für Papst Benedikt XVI. beim Auftakt seiner viertägigen Deutschlandreise heute Vormittag in Berlin. Dort spricht der Papst in diesen Minuten mit der Bundeskanzlerin, mit der Protestantin Angela Merkel, Kirche und Staat also ganz eng beieinander heute in Deutschland, vor allem am Nachmittag, wenn der Papst im Bundestag sprechen wird. Etwa 100 Abgeordnete sehen damit die gebotene Neutralität zwischen Staat und Kirche verletzt und wollen der Rede des Papstes deshalb demonstrativ fern bleiben. CSU-Bundesinnenminister Friedrich kritisiert den geplanten Boykott als unangemessen.
    Fragen wir Christa Nickels, die Grünen-Politikerin ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Frau Nickels, Sie saßen selbst jahrelang für die Grünen im Deutschen Bundestag. Der Boykott eine Überreaktion Ihrer Kollegen?

    Christa Nickels: Ich finde es eigentlich ein bisschen kindisch. Also als Parlamentarier hat man das Privileg, im Parlament zu sitzen und diese Redner und Rednerinnen anzuhören. Und man muss ja auch nicht alles richtig finden, man kann auch Protest erheben dagegen - das tun die Kollegen ja auch -, außerhalb des Parlaments, und das, finde ich, ist vernünftig, wenn man das so macht. Ich finde es allerdings schade und kindisch, wenn man dann sich nicht hinsetzt und nicht zuhört, denn es ist auch immer eine Frage, wie jemand was sagt. Also ich fand es immer sehr interessant, zu meiner Zeit als Abgeordnete dabei zu sein, die Stimmung mitzukriegen, Gestik, Mimik, und ich muss diesen Kollegen gerade auch wirklich sagen als frühere Menschenrechtsausschussvorsitzende: Putin haben sie sich angehört und den Papst, den wollen sie jetzt nicht anhören, das finde ich schon ein bisschen sonderbar.

    Dobovisek: Aber hat Bundestagspräsident Norbert Lammert mit seiner Einladung an den Papst, vor den Abgeordneten zu sprechen, die Grenze - und das ist ja auch das Argument, das zu Felde geführt wird - zwischen Kirche und Staat überschritten?

    Nickels: Nein, das finde ich nicht. Wir haben ja in Deutschland eine besondere kirchenrechtliche Konstruktion, eine hinkende Trennung von Kirche und Staat, die meiner Meinung nach auch sehr, sehr viele Möglichkeiten eröffnet: Einerseits, dass sich die Religionen, die sich darauf berufen, auch an das Grundgesetz halten müssen - das finde ich sehr wichtig, das ist in anderen Staaten nicht so -, andererseits haben die Religionen auch die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit zu wirken, und ich glaube, dazu gehört auch natürlich die Möglichkeit, so eine herausgehobene Persönlichkeit wie den Papst im Parlament als Gast sprechen zu lassen.

    Dobovisek: Sie sagen, das ist ein kindisches Verhalten der Abgeordneten. Welches Verhalten wäre richtig gewesen?

    Nickels: Ich finde alles, was die Kollegen, die sehr kritisch auf die Kirche tun, völlig in Ordnung. Das finde ich auch gut, wenn man die Vorbehalte, die man hat, geltend macht, wenn man öffentlich protestiert. Ich finde es auch richtig, wenn man meint, man muss das tun. Wenn man dann demonstriert, in einer Form, die jetzt nicht defätistisch und beleidigend ist, das finde ich alles gut und richtig und es gibt ja auch innerhalb unserer Katholischen Kirche sehr viel Kritik an einigen Punkten der Amtsleitung unserer Kirche. Das muss man ja jetzt hier nicht lange und breit alles runterrattern, das ist bekannt. Und wahrscheinlich ist auch allen klar, dass bei Kritikern innerhalb und außerhalb der Kirche in einigen Punkten Konsens besteht. Also alle Formen von Meinungsäußerungen finde ich richtig, die finde ich sogar wichtig, damit man ein realistisches Bild davon kriegt, was in der Gesellschaft in Bezug auf die Katholische Kirche gedacht und gemeint wird. Aber ich finde es blöd, wenn man eine Möglichkeit, die man privilegiert als Abgeordneter hat, nicht nutzt.

    Dobovisek: Was auch bekannt ist, ist, dass seit der Wahl Joseph Ratzingers zum 264. Papst vor sechs Jahren über 700.000 Deutsche die Katholische Kirche verlassen haben, ausgetreten sind, ausgerechnet im Heimatland des Papstes. Auch die Zukunft sieht wenig rosig aus, viele Gemeinden werden aus Mangel an Priestern oder auch aus Mangel an Nachfrage zusammengelegt. Hat der Hirte im Vatikan den Anschluss an seine Herde verloren?

    Nickels: Ich glaube, das ist nicht auf eine Person zu zentrieren. Ich glaube, das ist ein Problem unseres Klerus in der Katholischen Kirche insgesamt, dass man hier die gewachsene Tradition für heiliger hält als das praktische Glaubensleben vor Ort, und das führt genau zu all den Punkten, die Sie aufgezählt haben. Und es ist so, dass Leute, die jenseits der 40 sind, über 40, die jahrzehntelang treu geglaubt haben, Kirche mitgestaltet haben, die aber auch seit dem Vatikanischen Konzil die Versprechungen und Erwartungen des zweiten Konzils umgesetzt haben wollten, auch der Würzburger Synode, nach 30, 40, 50 Jahren gesagt haben, jetzt reicht es uns. Und ich glaube, im letzten Jahr, was da wirklich an Ausmaß von Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und auch an Vertuschung rausgekommen ist, das war für viele so der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, wo sie gesagt haben, jetzt reicht es uns, das halten wir jetzt nicht mehr aus, wir wollen es auch nicht mehr aushalten, wir gehen jetzt.

    Dobovisek: Welche Impulse erwarten Sie von Papst Benedikt XVI.?

    Nickels: Ach ich glaube, man kann da nicht zu viel erwarten. Darum sage ich ja, ich finde es auch sehr wichtig, dabei zu sein, zu erleben, wie er spricht und was er sagt. Also ich bin sehr gespannt, was er sagt und wie er es sagt, ob er das, was den Gläubigen und auch den interessierten Deutschen auf den Nägeln brennt, ausspricht. Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich die Begegnung in Erfurt zwischen den evangelischen und den katholischen Christen da dann auch darstellt, ob es herzlich ist, ob man tatsächlich einander zugewandt spricht. Also ich bin sehr gespannt auch, wie es alles ablaufen wird.
    Ansonsten, glaube ich, sind die Laien und die Bischöfe hier in Deutschland gefragt - wir sind in einem Dialogprozess, der ein paar Jahre noch anhalten soll -, dass da nicht nur über Dinge gesprochen wird, sondern auch tatsächlich Umsetzungspläne geschaffen werden, dass man sich eine Agenda gibt, wo man sagt, so, an den und den Punkten wollen wir jetzt in der und der Zeit konkret was verändern. Das wird das Entscheidende sein.

    Dobovisek: Sie haben die Rolle der Laien in der Katholischen Kirche hier in Deutschland angesprochen. Die Katholische Kirche in Deutschland baut auch auf das Engagement der Frauen in den Gemeinden, während der Vatikan ja weiter blockiert. Kann sich die Katholische Kirche heute noch erlauben, auf die Frauen in Kirchenämtern zu verzichten?

    Nickels: Nein, das kann sie dezidiert nicht. Also es ist so: Wenn die katholischen Frauen, die in verschiedenster Weise Kirche vor Ort am leben erhalten, wenn die sich nur zwei Wochen mal einfach ins Bett legen würden und überhaupt nichts für die Kirche täten, dann gäbe es kirchliches katholisches Leben nicht mehr. So sieht die Wirklichkeit aus, überall.

    Dobovisek: Die Wirklichkeit, die der Vatikan nicht akzeptieren möchte?

    Nickels: Also der Klerus weiß das. Es wird auch immer wieder in Worten geschätzt. Aber dieser Wertschätzung, dieser verbal geäußerten Wertschätzung müssen Taten folgen. Man muss das Kirchenrecht und die Ermessensspielräume, die man jetzt schon hat, wirklich radikal ausnutzen. Das fängt damit an, dass man jetzt, wo wir diese XXL-Gemeinden haben, dafür sorgt, dass Frauen auch Gemeindeleitung übernehmen können. Das hört dabei auf, dass Frauen in Bistümern in Leitungsaufgaben in der Hierarchie wirklich entsprechend ihrem Tätigkeitsfeld, ihren Begabungen auch wirklich eingestellt und da auch mit Aufgaben betraut werden.

    Dobovisek: Das ist alles kein neues Thema, Frau Nickels. Dafür haben Sie schon vor 30 Jahren gekämpft. Hat sich die Kirche da bewegen können?

    Nickels: An der Basis hat sich sehr viel getan. Ich bin selber ja immer engagierte Katholikin gewesen und wenn ich mir angucke, wie vor 30 Jahren Frauen sich noch als Bittsteller teilweise aufgeführt haben in meiner Kirche und wie sie heute ganz selbstbewusst sagen, das Ende der Fahnenstange ist erreicht, wir fordern es jetzt ein, dann sind das große Unterschiede. Wir haben jetzt gerade innerhalb von einem halben Jahr am Montag die zweite Frauenkonferenz des Zentralkomitees der deutschen Katholiken gehabt. Man erlebt ganz klar, dass Frauen jetzt erwarten, dass im Rahmen des Dialogprozesses, der jetzt läuft hier in der deutschen Katholischen Kirche, konkret das, was getan werden kann, umgesetzt wird. Das ist eine ganze Menge und wir arbeiten selber daran, hier auch entsprechend Forderungen aufzustellen, konkrete Pläne aufzulegen, und wir erwarten, dass die umgesetzt werden. Wenn unsere Katholische Kirche in der Leitung es nicht schafft, dem nachzukommen, dann wird es einen gigantischen Abbruch geben. Die Geduld ist ziemlich am Ende, ich erlebe das überall.

    Dobovisek: Ist Papst Benedikt XVI. der richtige, um diesen Abbruch zu verhindern?

    Nickels: Das weiß man immer nicht. Man ist oft ganz erstaunt. Ich habe sowohl in der Kirche als auch in der Politik manchmal sehr sonderbare Dinge erlebt, dass zum Beispiel linke, angeblich fortschrittliche Persönlichkeiten auf einmal sich als Hasenfüße zeigten, wo man es gar nicht erwartet hätte, und an anderer Stelle Wertkonservative auf einmal tatsächlich Knoten durchgeschlagen haben und dann auch was verändert haben. Darauf setze ich, aber ich sage noch mal: Das muss jetzt auch passieren, sonst wird es in absehbarer Zeit noch einen viel größeren Auszug aus der Katholischen Kirche geben und auch einen Abbruch, gerade bei den Frauen. Die Geduld der Frauen geht zur Neige!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.