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"Paradies verloren"

Die Vertreibung aus dem Paradies und die Suche nach dem Paradies sind Hauptmotive in Cees Nootebooms neuesten Werk. Dabei erzählt er keine einfache, lineare Geschichte, denn solche Geschichten erzählt das Fernsehen schon genug, befindet der Autor.

Von Simone Hamm | 01.08.2005
    Der Mann betrachtet die schöne Frau, die vor ihm im Flugzeug sitzt. Er versucht, einen Blick auf den Titel des Buches zu werfen, in dem sie blättert. Erst als das Flugzeug landet, kann er ihn kurz sehen: "Es ist dieses Buch hier, ein Buch, aus dem sie jetzt gleich verschwindet, zusammen mit mir."

    Aber nichts ist, wie es scheint. "Paradies verloren" ist keine linear erzählte Geschichte, das Buch ist ein anderes und die Frau und ihr Betrachter spielen im weiteren Verlauf des kurzen Romans keine Rolle, kommen nur in Prolog und Epilog vor. Cees Nooteboom fordert seine Leser heraus:

    Cees Nooteboom: "Das einfache Erzählen einer Geschichte, das macht jetzt heutzutage das Fernsehen. Das finde ich auch nicht so interessant. Im Leben erzählt man einander auch Geschichten und wird unterbrochen, unterbricht sich selbst, denkt an etwas Früheres oder prophezeit etwas Neues."

    Noch einmal wird der Flugpassagier der Frau wieder begegnen im Epilog: in einem Zug, auf der Fahrt von Berlin nach Moskau. Sie trägt denselben Hosenanzug und liest in dem Buch, das sie schon im Flugzeug dabei hatte. Es ist aber nicht "Paradies verloren" von Cees Nooteboom, sondern "Paradise lost" von John Milton, ein Epos von über 10.000 Versen, das John Milton vor fast 350 Jahren zu schreiben begonnen hat. Nooteboom liebt das Spiel mit dem Buch im Buche, der Erzählung in der Erzählung.

    "Mich interessiert mehr, zu zeigen wie etwas geht, also zu unterbrechen, einen großen Umweg zu machen, eine Verbindung zum Leser darzustellen, statt selbst so eine Geschichte zu schreiben - die - wie ich immer sage - die jeder sich in einer Bar erzählen kann, oder die man im Film sieht oder die man im Fernsehen sieht. Diese Zeit ist vorbei. Das machen jetzt andere Medien."

    Aus zwei Teilen besteht "Paradies Verloren": Im ersten Teil reisen zwei junge brasilianische Freundinnen nach Australien. Obwohl Alma in den Favelas von Sao Paulo brutal vergewaltigt worden ist, hat sie sich doch einen naiven Blick auf die Welt erhalten. In Australien, an Australien will sie gesunden. (Eine Art Reminiszenz an den blinden Bruce Chatwin, der in Afrika wieder sehen konnte, der an den afrikanischen Weiten genas.)

    Alma muss erkennen, dass das reale Australien nichts mit dem Australien ihrer Vorstellung zu tun hat. Australien wird zu ihrem verlorenen Paradies. Auf so mancher Seite dieses ersten Teils des Romans muss man sich immer wieder vor Augen halten, dass Nooteboom in die Haut und die Vorstellungswelt einer sehr jungen Frau geschlüpft ist und aus ihrer Perspektive erzählt. Alma ist die Ich-Erzählerin.

    Allzu abgedroschen wirken die Erkenntnisse der beiden Mädchen: Den Weißen brauche man nicht mit der Vorstellung von heiligen Orten zu kommen, schon gar nicht, wenn sich in diesem Boden Gold und Silber befänden, heißt es etwa an einer Stelle und an einer anderen, dass die Aborigenees die Natur nicht zerstört hätten, dass die Natur sie ernährt habe und dass ihre Welt an der der Weißen sterben werde.

    In Perth wird Alma sich an einem Kunstprojekt beteiligen, wird einen Engel darstellen, der zusammengekauert in einem Schrank liegt. Engel haben Alma immer schon fasziniert. Ihre Examensarbeit hat sie über die Darstellung musizierender Engel geschrieben.

    "Wer hat bloß die Engel aus der Welt verbannt, obwohl ich sie immer noch spüre (…) Hier liege ich mitten in der Wüste und höre sie, ein unvorstellbares Jubeln in der Stille. Engel, Wüsteneidechse, Regenbogenschlange, die Helden der Schöpfung, alles stimmt. Ich bin angekommen. Und wenn ich wieder gehe, brauche ich nichts mitzunehmen, ich habe alles bei mir."

    Alma wird Australien verlassen und es in sich tragen, sie wird die Wüsten mit hinaus in ihr neues Leben nehmen. Sie wird zur Reisenden. Das Reisen ist eines der Hauptmotive des weit gereisten Cees Nooteboom. Und es ist weit profaner, als mancher es auslegen mag:

    Cees Nooteboom: "Das Reisen, ja, das ist halt ein Trieb, das habe ich mein ganzes Leben gemacht und das kommt in die Bücher hinein. Das ist ja alles, es sind keine Mysterien."

    Im zweiten Teil des Romans führt Nooteboom uns in eine Stadt am Wasser, auf einen Bahnhof, an einem Tag mit nassem Schnee. Nooteboom betrachtet die Wartenden. Die junge Frau mit dem kleinen Kind, die drei Soldaten, den Bayern mit der BILD-Zeitung, den Mann mit dem roten Kaschmirschal und den englischen Wildlederschuhen, der etwas von einem Künstler hat, der sich das Hockeyspiel seiner Tochter angucken will. Ja, der gefällt ihm. Den kann er brauchen.

    "Fangen wir an, Leben gründlich durcheinanderzumischen." Leben von Lebenden und Kunstfiguren. Aus dem Mann mit dem Kaschmirschal wird der holländische Literaturkritiker Erik Zondag, der auf dem Weg ist in die österreichischen Berge, wo er kuren möchte. Zondag denkt über seinen letzten Artikel nach:

    "Es war Freitag und noch zu früh für die Zeitung, für die er als Kritiker arbeitete, so dass er den Artikel nicht lesen konnte, in dem er den jüngsten Roman einer nationalen Koryphäe in Grund und Boden verrissen hatte. Manche Schriftsteller wurden unangenehm alt, mit der Zeit kannte man ihre Obsessionen und Manierismen, es wurde zuwenig gestorben in der niederländischen Literatur. Reve, Mulisch, Claus, Wolkers, Nooteboom, die hatten schon geschrieben, als er noch in den Windeln lag, und wie es aussah, dachten sie keineswegs daran, das Schreiben einzustellen, seiner Meinung nach nahmen sie die Idee von der Unsterblichkeit etwas zu wörtlich."

    Bei seinem Kuraufenthalt wird der Journalist Alma wieder sehen, die dort als Masseurin arbeitet. Und er erinnert sich sofort an sie. Er hat sie als Engel gesehen, im Schrank kauernd und er hat sie am Strand umarmt. Er hat sie nie vergessen. Sie und diesen merkwürdigen Rundgang durch Perth, von Engel zu Engel, vorbei an einem Gitterzaun, auf den jemand ein paar Zeilen aus Paradise Lost gekritzelt hatte:

    "In either hand they hast’ning Angel caught
    Our ling’ring Parents, and to Th’eastern gate
    Led them direkt, and down the cliff at past
    To the subjected Plain; then disappaired

    Und es stimmte, vor ihm lag ein armseliges Stück Niemandsland… Das Paradies war hier definitiv verloren, falls man bezweckt hatte, ein Gefühl großer Trostlosigkeit hervorzurufen, war das bestens gelungen."

    Drei Jahre lang hat der Literaturkritiker von nichts als Engeln geredet. Seine Freundin denkt nicht an John Milton, wenn sie an Engel denkt, sondern sieht die himmlische Begegnung wesentlich profaner:

    "Da zieht sich jemand Flügel an und legt sich in einen Schrank. Toll. Aber fliegen kann sie nicht. Und bumsen mit diesem angeklebten Kram, da könnte ich mir auch etwas Schöneres vorstellen. Wie hat sie die übrigens befestigt, ihre Flügel? Mit Gummibändern?"

    Nootebooms Motiv ist die Vertreibung aus dem Paradies und die Suche nach dem Paradies. Erik Zondag schwärmt, Alma macht sich auf zu Reisen in neue Erdteile, Zondags Freundin bleibt ironisch. Träumerei, Sehnsucht und die Realitätssinn, wie die Leben seiner Protagonisten wirbelt Nooteboom auch deren Gefühle durcheinander, wechselt die Blickwinkel. Schnell, witzig, klug, einfach großartig ist dieser zweite Teil. In "Paradies verloren" hat Cees Nooteboom neben dem Reisen auch sein zweites, immer großes Thema behandelt. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum, dem Katholizismus.

    Cees Nooteboom: "Es gibt auf der einen Seite dieses dogmatische Institut mit Gesetzen, die das Leben von vielen Menschen beeinflussen möchten, da ich hab’ ich nichts damit. Eine andere Seite gibt es: diese wunderbare Tradition der Musik und der Kunst und es ist ein ganzes Referenzsystem. Ich meine, ein Japaner, der in die Kathedrale von Köln kommt, der hat große Schwierigkeiten. Was ist das alles? Was sind diese Figuren, was bedeutet das? Was bedeutet dieses Symbol? Das haben wir alles mitgekriegt und das macht für mich das Leben schöner.

    Und genauso, wenn ich nach Japan komme, und ich komme in einen buddhistischen Tempel, verstehe ich auch die Hälfte nicht und das tut mir leid, denn ich möchte gerne mehr verstehen. Und das muss man dann studieren, aber es wird niemals so eigen wie das, was man von selbst in seiner Erziehung bekommen hat. Ich meine, es gibt natürlich in der Weltliteratur biblische Referenzen, es gibt Referenzen bei Shakespeare, und bei Goethe und bei allen, und wenn man da diese ganze katholische - sagen wir - Erbschaft nicht hat, dann ist man für vieles - auch ikonografisch - ist man für vieles blind. Und das würde ich bedauern."

    Nooteboom hat sich in "Paradies verloren" vor einer solchen "Referenz" verneigt, vor John Miltons großen Epos vom Sündenfall. Und er hat eine neue, seine eigenen Referenz hinzugefügt. Mit Alma hat er eine Engelskundige geschaffen. Alma sagt von sich selbst, sie habe einen Engelstick. Sie kennt jeden Engel, alle wichtigen Bilder und Fresken. Sie kann sie entschlüsseln.

    Und doch bleiben Fragen: Wie mag sich Maria gefühlt haben, als so ein großes Wesen mit Flügeln auf sie zuflog? Sie muss doch vor Angst ganz benommen gewesen sein. Und was ist für Alma das Paradies? Und wo sucht es Erik Zondag? Das staubige Australien von heute ist es jedenfalls nicht. Ist es jemals ein Paradies gewesen?

    John Milton hat nachempfunden, was in Adam und Eva vorging, als Engel sie aus dem Paradies geleiteten. Und mit diesen Versen endet Cees Nootebooms "Paradies verloren":

    "Jetzt rollten Tränen menschlichen Gefühls
    Von ihren Wangen; doch bald trockneten
    sie diese Tränen ab. Vor ihnen lag
    die ganze Welt, sich einen Ruhesitz
    zu wählen, und die Vorsicht führte sie.
    Nun wandelten sie langsam, Hand in Hand,
    auf ungewisser Bahn durch Eden hin."
    Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom
    Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom (AFP)