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Parallelen zwischen Schreiben und Boxen

Mit "Textleben" gibt Michael Lentz, Schriftsteller und Professor am Literaturinstitut in Leipzig, nicht nur Einblicke in seine Poetologie. In seinen Essays erweist er sich auch als kundiger Wegweiser durch das unübersichtliche Areal der zeitgenössischen Avantgarde.

Von Michael Opitz | 11.04.2012
    "Grundsätzlich ist man viel zu brav. Aus irgendeinem Gefühl heraus, einem Gebot Folge leisten zu müssen. Daraus resultiert eine unglaubliche Bravheit. Man hält sich an die Regeln, die es ja nicht mehr gibt. Untergründig arbeiten diese Ordnungen und Regeln aber. Da man sehr schnell mit dem ersten Wort, das man zu Papier bringt, scheinbar vergessen hat, welche Diversifikationen von Literatur, welche Vielfalt es schon gegeben hat oder auch an formalen Lösungen – ich habe das scheinbar sofort vergessen."

    Michael Lentz, der hier selbstkritisch über das Schreiben reflektiert, ist Autor von Büchern wie "Muttersterben" oder "Pazifik Exil". Aber der promovierte Germanist versucht als Professor am Literaturinstitut in Leipzig auch, die Studierenden mit der Kunst des Schreibens vertraut zu machen. Für sein Buch "Textleben" hat sich Lentz auf das weite Feld der Literatur begeben. Als Ergebnis dieses Umherstreifens sind Essays entstanden, die Lentz in den letzten elf Jahren geschrieben hat. Dichterporträts haben ihren Platz neben Besprechungen, Vorworte zu Werkausgaben korrespondieren mit Nachworten, poetologische Überlegungen stehen an der Seite von "Reverenzen".

    Im ersten Aufsatz des Bandes verweist Lentz auf die Parallelen zwischen dem Schreiben und dem Boxen. Sucht man nach verbindenden Momenten zwischen Literatur und Faustkampf, dann denkt man an Präzision oder Treffsicherheit. Lentz, der selber boxt, weiß, dass jeder Boxkampf für den Athleten zu einer Offenbarung wird. Er merkt, manchmal schmerzhaft, was er noch nicht beherrscht. Während er diese Erfahrung macht, schaut ihm ein sachkundiges Publikum zu. Brecht wünschte sich solche am Boxkampf geschulten Zuschauer für sein episches Theater. Wollen Boxer ihre Technik verbessern, müssen sie üben und üben ist gleichbedeutend mit Wiederholung. Darin macht Lentz die Nähe zwischen Boxen und Literatur aus. Auch der Autor muss bemüht sein sich zu vervollkommnen. Er muss üben, wenn er besser werden will und zum Üben gehört nicht nur schreiben, sondern auch das Interesse an dem, was seine schreibenden Kollegen schreiben und geschrieben haben.

    "Ich kann es nicht verstehen, wenn manche Leute, die sich Autor nennen, sich eigentlich für Literatur nicht interessieren und auch nicht für die Vorgänge zeitparalleler Literatur. Zum Literaturbegriff gehört für mich eben nicht nur der Roman oder das Gedicht, sondern insbesondere auch die Literaturtheorie, die gehört schlichtweg dazu. Es gibt eine Reihe von Autoren, die in den selbstreflexiven, aber auch im die Materie Literatur reflektierenden Sinne zu Modellen von Literatur geworden sind, die anstiften, Literatur zu machen. Das ist ja auch gut so. Denn wenn man sich fragen würde, was haben wir denn schon erlebt, so ist dieser Brunnquell – wie es im Barock heißt – natürlich relativ schnell versiegt. Ganz bestimmte Formen von Literaturtheorie Barthes, Benjamin, Jakobson, die liefern einem, was sie wahrscheinlich gar nicht im Sinn hatten, liefern mir Lösungsvorschläge auf der formalen Ebene und zeigen mir, was alles doch möglich ist."

    Lentz entwickelt im ersten Teil des Buches sein poetologisches Konzept, wenn er sich ins Textmassiv der Sprache begibt. Die durch Arbeit mit der Sprache entstandenen Textgebilde weisen eine gewisse Form auf, aus der sich Rückschlüsse über den Umgang mit der Sprache ableiten lassen. Die Überlegungen von Michael Lentz sind aber nicht nur selbstreflexiv. In einem sogenannten "Strategiebündel" hält er in Form von Thesen fest, was beim Schreiben zu beachten ist. Da hört man den Lehrenden sprechen, der auf der Grundlage von Erfahrungen dazu rät: "Feste Arbeitszeiten sind von großem Vorteil. Sie treiben das Manuskript voran und geben einen Überblick, was noch zu tun ist. Und das ist immer eine Menge." Neben arbeitsorganisatorischen Hinweisen finden sich Ratschläge, die helfen können, das eigene Ego zu stärken, wenn es denn an Selbstwertgefühl fehlen sollte: "Du bist der Beste, ganz klar. Behalte es für dich. Vergiss es am besten. Das sind die anderen auch." Vor allem aber muss, wer schreibt, sich der Sprache stellen.

    "Es gibt die Sprache nicht. Es gibt sie nur vorfindlich in der Kommunikation, in den Büchern anderer und ansonsten zerfällt sie ja wieder in ihre Bestandteile, die man dann in Lexika eruieren kann. Also es ist ein Formungsprozess und Nachlässigkeiten kann man auch einüben. Man übt eine Nachlässigkeit ein, nimmt sie immer mit, sieht es nicht für notwendig an, sie abzustellen und entdeckt vielleicht irgendwann eine zweite, dritte, vierte Nachlässigkeit. Man entschuldigt es damit, dass es eine Grunddisposition sei. In der Summe aber, kann es das Gebäude zum Wanken bringen. Wie hieß es mal so schön: Der Stil ist der Mensch! Das ist der Wahnsinn. Das ist ein Ruhekissen. Da kann man gleich zur eigenen Beerdigung gehen."

    Michael Lentz interessieren besonders die Autoren, die einen spezifischen Gebrauch von der Sprache machen. Dichter wie Carlfriedrich Claus, Valeri Scherstjanoi oder Gerhard Rühm, zu ihnen finden sich in "Textleben" sehr informative Essays, nehmen die Sprache beim Wort und das Wort bei der Silbe oder beim Buchstaben. Ihre Aufmerksamkeit ist auf den Materialwert der Sprache gerichtet und indem sie Sprache als Material begreifen, fragen sie danach, wie sinnstiftend der Umgang mit diesem Material sein kann. Aus dieser Arbeit mit der Sprache sind bei Claus und Scherstjanoi äußerst bizarre Texturen entstanden, bei denen es sich um ganz eigene, visuell wahrnehmbare Sprachbilder handelt.

    "Ja diese Autoren sind vorbildlich. Ja, weil diese Autoren, Künstler, immer für eine Überraschung gut sind, weil die eine andere Sensibilisierung der Wahrnehmung erzeugen. Diese Leute sind nicht austauschbar. Das ist ja auch gewissermaßen eine Hoffnung die man hat: nicht austauschbar zu sein. Da suche ich schon Autoren, die auf Nichtaustauschbarkeit, sondern, wenn auch im kleinen Rahmen, auf Erfindungsreichtum setzen. Rühm ist ja ein Autor, der einem einen ganzen Horizont eröffnet, mit inventorischen, erfindungsreichen Leistungen und einem cross over zwischen den Künsten."

    Lentz engagiert sich in "Textleben" besonders für die zeitgenössische Avantgarde. Denn die zur Avantgarde zählenden Autoren bedienen nicht das Erwartete. Sie missachten Konventionen und gehen neue, unbekannte Wege. Angesicht dieser ausgesprochenen Nähe zur Moderne, ist es bemerkenswert, dass sich der Avantgardist Michael Lentz, der mit einer Arbeit über die Lautpoesie promoviert hat, für einen Autor wie Thomas Mann interessiert. Für Lentz ist Thomas Mann eine Herausforderung und die Herausforderung geht vom Anderen, vom Unerwarteten aus. Dieser Andere ist für Michael Lentz Thomas Mann.

    "An Thomas Mann ist für mich reizvoll die Ordnung, die er präsentiert und den mit dieser Ordnung mitlaufenden Wunsch, eine Ordnung zu haben, mit allen Brüchen und Umbrüchen, mit allen Gran Canions, die sich da teilweise auftun – oder, um es konkreter zu sagen, auch Seelenabgründen. Das ist eine Syntax, die ist massiv und die ist eine Herausforderung. Das, finde ich, ist ja, an heute gemessen, nicht konventionell. Diese aufgeschwellte Syntax, diese Verschlingungen, dieser scheinbar präsidiale Wunsch, mit einem einzigen Satz alles ein für allemal gesagt zu haben, das finde ich erstaunlich. Das ist eine so starke Anmaßung, aber anmaßend bin ich auch, wie auch tatsächlich Satzkunst."

    Das schöne an den Essays von Michael Lentz ist, dass sie vermitteln können, worin sich literarische Meisterschaft zeigt. Wenn Lentz für einen Autor brennt, dann überträgt sich dieses Entflammtsein in Worte. Seine Essays beziehen ihre Originalität aus einer zur Bildhaftigkeit neigenden Sprache. Die Texte sind alles andere als trockene literaturwissenschaftliche Kost und bewegen sich dennoch auf der Höhe der Theoriediskurse. Und Theorie, davon ist Lentz überzeugt, muss man selbstverständlich lesen. Aber auf seinen Leseexkursionen darf man auf keinen Fall an einem Dichter wie Rainer Maria Rilke vorbeigehen.

    "Rilke halte ich, auch mal um einen Summensatz zu haben, für den bedeutendsten Lyriker in deutscher Sprache. Er schafft es, vielfach über Analogien und Wahrnehmungen aus der bildenden Kunst, Gedichte zu schreiben, die selber wieder eher fast skulptural zur bildenden Kunst tendieren, indem man in dem Blick auf sie nur die Oberfläche hat und nicht die Rückseite und die Oberfläche aber signalisiert, es gibt eine Rückseite. Du kannst auch drum herumgehen und komischerweise sieht man dann wieder nur die Vorderseite, wenn man drum herumgegangen ist, was selber scheinbar paradox ist. Aber das schafft Rilke auszulösen. Neben allem Sentimentalischen, zu dem ich ja auch stehe."

    Das Buch von Michael Lentz gibt sehr umfassende Einblicke in die Poetologie des Autors. Darüber hinaus versteht es sich als Wegweiser durch das immer noch unübersichtlich erscheinende Areal der zeitgenössischen Avantgarde. Michael Lentz weiß, wo es lang geht. Er bahnt sich den Weg durch das Textgelände nicht mit der Machete. Er ist ein kundiger Fährtenleser, der weiß, welchen Spuren er zu folgen hat.

    Michael Lentz: Textleben. Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt.
    S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2011, 575 Seiten, 24,95 Euro