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Parallelwelt Gefängnis

Philippe Claudel hat elf Jahre als Französischlehrer im Untersuchungsgefängnis von Nancy gearbeitet. Über diese Erfahrung hat er "Das Geräusch der Schlüssel" geschrieben. Die Schilderung dessen, was die Haft mit den Menschen macht, geht einem nah, obwohl das Buch völlig unpathetisch ist.

Von Dina Netz | 17.01.2011
    Philippe Claudels Romane sind in Frankreich Bestseller. "Die grauen Seelen" und "Brodecks Bericht" haben auch in Deutschland viele Leser gefunden. Michel Houellebecq hat seinem Schriftstellerkollegen allerdings nicht ohne Grund einmal vorgeworfen, "Gefühlskitsch" und "Erbauungsliteratur" zu schreiben.
    Philippe Claudel war aber nicht immer Schriftsteller, und diese Erkenntnis verdanken wir einer Neuerscheinung, die bei der Friedenauer Presse herausgekommen ist: Claudel hat elf Jahre als Französischlehrer im Untersuchungsgefängnis von Nancy gearbeitet. Und über diese Erfahrung hat er 2002 - völlig unkitschig - in dem Buch "Le bruit des trousseaux" geschrieben, das jetzt auf Deutsch als "Das Geräusch der Schlüssel" erschienen ist.

    Das erste Mal, als ich das Gefängnis verließ, konnte ich mich auf dem Bürgersteig nicht sofort bewegen. Ich bin einige Minuten reglos dort stehen geblieben. Ich sagte mir, ich könnte, wenn ich wollte, nach links gehen oder auch nach rechts oder sogar geradeaus, ohne dass jemand etwas daran auszusetzen hätte. Ich sagte mir auch, dass ich, wenn ich wollte, in irgendeiner Kneipe ein Bier, einen Ricard oder auch einen Cappuccino trinken könnte oder dass ich auch nach Hause zurückkehren und mich duschen könnte, einmal, zweimal, dreimal, so oft, wie es mir gefiele. Ich hatte in diesem Augenblick begriffen, dass ich bis dahin im Genuss einer Freiheit gelebt hatte, von der ich nicht wusste, wie weit sie reichte.
    Philippe Claudel scheint sich während seiner Jahre im Gefängnis Notizen gemacht zu haben, und er hat diese später nicht zu einer Erzählung ausgebaut, sondern sie als solche veröffentlicht: "Das Geräusch der Schlüssel" besteht aus einzelnen Szenen, Erinnerungsskizzen, Miniaturen, manchmal sogar nur Halbsätzen, in denen Claudel beschreibt, was er als Lehrer im Gefängnis beobachtet und erlebt:

    Sobald er mich sah, sagte mir Nicolas D., dass er mich eines Tages draußen wiederfinden und mir meine "schöne, kleine Kehle" durchschneiden würde. Dann lachte er lange. In den folgenden zwei Jahren haben wir uns aneinander gewöhnt. Er hatte drei Frauen unter Umständen getötet, welche die Regionalpresse als "besonders grausam" bezeichnet hatte. Das stimmte ganz gewiss. Er bat mich unablässig darum, ihm zu einer Außenarbeit zu verhelfen: "Ich würde zu Ihnen nach Hause kommen, mich um alles kümmern, ich kann alles machen ..." Dieses "alles" belustigte oder ängstigte mich, je nach Zeitpunkt.
    Claudel sagt nicht immer, für welches Verbrechen die Gefangenen einsitzen, und er interessiert sich schon gar nicht für Täterpsychologie – ihm geht es eher um die Schilderung der Parallelwelt Gefängnis und darum, was die Haft mit den Menschen macht.

    Sich vor den Augen der anderen waschen, vor den Augen der anderen koten, vor den Augen der anderen leben, mit den anderen – oft drei oder vier – weniger als zehn Quadratmeter teilen. Manchmal in einer Vierzehnerzelle sein, die ein einziges Waschbecken hatte und bloß kaltes Wasser. Die Träume der anderen hören, ihre Albdrücke, ihre Fürze, ihr Weinen, ihre Hasstiraden, den anderen ertragen, sich vom anderen vergewaltigen lassen, wenn man sehr schwach war und wenn es einen Starken gab, der Bock hatte.
    Und Philippe Claudel beschreibt, was diese Beobachtungen mit ihm machen, der den Vergewaltigern, Mördern und Dieben französische Literatur nahebringen soll, der jeden Tag aus seinem normalen Leben in eine andere Welt aufbricht.
    "Das Geräusch der Schlüssel" geht einem nah, obwohl das Buch völlig unpathetisch ist. Vielleicht wirkt gerade die Reduktion auf die kurzen Szenen so bedrückend, denn man begreift, dass es bei den Häftlingen ums Ganze geht:

    Das Gefängnis zeigt oft Schicksale am Punkt ihres Zerbrechens, an ihrem wesentlichen Scheideweg.
    Im Nachwort weist Rainer G. Schmidt darauf hin, dass Philippe Claudel sich mit seinen Gefängnis-Notizen einreiht hinter zum Beispiel Victor Hugos "Die letzten Tage eines Verurteilten", Franz Kafkas "In der Strafkolonie" oder Michel Foucaults "Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses". Dieser gelehrten Einordnung bedürfte es nicht, denn "Das Geräusch der Schlüssel" steht für sich als eindrückliche Beschreibung einer Parallelwelt, die kaum mit unserer verbunden ist – außer durch wenige sonderbare Kanäle wie zum Beispiel die Firmen, die von den Häftlingen als billigen Arbeitskräften profitieren. Selten ist das Frühwerk eines berühmten Autors eine solche Trouvaille.

    Philippe Claudel: "Das Geräusch der Schlüssel". Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Rainer G. Schmidt
    Friedenauer Presse Berlin, 112 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-932109-64-5