Darryl W. Bullock über queere Popmusik

"LGBT-Musiker brechen Grenzen auf"

Darryl W. Bullock im Gespräch mit Andreas Müller · 22.11.2017
Darryl Bullock beschreibt im Buch "David Bowie Made Me Gay" die Geschichte der queeren Popmusik. "Ich habe aufgeschrieben, was für Musik LGBT-Künstler aufgenommen haben und wie sie sich von einer Generation zur nächsten beeinflussten", so der britische Kulturhistoriker.
Andreas Müller: Unter LGBT-Music könnte man Songs verstehen, in denen es um queere Themen geht. Man könnte darunter auch Musik von Künstlern verstehen, die eine große LGBT-Fangemeinde haben. Sie haben sich führ Ihr Buch aber dafür entschieden, die Geschichte von Musikern zu erzählen, die selbst LGBT sind. Warum diese Annäherung?
Darryl W. Bullock: Nun, ich denke, dass dieser Blick auf die Geschichte des Pop bisher weitgehend unbeachtet blieb. Wir haben alle Bücher über einzelne LGBT-Künstler gelesen, Freddie Mercury zum Beispiel oder David Bowie, und es existieren Publikationen zu einzelnen Musik-Genres wie Disco. Was ich aber nie fand, war ein Buch, das die gesamte Geschichte erzählt. Diese Lücke wollte ich schließen. Und so habe ich aufgeschrieben, was für Musik LGBT-Künstler aufgenommen haben und wie sie sich von einer Generation zur nächsten beeinflussten.
Müller: Daher also auch dieses Datum. Es heißt ja "100 Jahre LGBT-Musik". Das ist ja ungefähr die Zeit, als die Schallplatte als Massenmedium wahrgenommen wird.
Bullock: Genau. Da setzt das Buch an, im Jahr 1916, bei dem Song von einem offen lebenden Schwulen, den er für seinen Freund geschrieben hatte: "Pretty Baby" vom Ragtime-Komponisten Tony Jackson. Viele Leute denken ja, dass die Meilensteine der LGBT-Gemeinde ausschließlich in die 1960er- und 70er-Jahre fallen – also nach Stonewall und der daran anschließenden Gründung der Gay Liberation Front. Aber das stimmt nicht. Schon lange vorher gab es Songs mit dezidiert schwulen, lesbischen, bisexuellen und Transgender-Inhalten.
Müller: Richtig. Sie versuchen in Ihrem Buch, auch weniger bekannte Kapitel dieser schwul-lesbischen Musikgeschichte zu beleuchten. Der Blues, der Jazz, New Orleans – das sind Dinge, die man vielleicht gar nicht damit in Verbindung bringt. Was hast Sie da am meisten überrascht? Gibt es da noch eine weitere Geschichte neben der, die Sie uns gerade schon angedeutet haben?

Das liberale Leben der 20er-Jahre

Bullock: Besonders überraschend war für mich, wie offen es schon früh in der Geschichte zuging. In den 1920ern und 30ern brauchten Künstler für eine kurze Periode ihre sexuelle Identität nicht zu verstecken. In den 20er-Jahren gab es in den USA zum Beispiel die Pansy-Craze-Szene, die größtenteils aus Drag Queens bestand und das heutige queere Nachtleben vorwegnahm. Ähnliches gab es zu der Zeit in London, Berlin, Wien und Paris – ein liberales Leben, das kurzzeitig zwischen den beiden Weltkriegen aufblühen konnte. Und das hat mich fasziniert: zu entdecken, dass es nicht nur hier und da mal ein bisschen queeres Leben gab, sondern überall.
Müller: Darry Bullock ist hier im Gespräch zu Gast. Von ihm ist das Buch "David Bowie Made Me Gay. 100 Years Of LGBT Music erschienen. Herr Bullock, Sie haben schon gesagt, es ist überall möglich gewesen, offen schwul oder lesbisch zu sein. Dennoch muss man wahrscheinlich konstatieren, dass das eher auch Safe Rooms waren, in denen damals Künstlerinnen und Künstler aktiv sein konnten, und das ja eigentlich auch nur in den Metropolen. Worin sehen Sie denn die größten Verdienste der LGBT-Künstler?

"Es gibt andere, die genauso sind wie du"

Bullock: Da haben Sie absolut recht. In den Metropolen der damaligen Zeit hatten es LGBT-Künstler viel einfacher, ein offenes Leben zu führen. Auch auf dem Land gab es zum Teil positive Entwicklungen. Aber wenn dich deine Familie und deine Bekannten nicht akzeptiert haben, dann hattest du es natürlich viel schwerer. Und deshalb waren und sind für mein Buch Schallplatten, Phonographenwalzen – nun Tonaufnahmen ganz generell – so zentral. Denn selbst, wenn du auf dem Land gelebt und dich total einsam gefühlt hast, konntest du dir immer noch eine Platte kaufen, die irgendwo aus einer großen Stadt kam. Und die hat dir gesagt: Es wird schon, du bist in Ordnung, so wie du bist. Das war die Botschaft, die die LGBT-Künstler aus der Stadt aufs Land schickten: Du bist nicht allein, es gibt andere, die genauso sind wie du. Das ist der wesentliche Beitrag, den die LGBT-Musiker geleistet haben.
Müller: Was ich mich manchmal frage: Gibt es so etwas wie schwule oder lesbische Musik? Oder einfach nur Musik von Schwulen und Lesben?
Bullock: Ich denke, eher Letzteres: Musik, die von LGBT-Künstlern gemacht wurde, nicht Musik, die irgendwie LGBT ist. Schauen Sie sich zum Beispiel das Genre Disco an, ein sehr naheliegendes Beispiel, weil es so stark von LGBT-Musikern geprägt wurde. Ohne schwule DJs, Komponisten und Interpreten würde Disco gar nicht existieren.
Es gibt also spezielle Genres, die aus der LGBT-Kultur heraus entstanden sind. Aber was ich mit dem Buch zeigen will, ist, dass es neben diesen bekannten Beispielen noch solche gibt, die bisher wenig beachtet sind und bis zur Geburtsstunde des Jazz zurückreichen, ebenso bis zum frühen Blues oder zum Rock'n'Roll. Und in jedem dieser Genres waren in den vorderen Reihen LGBT-Künstler zu finden. Wir als Mitglieder der LGBT-Community waren immer dabei und haben zu jeder Entwicklung in diesen Genres etwas beigetragen.
Müller: Richtig. Homosexuelle Männer gehörten zu den treibenden Kräften hinter Musikstilen wie, schon erwähnt, Disco oder Techno. Sind sie heute, wenn man so will, noch Innovationsmotoren?

Das schafft Identifikationspotenzial

Bullock: Ich denke schon. Auch LGBT-Musiker von heute brechen Grenzen auf – Genre-Grenzen zum Beispiel. Der Amerikaner John Grant etwa veröffentlicht Folk-Alben genauso wie vom Techno und vom Rock beeinflusste Platten. Er lässt sich nicht in eine Genre-Schublade stecken. Auch die bisexuelle Australierin Sia lehnt Genre-Kategorien ab.
Ich denke außerdem, dass es für die Hörer immer noch eine immense Bedeutung hat, wenn sich Musiker als LGBT begreifen. Das schafft Identifikationspotenzial für Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender-Personen.
Und auch für das heterosexuelle Publikum sind LGBT-Künstler wichtig. Ein Beispiel: Denken Sie mal an Elton John, George Michael oder Freddie Mercury. Haben die nach ihrem Coming-out Fans verloren? Ich glaube nicht. Und es wichtig, das zu zeigen. Zu zeigen, dass ihre sexuelle Identität in dieser Hinsicht keine Rolle spielt. Dass sie aber in anderer Hinsicht sehr wohl eine Rolle spielt, weil sie ein Teil der genannten Musiker ist. Solche Künstler haben bewiesen, dass man keine Angst davor haben sollte, sich zu outen.
Müller: In den meisten Bereichen der Popmusik ist das sicher heute kein Problem mehr. Ich glaube, Country und Western – das sind nach wie vor Genres, in denen es im Prinzip unmöglich ist, sich zu outen und dann weitermachen zu können, ohne dass die Karriere leidet. Am Ende aber noch die Frage: Sexuelle Minoritäten und Popkultur: Das geht offenbar sehr, sehr gut zusammen. Warum eigentlich?

Popmusik sucht immer nach dem Neuen

Bullock: Gerade was den Country angeht, denke ich, dass sich ein Fortschritt vollzieht. Es gibt Musiker wie den Kanadier Drake Jenson, der bald sein viertes Album veröffentlichen wird und offen schwul lebt. Schon in den 1970ern gab es Leute wie den Amerikaner Patrick Haggerty. Natürlich haben es solche Musiker im Mainstream noch schwer, aber es wird langsam besser.
Ich denke, Popkultur ganz generell, ob Text, Kunstwerk, Mode oder Tanz, ist schon immer zu einem erheblichen Teil von LGBT-Künstlern beeinflusst worden. Und ich glaube, das liegt daran, weil wir als Community immerzu nach dem Neuen suchen. Wir wollen uns nicht in eine Schublade stecken, nicht in Ketten legen lassen. Wir wollen Grenzen austesten. Popmusik sucht immer nach dem Neuen, genauso wie wir LGBT-Menschen, und auch das Publikum giert immer nach Neuem. Sie sehen, das geht Hand in Hand.
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