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Parlament von des Zaren Gnaden

Vor 100 Jahren trat im zaristischen Russland die erste gewählte Volksvertretung, die Duma, zusammen. Ihre Einrichtung war Ergebnis der Revolution von 1905. Sie schien den Weg zu einem demokratischen Russland zu ebnen. Aber diese Hoffnung war verfrüht.

Von Bernd Ulrich | 10.05.2006
    "Diese Finsternis unter Waffen
    Ist vergraben
    In den Halbschlaf
    Des Streiks.
    Diese Nacht
    Ist unsere Kindheit
    Und die Jugend unserer Lehrer."

    Boris Pasternak war 15 Jahre alt, als er die erste russische Revolution erlebte, diese "Nacht seiner Kindheit", die zugleich "die Jugend seiner Lehrer"` war. Sein Gedicht "1905" zielte auf die Auswirkungen der Revolutionswirren jenes Jahres. In ihm kam all das zum Ausbruch, was in den Jahrzehnten der zaristischen Herrschaft unterdrückt worden war. Der leichtfertig vom Zaun gebrochene Krieg gegen Japan, den das Zarenregime seit 1904 führte, verschärfte die sozialen Spannungen noch. Die zunächst im naiven Vertrauen auf die Güte des Zaren vorgebrachten Proteste begannen am 22. Januar 1905.

    "Majestät, wir Arbeiter und Bewohner von St. Petersburg verschiedener Stände, unsere Frauen, unsere Kinder und unsere betagten hilflosen Eltern sind zu Dir, Herr, gekommen, um Gerechtigkeit und Schutz zu suchen. Wir ersticken unter der Despotie und Rechtlosigkeit."

    Über 100.000 Arbeiter in St. Petersburg zogen unter Führung des Priesters Georgij Apollonowitsch Gapon zum Winterpalast, um dem Zaren diese Bittschrift zu überreichen. Die angetretenen Wachregimenter feuerten in die Menge, verletzten Tausende und töteten annähernd 200 Menschen. Mit diesem "Blutsonntag" begann die eigentliche Revolution. In ihrem Verlauf vermengte sich indessen die berechtigte Militanz der Aufständischen immer mehr mit krimineller Gewalt. Hinzu kamen von der Obrigkeit unterstützte Pogrome. Der amerikanische Konsul der am Schwarzen Meer gelegenen Hafenstadt Batumi hatte schon Recht als er in einem Bericht nach Hause kabelte: Das Land

    "ist durchtränkt von Aufruhr und riecht nach Revolution, Rassenhass und Verbrechen aller Art. Soweit zu sehen ist, sind wir schon weit auf dem Weg in die totale Anarchie."

    Zar Nikolaus II. unterzeichnete schließlich widerwillig das so genannte Oktobermanifest. Darin wurde endlich in Aussicht gestellt, wofür die Massen schon während des "Blutsonntags" auf die Straße gegangen waren: die Bildung eines Parlamentes, der Duma, und eine von dieser mitbestimmten Regierung, also letztlich nichts anderes als eine konstitutionelle Monarchie mit demokratischem Unterbau und damit die Auflösung zaristischer Allmacht und Repression. "Meine liebe Mama", schrieb der Zar in einem Brief,

    "Du kannst Dir nicht vorstellen, was ich vor diesem Augenblick innerlich durchgemacht habe. Es blieb kein anderer Ausweg, als sich zu bekreuzigen und das zu bewilligen, wonach jedermann rief."

    Die erste, halbwegs demokratisch gewählte Staatsduma trat am 10. Mai 1906 zusammen. Doch von den Versprechungen blieb nichts übrig. Der Zar und ein von ihm bestellter Reichsrat, eine Art Oberhaus, konnten alle Gesetzesvorhaben des Parlaments boykottieren, dem Zar selbst wurden seine Privilegien und Vorrechte kaum beschnitten, ja, er konnte, sollte sie sich politisch widersetzen, die Duma auflösen, was er in den kommenden Jahren auch zweimal tat.

    Alle Euphorie, die noch nach der Verkündung des Oktobermanifestes herrschte, verflog schnell. Die nicht nachlassende Gewalt und vor allem der Aufstand der Arbeiter im Dezember 1905 hatten zu einer tiefen Kluft in der revolutionären Bewegung geführt. Das Verständnis der Liberalen in Bürgertum und Adel für die berechtigten Forderungen der Arbeiter und Bauern wurde überdeckt von einer panischen Angst vor der Gewalt des Mobs. Man solle aufhören, so ein zeitgenössischer Publizist,

    "von der Befreiung des Volkes zu träumen - wir sollten das Volk mehr fürchten als alle von der Regierung durchgeführten Exekutionen und dieser Regierung zujubeln, die uns immer noch vor der Wut der Massen schützt."

    Auf diese Einstellung konnte sich das autokratische Zarenregime künftig ebenso verlassen wie die kleine politische Gruppe der Bolschewiki auf die Abwendung der Arbeiter von den demokratischen Parteien, auch von den sozialistischen. Die Bolschewiki boten den enttäuschten Arbeitern der Städte eine neue Vision, nämlich die Vernichtung der Bourgeoisie als Klasse, was ganz wörtlich zu nehmen war, und die Errichtung einer eigenen revolutionären Regierung im Bündnis mit den Bauern und den nationalen Minderheiten. So blieben alle Bemühungen für ein Russland der demokratischen Reformen vergeblich, für das die Eröffnung der ersten Staatsduma wie eine Verheißung gewirkt hatte.