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Abholzung
Lässt die Bioökonomie Europas Wälder schrumpfen?

Neue Wälder liefern mehr Holz. Wer also nachhaltig wirtschaften will, sollte ein Interesse an Aufforstung haben. Nun behauptet eine Studie, die aufstrebende Bioökonomie lasse Europas Wälder schrumpfen. Kaum ist die Veröffentlichung erschienen, erntet sie schon Widerspruch.

Von Volker Mrasek | 03.07.2020
Umgestürzte Fichten im Taunus aus der Vogelperspektive.
Die deutschen Wälder sind in schlechtem Zustand. Borkenkäferplagen, Trockenheit und Sturm machen ihnen zu schaffen. (Imago / Jan Eifert)
Die neue Studie stammt aus dem Gemeinsamen Forschungszentrum der EU-Kommission in Ispra in Italien. Dort hat man die Daten von US-amerikanischen Satelliten aus der Landsat-Reihe ausgewertet. Sie liefern schon lange Bilder von der Erdoberfläche. Spezielle Rechenalgorithmen erlauben es, Waldflächen in den Aufnahmen zu erkennen, mit einer räumlichen Auflösung von 30x30 Metern.
Die Satellitendaten zeigten eine abrupte und drastische Zunahme von Abholzungen in Europa, sagt der Erstautor der neuen Studie, der italienische Hydrologe Guido Ceccherini:
"Mit unserem Ansatz können wir Flächenrodungen erkennen, aber nicht die Entnahme einzelner Bäume im Wirtschaftswald. Das muss man betonen. Die Daten enthüllen, dass die gerodete Fläche in Europa in den letzten Jahren um 49 Prozent zugenommen hat. Das gilt für den Zeitraum 2016 bis 2018, verglichen mit den Jahren 2011 bis 2015."
Für mehr als die Hälfte des Anstiegs sollen Schweden und Finnland verantwortlich sein. Forcierte Rodungen habe es auch in Portugal, Spanien, Frankreich und Polen gegeben sowie in den baltischen Ländern Litauen und Estland – am häufigsten in Nadelwäldern.
Es handele sich hier nicht um Flächenverluste durch Windwürfe und Waldbrände, sagt Ceccherini. Die seien wo immer möglich ausgeklammert worden:
"Unsere Untersuchungen legen nahe: Der Grund für den starken Verlust von Waldfläche ist der expandierende Markt für Holzprodukte."
Mit anderen Worten: Europa schlägt den Weg in die Bio-Ökonomie ein, die stärker auf Holz als Bau- und Brennstoff setzt – und betreibt dafür nun einen viel kräftigeren Kahlschlag im Wald! Die Studienautoren warnen: Das sei kritisch für den Klimaschutz. Denn mit jeder gerodeten Waldfläche gehe ein wichtiger Speicher für das Treibhausgas Kohlendioxid verloren.
Kritisch für das Klima
Kaum, dass sie erscheint, wird die Studie aber schon kritisch hinterfragt. Zum Beispiel von Marcus Lindner, Leitender Wissenschaftler im Bonner Büro des Europäischen Forstinstituts:
"Wr wissen, dass die Nutzungen durchaus in den letzten Jahren angestiegen sind, teilweise als Reaktion auf die Erholung nach der Finanzkrise. Aber in den Größenordnungen, die dort ausgewiesen worden sind, scheint das doch ein bisschen fraglich zu sein."
Als Reaktion auf die Studie hat sich der Forstwissenschaftler die jüngsten Daten über die Produktion von Rohholz und Holzprodukten in Europa angeschaut, wie er sagt. Sie stammten von der europäischen Statistikbehörde Eurostat und von der FAO, der Land- und Forstwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen:
"Da sind auch Ungenauigkeiten in diesen Statistiken. Das ist ganz ohne Frage. Aber diese Statistiken zeigen Zunahmen von fünf bis zehn Prozent über Europa gemittelt in diesem Zeitraum. Und deswegen ist es sehr, sehr schwer vorstellbar, dass wirklich halt dann auf europäischem Maßstab tatsächlich Anstiege um die 50 Prozent möglich sind."
Fünf oder 50 Prozent mehr Holzernte?
Es gibt noch einen weiteren Befund in der Studie, den Lindner nicht so recht nachvollziehen kann. Nicht nur das Ausmaß der Waldrodungen in Europa soll zugenommen haben, sondern auch die Größe der einzelnen Abholzungsparzellen, und zwar im Schnitt um 34 Prozent:
"Und das muss man ja irgendwo auch sehen können, dass auf einmal halt die Praxis sich ganz radikal geändert hat. Und das ist aber nicht der Fall! Nur dort, wo dann halt Borkenkäfer große Flächen kahlfressen, dort haben wir Flächenverluste. Aber in vielen Ländern haben wir eher eine Tendenz zu kleinräumigeren Nutzungen und nicht mehr so große Kahlschläge."
Es könnte sein, dass manche Waldverluste in den Satellitenbeobachtungen gar keine geplanten Rodungen sind, sondern Notabholzungen nach Borkenkäfer-Befall. Oder doch Waldbrände! Guido Ceccherini schließt das selbst nicht aus:
"Unsere Schätzungen für die Iberische Halbinsel sind vermutlich durch Feuer verzerrt. Es gab dort sehr viele kleinere Waldbrände, und wir müssen davon ausgehen, dass manche gar nicht entdeckt worden sind."
Satellitenbeobachtung für Wälder
Marcus Lindner vermutet aber vor allem, dass sich grundlegende Fehler bei der Auswertung der Beobachtungsdaten aus dem All eingeschlichen haben. Die Landsat-Satelliten der USA wurden schon mehrmals gewechselt, bei einigen traten technische Probleme während ihrer Messungen im Orbit auf:
"Es gibt Autoren, die sagen: Man muss sehr vorsichtig sein, wie diese Zeitreihen interpretiert werden. Man kann dort leicht Fehler machen und dann quasi einen Anstieg zeigen, der gar kein richtiger Anstieg ist, sondern bloß eine methodische bedingte Abweichung."
Die starke Zunahme von Waldrodungen in Europa könnte demnach ein Artefakt sein. Das ändere aber nichts an der Notwendigkeit von Satellitenstudien, betont Lindner. Nur durch sie lasse sich der Zustand aller Wälder in Europa kontinuierlich überwachen:
"Aber es muss eben auch methodisch korrekt gemacht werden."