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Parlamentswahl in der Türkei
"Es braucht jetzt diese Wahlen"

Die Sicherheitslage in der Türkei zeige, dass es am Wochenende eine freie, faire und demokratische Parlamentswahl brauche, sagte die SPD-Politikerin Michelle Müntefering im DLF. Die Sicherheitslage sei angespannt, der Friedensprozess mit den Kurden müsse fortgesetzt werden, so die Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe.

Michelle Müntefering im Gespräch mit Christiane Kaess | 30.10.2015
    Die SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering.
    Die SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Eine Große Koalition aus AKP und CHP hält Müntefering in der Türkei für wahrscheinlich. Das hänge allerdings davon ab, ob Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bereit sei, die Macht zu teilen. Er hatte Neuwahlen angesetzt, nachdem Koalitionsverhandlungen zwischen beiden Parteien nach der Wahl im vergangenen Juni gescheitert waren. Dass eine weitere Abstimmung angesetzt werde, sei nicht wahrscheinlich: "Man kann nicht einfach weiterwählen", so Müntefering.
    Die SPD-Politikerin sagte, sie sei irritiert, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) "jetzt gerade entdeckt, wie wichtig die Türkei ist". In den vergangenen Jahren habe die EU die Türkei eher "weggedrückt". Die Flüchtlingskrise zeige, dass es dringend Gespräche brauche.
    Dass die EU-Kommission einen kritischen Bericht zur Menschenrechtslage in der Türkei erst nach der Parlamentswahl veröffentlichen will, kritisierte Müntefering. Sie forderte, solche Themen kritisch zu hinterfragen und offen mit Ankara zu diskutieren.

    Das Interview mit Michelle Müntefering in voller Länge:
    Christiane Kaess: Im Westen wurde es als Sieg der Demokratie gedeutet, als im Juni bei den Parlamentswahlen in der Türkei die AKP, also die Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, keine absolute Mehrheit bekam. Erdogan hätte sich gewünscht, die Verfassung zu ändern und seine Macht auszubauen. Die sich anschließenden Neuverhandlungen scheiterten, Neuwahlen wurden ausgerufen und in den vergangenen Monaten hat sich die Situation in der Türkei weiter zugespitzt. Die Regierung geht immer härter gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor und auch gegen Regimekritiker. Die Europäische Union und vor allem Deutschland sehen sich dennoch genötigt, Erdogan trotz seines harten Kurses entgegenzukommen - wegen der Flüchtlinge, die von dort aus nach Europa aufbrechen. Visaerleichterungen und Geld gehören zu den Wünschen der Türkei, die jetzt diskutiert werden und bei denen es nicht unwahrscheinlich ist, dass die EU dem Land weit entgegenkommen wird, im Gegenzug dafür, dass die Türkei den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa bremst. - Verbunden bin ich jetzt mit Michelle Müntefering von der SPD. Sie ist die Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Guten Morgen!
    Michelle Müntefering: Guten Morgen!
    Kaess: Frau Müntefering, kann denn die AKP am Sonntag auf bessere Wahlergebnisse hoffen, oder hat sich Erdogan dieses Mal verrechnet?
    Müntefering: Nun, das ist eine spannende Frage, die man jetzt noch nicht beantworten kann. Die beantworten die Türkinnen und Türken am Sonntag selber.
    Kaess: Umfragen sehen ja ein ähnliches Ergebnis voraus wie im Juni. Wenn das so käme, welches Szenario würden Sie sich vorstellen für danach?
    Müntefering: Ich glaube, dass dann die Position der Koalitionsparteien stärker wird, der möglichen Koalitionsparteien stärker wird, und es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob nun eine Koalition mit der MHP oder der CHP als Koalitionspartner wahrscheinlicher ist. Das werden wir sehen. Ich glaube, dass die große Koalition, also eine AKP/CHP-Regierung, wohl am ehesten dem Wählervotum entsprechen würde, wenn es denn so ausfallen sollte wie im Juni.
    Kaess: Und Sie glauben, dass man sich auch tatsächlich einigen kann und dass es nicht noch einmal dann die dritten Wahlen geben wird?
    Zusammenrücken statt weiterwählen
    Müntefering: Ich glaube, dass man sich einigen kann, ja. Das hängt natürlich davon ab, ob die AKP, und auch, ob Erdogan als stärkste politische Figur der AKP dazu bereit ist, auch die Macht zu teilen. Aber wie gesagt, bei der zweiten Wahl - das ist ja eine zweite Chance, die sich Erdogan vor allem selbst gegeben hat. Das muss man wohl so sagen. Man kann nicht weiterwählen einfach, sondern das wissen auch die Türkinnen und Türken, dass es jetzt darauf ankommt, dann auch zusammenzurücken, die Politikerinnen und Politiker in der Türkei. Also es ist möglich.
    Kaess: Die Wahlen finden ja in einem äußerst angespannten Umfeld statt. Kann man das eigentlich überhaupt als freie Wahlen bezeichnen?
    Müntefering: Beim letzten Mal im Juni wurden diese Fragen auch gestellt: Gibt es faire, gibt es freie Wahlen? Die Wahlbeobachter, die auch vor Ort waren und sich das angeguckt haben, sind zu dem Ergebnis gekommen: Ja, das ist ordentlich gelaufen und es sind sogar 86 Prozent zur Wahl gegangen. Aber es ist schon richtig: Die verschärften Konflikte, auch die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der PKK, die führen natürlich in der Türkei zu einer großen Unsicherheit, auch zu einer Gefährdung der Sicherheitslage. Aber genau das ist es, worauf es jetzt ankommt. Wir müssen auch deutlich machen, auch von unserer Seite, es braucht jetzt diese Wahlen, es braucht freie, faire, demokratische Wahlen in der Türkei, damit die Türkinnen und Türken selber über ihr Schicksal entscheiden können.
    Kaess: Es gibt ja die These, dass Erdogan den Konflikt mit den Kurden verschärft hat mit politischer Absicht. Würden Sie diese These unterstützen?
    Erdogans Rhetorik trägt nicht zur Deeskalation bei
    Müntefering: Zumindest sehen wir, dass die Rhetorik des türkischen Präsidenten nicht zur Deeskalation beiträgt, und das bräuchte man eigentlich in diesen Tagen. Man bräuchte einen Wiedereinstieg in den Friedensprozess. Aber es wird davon gesprochen, die PKK auszulöschen, und mit solchen Worten verschärft man natürlich auch eine Situation, ein Klima, und eigentlich wäre es wichtig, jetzt jede Möglichkeit der Deeskalation zu nutzen.
    Kaess: Nun wissen wir nicht, wie die Wahlen ausgehen. Aber sollten die Umfragen Recht behalten und ein ähnliches Ergebnis wie beim letzten Mal herauskommen, also wieder schwierige Koalitionsverhandlungen danach, worauf muss sich denn Europa einstellen, wenn es um das Angebot geht oder Angebote wie Visafreiheit und finanzielle Unterstützung, um im Gegenzug die Migration der Flüchtlinge nach Europa einzuschränken?
    "Ein sehr unglücklicher Zeitpunkt"
    Müntefering: Dass man die Türkei braucht, dass die Türkei ein Schlüsselland ist in der Flüchtlingskrise, dass auch die Kooperation mit der Türkei in Visafragen und anderen Dingen schon seit Jahren wichtig ist, das ist nicht erst seit gestern bekannt, sondern wie gesagt seit Jahren auch schon immer wieder ein Thema gewesen, und es irritiert mich schon sehr, dass auch Frau Merkel, dass die Kanzlerin, aber die Kanzlerin natürlich auch als Parteimitglied der CDU das jetzt gerade entdeckt, wie wichtig die Türkei ist. Denn das ist wie gesagt eine Wahrheit, die wir schon lange wissen. Man hat die Türkei ja eher weggedrückt, hat von privilegierter Partnerschaft gesprochen, hat den Beitrittsprozess eher auf Eis gelegt, anstatt die Kapitel zu öffnen, wo es wirklich darum geht, dass man einander prüft: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, also das, wo man sich wirklich prüfen muss, um auch in diesem Prozess zu Fortschritten zu kommen. Das wurde eher weggedrückt in den letzten Jahren und es ist so wichtig, aber jetzt gerade natürlich mit der Wahl ein sehr unglücklicher Zeitpunkt, dass nun alles zusammenkommt.
    Kaess: Sie sagen, man entdeckt jetzt, wie wichtig die Türkei ist. Auf der anderen Seite wird Angela Merkel ja vorgeworfen, mit ihrem Besuch bei Erdogan Wahlhilfe für die AKP geleistet zu haben.
    Müntefering: Ich habe im Vorfeld gesagt, dass man reden muss, aber dass man eben auch eine klare Botschaft an die Türkei senden muss, und die muss heißen: demokratische, faire, freie Wahlen und den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufzunehmen. Das ist etwas, was wir auch weiterhin fordern müssen und was auch Frau Merkel tun muss.
    Dieser Besuch - ich habe es gerade schon gesagt -, das ist ein unglücklicher Zeitpunkt. Ich glaube, das ist klar. Dennoch: Die Forderungen, die jetzt auf dem Tisch liegen, die müssen betrachtet werden. Wichtig ist nur, dass man so einen Beitrittsprozess und das, was die EU auch will und worauf es uns als Staatengemeinschaft ankommt, unsere Werte auch zu vermitteln, auch Menschenrechte zu halten und Pressefreiheit zu garantieren, dass das eben nicht instrumentalisiert wird, sondern dass das klar ist. Keine rosarote Brille aufsetzen!
    Kaess: Frau Müntefering, da ist ja genau die Frage, ob dieses Entgegenkommen in der jetzigen Situation tatsächlich richtig ist. Es gibt Meldungen, dass die EU-Kommission den kritischen Fortschrittsbericht zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zurückhält, um den Wahlkampf der AKP nicht zu belasten. Wie stark sind für Sie die Hinweise, dass das tatsächlich so ist?
    Schwierige Kapitel öffnen
    Müntefering: Wir wissen alle, dass der Bericht zu spät ist. Wir wissen, dass er kritisch ausfallen wird. Deswegen frage ich mich schon, warum veröffentlicht man ihn nicht. Im Gegenteil: Wir sind ja interessiert daran, mit der Türkei über Menschenrechte zu diskutieren. Ich habe es gerade schon gesagt, auch eben diese schwierigen Kapitel zu öffnen.
    Kaess: Aber dem Bericht zufolge, wenn ich hier mal einhaken darf, dürfte die EU dann das eigentlich im Moment nicht machen, wenn er so kritisch ausfällt.
    Müntefering: Ich finde, dass man das gerade machen muss, dass man miteinander sprechen muss, dass man auch keinen vorauseilenden Gehorsam dort zeigen muss, dass man keine rosarote Brille aufsetzen muss, sondern die Beziehungen Deutschlands mit der Türkei, die sind schon älter, als es unsere Länder eigentlich gibt. Warum also nicht auch einen kritischen Bericht jetzt veröffentlichen? Warum nicht auch über die Probleme sprechen? Das, finde ich, ist keine kluge Entscheidung, sondern man muss eher eben auch die Kritik miteinander ertragen.
    Kaess: Frau Müntefering, wenn die Türkei im Gegenzug zu ihren Wünschen und zu den eventuellen Zugeständnissen der EU, was jetzt diskutiert wird, wie zum Beispiel die Visafreiheit, tatsächlich Flüchtlinge aus Syrien bei sich im Land halten will, müssen wir uns einstellen auf Bilder, die man in Europa versucht zu vermeiden, nämlich dass mit Gewalt gegen Schutzsuchende vorgegangen wird?
    Müntefering: Man muss sagen, die Türkei hat mit die meisten Flüchtlinge überhaupt aufgenommen. Es sind 2,2 Millionen Flüchtlinge im Land, ja unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen. Es sind rund 300.000 in Flüchtlingsunterkünften, von denen die UNHCR auch sagt, dass sie sehr gut organisiert sind. Es gibt aber auch Flüchtlinge, die sich durchschlagen in der Türkei.
    Kaess: Aber meine Frage war: Wie wird die Türkei diejenigen zurückhalten, die das Land verlassen wollen? Mit Gewalt, weil man sich gegenüber der EU dann verpflichtet fühlt?
    Müntefering: Es gibt ja darüber, wie man nun auch den Flüchtlingen in der Türkei hilft und wie man sie unterstützen kann, darüber gibt es ja nun den Migrationsdialog der EU, aber auch Deutschlands, den Frank-Walter Steinmeier auch begonnen hat und vorgeschlagen hat. Da ist genau das auch ein Punkt: Wie kann man denn eigentlich auch der Türkei helfen, diese über zwei Millionen Flüchtlinge zu versorgen. Das ist auch richtig, dass man das macht.
    Kaess: ... sagt Michelle Müntefering. Sie ist Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe und SPD-Politikerin. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Müntefering: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.