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Parteien zapfen Bürger an

Bundeskanzlerin Merkel tut es. SPD-Chef Gabriel ebenso. Und viele weitere Politiker auch. Alle nutzen die vielfältigen Mittel des Internets, um mit den Bürgern in einen digitalen Dialog zu treten. Mit mehr oder weniger großem Erfolg.

Von Philip Banse | 02.02.2012
    "Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die Nutzer des Youtube-Kanals der Bundesregierung hatten die Möglichkeit, Ihnen Fragen zu stellen. Das wurde rege genutzt und ich möchte Ihnen die zehn best bewerteten Fragen präsentieren."

    Ihren ersten Versuch, mit den Bürgern über das Internet ins Gespräch zu kommen, unternahm die Kanzlerin im Herbst des vergangenen Jahres. Jeder konnte Fragen formulieren und über Fragen anderer abstimmen. Am dringlichsten wollten die Nutzer wissen, warum Cannabis in Deutschland nicht legalisiert und damit der Schwarzmarkt trocken gelegt wird. Angela Merkel durfte antworten, aufgezeichnet im Video, gut vorbereitet, ohne das Risiko frecher Nachfragen.

    "Wir sind der Meinung, dass Cannabis als Droge eingestuft werden muss, das ist auch international so. Und das bedeutet, dass auch der Konsum von geringen Mengen sehr, sehr hohe Abhängigkeiten schaffen kann."

    Unter Dialog stellen sich viel zwar etwas anderes vor, sagt Markus Beckedahl, den Grünen nahestehender Netzaktivist im Verein "Digitale Gesellschaft": Viele seien enttäuscht, aber:

    "Wir sind nach jahrelangem Stillstand in der Frage, wie kann man das Internet einsetzen für mehr Bürgerbeteiligung, sind wir jetzt in die Phase eingetreten, dass mehr experimentiert wird. Das ist erfreulich, kommt einige Jahre zu spät, aber besser zu spät als nie."

    Gestern begann die Bundeskanzlerin mit dem nächsten Internet-Experiment: Unter "dialog-ueber-deutschland.de" kann jeder – auch unter Pseudonym - Vorschläge zu drei bedeutenden gesellschaftlichen Fragen machen: "Wie wollen wir zusammenleben?" "Wovon wollen wir leben?" und "Wie wollen wir lernen?". Bis zum 15.April wird gesammelt, diskutiert und wieder abgestimmt. In den ersten 30 Stunden sind bereits rund 1.000 Vorschläge eingegangen. Die bislang populärsten Beiträge verlangen eine "Offene Diskussion über den Islam". Dicht gefolgt von der bekannten Forderung nach Legalisierung bestimmter weicher Drogen. Über 800 Stimmen auf sich vereint hat bisher der Beitrag mit der Überschrift: "Die eigene deutsche Identität stärken! Nur wer sich selber schätzt, kann andere angemessen würdigen!" Bürgervorschläge, die in zehn Wochen oben stehen, will die Kanzlerin nicht mehr per Videostatement zu den Akten legen, sagt ihr Sprecher Steffen Seibert:

    "Nach Ende der Vorschlagphase erhalten dann diejenigen, die die zehn im Netz am besten bewertet Vorschläge gemacht haben, eine Einladung ins Bundeskanzleramt und die Bundeskanzlerin wird dort ihre Vorschläge mit ihnen diskutieren."

    Nicht nur das Volk kommt zur Kanzlerin, auch die Kanzlerin kommt zum Volk: Im Februar und März will Merkel mit Bürgern diskutieren, in Erfurt, Heidelberg und Bielefeld.

    Ein anderes, in manchen Bereichen weiter gehendes Dialog-Experiment hat die SPD-Fraktion im Bundestag aufgebaut. Um sich auf einen möglichen Regierungswechsel vorzubereiten, wurden sieben Arbeitsgruppen gegründet, die etwa zu Bildungs- Wirtschafts- und Energiepolitik Positionen erarbeiten sollen. Dabei will die Fraktion alle Bürger mitmachen lassen. Unter zukunftsdialog.spdfraktion.de haben die Oppositionellen daher Adhocracy installiert, ein Software-Gattung, die die Piratenpartei in Deutschland bekannt gemacht hat. Interessierte Bürger können nicht nur Vorschläge machen, Vorschläge kommentieren und über sie abstimmen. Die SPD-Fraktion lässt Bürger auch direkt an den Texten arbeiten. Knapp 600 Menschen haben sich für das sozialdemokratische Dialog-Experiment eingetragen. Doch die Software ist nicht ganz einfach zu bedienen, die Aktivität bisher eher gering, Textarbeit die Ausnahme. Der stellvertretende SPD-Fraktionschef, Hubertus Heil, ist nicht enttäuscht:

    "Wir sind eigentlich für die kurze Zeit für die zwei, drei Wochen, in denen wir online sind, mit der Beteiligung ganz zufrieden. Das wächst jetzt noch an. Die gute Erfahrung, die wir gemacht haben, ist nicht einfach nur die Fragen zu stellen "Wie wollen wir leben?" und dann alle möglichen unsortierten Kommentare zu bekommen, sondern mit konkreten Ideen ran zu gehen und damit auch Reaktionen zu provozieren."

    Digitale Werkzeuge für mehr Dialog und Mitbestimmung werden langsam zur Selbstverständlichkeit, sagt Sebastian Basedow von der Agentur Zebralog, die Mitbestimmungswebseiten verkauft. Wenn die Spitzen des Staates digitalen Dialog vormachen, können lokale Verwaltungen ihn schwerer als Modeerscheinung vom Tisch wischen:

    "Das passiert ne Menge, da kommt was in Bewegung. Was gut daran ist, ist, dass man hinter solche Sachen eigentlich schwer wieder zurückfallen kann. Man kann nicht auf einmal wieder so ein Rollback machen und sagen, das ist ja alles nichts, sondern wir haben jetzt schon ein paar Pflöcke eingeschlagen und das ist glaube ich ganz positiv."

    Doch die Experimente laufen noch, viele Fragen sind noch offen. Die wichtigste ist wohl: Was passiert mit den Vorschlägen und Texten der Bürger? SPD-Mann Hubertus Heil:

    "Wir werden die Ideen, die über Online-Medien kommen, die wir aufnehmen, auch kenntlich machen, gleichzeitig aber auch sagen, warum wir welche Idee und welchen Vorschlag nicht aufgenommen haben."

    Merkels Sprecher Seibert:

    "Am Ende des Prozesses werden wir hoffentlich eine Handvoll konkreter Handlungsanweisungen haben und über die kann dann entschieden werden, wie man sie in den politischen Prozess einbringt, ob es Ressorts gibt, die sich ihrer annehmen, ob die Bundeskanzlerin sie in den dann auch natürlich parlamentarischen Prozess einbringen wird."

    Doch dieser politische Prozess ist extrem kompliziert, für Bürger kaum zu durchschauen. Was passiert mit meinem Vorschlag? Wie geht er in ein parteiinternes Gremium rein? Wie kommt er wieder raus? Wo und warum versandet meine Idee?

    "Als Bürger kriegt man überhaupt nicht mit, wie diese Sachen dann in den nicht öffentlichen Sitzungen behandelt werden. Hier haben wir ein ganz klares Transparenzproblem. Es gibt ein Offenheitsversprechen, was aber dann nicht eingelöst wird."