Dienstag, 19. März 2024

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Parteienforscher zur SPD
"Mitleid ist kein Kriterium, sich bei einer Wahl zu entscheiden"

Wechselnde Kanzlerkandidaten, kein klar erkennbares politisches Konzept, schwindende Mitglieder- und Wählerzahlen: Die SPD habe viel falsch gemacht, sage der Parteienforscher Gero Neugebauer im Dlf. Derzeit könne man die SPD eigentlich nur aus Mitleid wählen. Das sei aber nicht die Schuld von Martin Schulz.

Gero Neugebauer im Gespräch mit Dirk Müller | 23.09.2017
    Porträtfoto des Parteienforschers Gero Neugebauer.
    Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer glaubt, Martin Schulz sei zu spät gekommen, um die SPD zu retten. (Privat)
    Dirk Müller: Die Wahl, das ist unser Thema. Wir wollen noch einmal auf die SPD schauen, die SPD weiter auf Talfahrt. Das könnte nach den jüngsten Zahlen eben genauso sein. Wir haben das noch einmal bestätigt bekommen. Martin Schulz wird die Sozialdemokraten, so viel steht schon fest, nicht wieder zu den Höhen zurückführen können, wo sie einst unter Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Willy Brandt gestanden hat. Unser Thema mit dem Politikwissenschaftler und Parteienforscher Professor Gero Neugebauer. Guten Tag nach Berlin!
    Gero Neugebauer: Guten Tag, Herr Müller!
    Müller: Können Sie nicht wenigstens die SPD wählen?
    Neugebauer: Ich könnte die SPD wählen, wenn ich mich an Dingen orientieren würde, die da heißen: Warten wir mal ab, wie sie jetzt überlebt und welche Perspektive sie für die Zukunft vorlegt. Und dann müsste ich an die Erfolgsbedingungen denken, die eine Partei haben muss. Und da schaue ich auf die SPD und sage, na ja, also, wenn wir an die Personen gehen, die SPD hat in den letzten Jahren permanent neue Kanzlerkandidaten vorgezeigt, aber nicht mal den Parteivorsitzenden, der hat sich selbst nicht einmal ermutigen können, als Kanzlerkandidat anzutreten. Also immer neue Angebote, während auf der anderen Seite permanent dieselbe Person ist.
    Die SPD hat nicht aus der Koalition 2005, 2009 gelernt, als sie keine gute Rolle als Juniorpartner in einer Großen Koalition spielen konnte. Sie hat auch diesmal kein Reformkonzept vorgelegt, das langfristig Aussagen über die Politik der SPD möglich gemacht hätte. Und sie hat außerdem, sagen wir so, keine realistische Machtperspektive gehabt, denn die Aussage, gar keine Koalition, oder dann nach der Saar auf einmal eine Koalition mit der FDP, und dann überhaupt wieder über Koalitionen zu schweigen. Das ist auch ein bisschen ungewiss.
    Na ja, und die Stammwähler sind der SPD ja sowieso schon in der Vergangenheit zu großen Scharen abhandengekommen. Zwischen 1998 und 2009 hat sie fast elf Millionen Stammwähler, also Wähler verloren. Und die muss man auch erst wiederkriegen. Also wenn man dann guckt und sagt, weshalb könnte ich sie wählen? In meinem Bekanntenkreis sagen manche schon wieder, na, vielleicht aus Mitleid.
    Müller: Aber das kommt für Sie nicht in Frage. Aus Mitleid gibt es bei Ihnen keine Wahl?
    Neugebauer: Mitleid ist kein Kriterium, eine Wahl zu entscheiden. Aber es ist eine Möglichkeit, insbesondere dann, wenn man sagt, na ja, Gott, es bedarf eines bestimmten Wettbewerbs im Parteiensystem. Aber dieser Wettbewerb muss von Konkurrenten gemacht werden, die auch wissen, worauf sie hinaus wollen. Und da setzt man eher Hoffnung auf die SPD, dass sie einem erhalten bleibt, als dass man sagt, im Moment kann sie das nicht leisten.
    Müller: Aber das hört sich ganz klar, klipp und klar, wie Sie es gerade formuliert haben, Herr Neugebauer, so an, die SPD ist gar keine gute Partei mehr, brauchen wir nicht.
    Neugebauer: Die zweite Frage würde ich nicht beantworten wollen, weil das eine Sache der SPD ist. Sie muss aber in der Tat – die Richtung Ihrer Frage ist ganz klar. Sie muss sich darüber klar werden, wozu die Partei noch gebraucht wird, wenn sie in Koalitionen hineingeht, in denen sie dann nicht ihre Ziele verwirklichen kann. Entgegen beispielsweise der Auffassung von Martin Schulz – wir haben dies und dies geleistet – natürlich haben sie das geleistet.
    Aber wenn in der letzten Bundestagssitzung Frau Merkel sinngemäß Herrn Gabriel bescheinigt, dass sie ohne ihren Willen – freundlicherweise sagt sie dann auch noch, der Koalitionsfraktion – dass sie ohne den Willen der Fraktion hätte nichts machen können – was erweckt das denn dann für einen Eindruck? Das erweckt doch wirklich den Eindruck, dass sie es wieder mal geschafft hat, alle Koalitionspartner so zu zähmen, dass sie ihrem Willen folgen.
    Müller: Ja, aber warum ist das so? Wir haben das eben von Dirk-Oliver Heckmann ja auch gehört. Also, Schulz hat argumentiert, wir haben den Mindestlohn durchgebracht, wir haben die Rente mit 63 durchgebracht. Das sind natürlich umstrittene Themen, das sehen ja die unterschiedlichen Lager ganz unterschiedlich, ganz anders. Aber warum wird das der SPD offenbar nicht so gut zugeschrieben, dass sie davon profitiert?
    Neugebauer: Weil die Wählerschaft das nicht so sieht. Die Wählerschaft sieht, wer nimmt das mit? Und nach dem Motto "The winner takes it all" hat Frau Merkel das sich angeeignet. Und die SPD hat durch ihre Klagen, dass sie nicht angemessen bewertet werden, eher Unmut erzeugt. Viele Wähler haben gesagt, na und, ihr habt doch angekündigt, was ihr machen wollt. Jetzt wollt ihr noch belohnt werden? Das war doch selbstverständlich. Und euer ewiges Klagen darüber, dass ihr nicht so gut bewertet werdet, das geht mir dann langsam doch auf den Senkel.
    Aber man muss mal dahinter sehen, dass die SPD in diesen Wettbewerb mit erheblichen Strukturdefekten gegangen ist. Sie hat seit 2013 zwar in bestimmten Bereichen der Regierungspolitik, gute Regierungsarbeit geleistet – wollen wir gar nicht bestreiten. Wenn ich auch sagen würde, in Umwelt und in Wirtschaft – na ja, gut, das ist eher mittelmäßig. Aber sie hat in den Landtagswahlen seit 2014 permanent verloren oder nicht mehr so Ergebnisse erzielt, zuletzt ja in den Landtagswahlen Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein Ministerpräsidenten verloren. Sie hat Mitglieder verloren. Auch der Aufschwung zu Beginn des Jahres hat nicht dazu geführt, dass sie ihre Position wesentlich bessern konnte.
    Sie ist ungefähr am Stand 2015. Sie hat in den Auseinandersetzungen um die Frage, wie das Programm gemacht werden soll, keine Fortschritte erreicht, sondern hat einfach nur bestimmte, relativ konkrete und auch schlüssige Sachen, aber ohne Perspektive aneinandergereiht, und sie hat, wenn man so will, im Personenangebot – na ja. Sie hat einen verzagten Vorsitzenden gehabt, der dann doch die Bewerbungsgespräche abgebrochen hat, einen anderen Kandidaten installiert hat, der kam zu spät, der wurde mit inhaltlichen Anforderungen konfrontiert, die er nicht erfüllen konnte, weil er nicht an der Programmdiskussion beteiligt war.
    "Martin Schulz ist nicht der Falsche"
    Müller: Aber war der von Anfang an der Falsche? Viele haben doch gedacht, na ja, ist genau der richtige Weg jetzt. Martin Schulz.
    Neugebauer: Martin Schulz ist nicht der Falsche. Martin Schulz ist zu spät gekommen. Die Vorteile, die man ihm zugesprochen hat, nicht verknüpft sozusagen mit negativen politischen Vorhaben oder Projekten, die der SPD anzuhängen sind, sei nicht gegeben. Aber es hat sich dann eben doch als Nachteil herausgestellt. Es hat sich als Nachteil herausgestellt, dass er sich in der Innenpolitik nicht so gut auskannte, dass er den Amtsbonus von Frau Merkel überhaupt nicht ausgleichen konnte, dass er nicht ausreichend Solidarität in der Partei gefunden hat. Wenn die Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ihm bedeuten, er möge doch nicht ihre Wahlkämpfe stören, sie wüssten schon, was gut ist – na ja, sie haben ja auch die entsprechenden Ernten eingefahren –, dann tauchen eben Sachen auf, wo man sagen kann, nee, Martin Schulz ist es nicht.
    Das Problem der SPD ist hausgemacht. Martin Schulz ist ein bestimmtes Teil davon, weil seine Ebene der Politik, die europäische Politik, nämlich nicht so im Wahlkampf zur Geltung gekommen ist, dass er seine Vorteile, seine Kenntnisse hätte ausgiebig sozusagen einbringen können. Und last but not least, die Schwächeperiode, in der die CDU sich befunden hat Anfang des Jahres und Frau Merkel, die ist relativ schnell überwunden worden, und heute sind dann die Verhältnisse halt so, da haben wir David und Goliath. Aber David hat vielleicht eine Schleuder, aber womit schießt er? Mit Seifenblasen?
    Müller: Herr Neugebauer, ich muss noch mal was fragen. Jetzt wird es den einen oder anderen Hörer geben, der sich fragt, warum reden die beiden jetzt eigentlich am Tag vor der Wahl zum hundertsten Mal über die SPD. Jetzt sind wir beide über 30 Jahre alt – kann man ja offen drüber reden – Sie stimmen mir zu.
    Reden wir beide jetzt darüber und thematisieren das, weil wir aus einer Zeit stammen, wo die SPD auch noch groß war, wo die SPD ein ernsthafter Konkurrent war, und unter Gerhard Schröder dann auch noch mal eine Renaissance erlebt hat, gleichzeitig auch den Niedergang eingeleitet hat – ist die SPD eben längst zu einer kleinen mittelmäßigen Partei geworden, was die meisten, die das eben aus der Historie heraus interpretieren, gar nicht verstanden haben?
    Neugebauer: Wenn wir auf die Wählerschaft gucken, dann sehen wir, es gibt einen strukturellen Vorteil für die Unionsparteien, für die Parteien der Mitte und rechts von der Mitte. Die SPD hat es nur 1972, 1998 und 2002 geschafft, stärkste Partei zu werden, 2002 schon mit erheblicher Mühe und Anstrengung. Wir reden tatsächlich zum Teil über vergangene Zeiten, wo man auch von einer echten Großen Koalition von ungefähr zwei gleich großen Parteien reden konnte.
    Aber wir können seit 2013 eigentlich nur von einer schwarz-roten Koalition reden, weil die Unterschiede – das sind 15, 16 Prozent gewesen, tatsächlich signalisieren, es gibt nicht zwei große gleichmäßige. Das soll nicht heißen, dass sich die Verhältnisse ändern können.
    Die Union erlebt gerade, dass an ihrem rechten Rand ihr Wählerpotenziale verloren gehen. Das heißt, Parteiensysteme wandeln sich, verändern sich. 42 Parteien stehen zu dieser Wahl an. Ob wir es in der Zukunft überhaupt noch mit großen Parteien zu tun haben werden oder mit Dreierbündnissen, wo dann vielleicht eine mittelgroße zwei kleinere an die Hand nimmt, um eine Koalition zu bilden. Es ist auf jeden Fall vorbei, dass eine große Partei eine kleine an die Hand nimmt und sagt, wir bilden zusammen eine Koalition. Die Verhältnisse sind nicht mehr so. Es sei denn, die SPD wird in der Tat so klein, dass sie sagt, na ja gut, ich geh mit der Union in Koalition, weil in der Koalition zu überleben ist besser, als in der Opposition zu darben, aber damit auch die Chance auf Regeneration zu vergeben.
    "Eintritt der AfD in den Bundestag ist eine Herausforderung an die Demokratie"
    Müller: Herr Neugebauer, jetzt sehe ich auf meinem Monitor, dass unsere Interviewzeit zumindest jetzt intern, in unserer Berechnung, offiziell abgelaufen ist. Ich muss Sie das trotzdem noch einmal fragen. Stichpunkt AfD. Die AfD hat ja im Grunde suggeriert, Untergang des Abendlandes, wenn alles so weitergeht. Jetzt sagen die anderen wiederum, die Gegner der AfD, ja, wenn die AfD in den Bundestag kommt, das ist der Untergang des Abendlandes. Was ist es denn?
    Neugebauer: Der Eintritt der AfD in den Bundestag ist eine Herausforderung an die Demokratie, ist eine Herausforderung an die Parteien.
    Müller: Ist das eine Zäsur?
    Neugebauer: Es ist keine Zäsur. Es wiederholt sich etwas, was wir zum Anfang des deutschen Parlamentarismus hatten, als wir auch schon rechtsextreme, rechtskonservative Parteien haben, die teilweise verschwunden, teilweise integriert worden sind. Und wir wissen noch nicht, wie die Auseinandersetzung in der AfD ausgehen wird. Werden sich die durchsetzen, die Systemopposition machen wollen, oder die, die sagen, nee, wir müssen eine Zukunft haben für diese Partei, nationalkonservativ, fremdenfeindlich, rechts von der Union, aber immerhin beheimatet diese [Anmerkung der Redaktion: Leider ist das letzte Wort des Satzes unverständlich, vermutlich ist 'beheimatet diese diese Positionen]. Es ist auch ein bisschen Europäisierung der Entwicklung des deutschen Parteiensystems.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Gero Neugebauer. Vielen Dank, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch ein schönes Wochenende und einen guten Gang zur Wahl morgen. Auf Wiederhören!
    Neugebauer: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.