Gesellschaftspanorama ist dieses Buch zum einen Teil, Porträtgalerie zum anderen, und in der Kombination von beidem entsteht ein ungemein prägnantes Bild vom englischen Leben, wie es einmal war. Schon in seiner dreibändigen Autobiographie der Jahre 1905 bis 1937 zeigt sich Canetti als ein Virtuose der Kurz-Charakteristik. Ein Historiker "wie Aubrey" wolle er gern sein, schreibt er einmal, sich auf den englischen Antiquar John Aubrey und dessen berühmtes Biographienwerk "Brief Lives" aus dem späten 17. Jahrhundert beziehend. "Brief Lives" sind auch der Kern von Canettis Buch: liebevolle, bösartige, witzige, pointierte, in jedem Fall aber kurze Charakteristiken von durchweg bedeutenden Menschen. Wobei das Bedeutende nicht unbedingt in Höchstleistungen gleich welcher Art bestehen muß; besonders liebt Canetti die Exzentriker, Männer wie den Straßenkehrer in Chesham Bois, wohin er und seine Frau Veza kriegsbedingt übersiedelt waren – einen Mann von vollendeter Artikulation und profunden Bibelkenntnissen, mit dem sich Canetti gern auf der Straße über britische Sekten des 17. Jahrhunderts unterhielt.
Man ist erstaunt, mit wem Canetti, der jahrzehntelang nichts veröffentlichte und nur einer Handvoll Eingeweihter literarisch bekannt war, Umgang pflegte: mit Bertrand Russell, Dylan Thomas, T. S. Eliot, Iris Murdoch, Henry Moore, Enoch Powell. Daneben die Emigranten, zumal aus Österreich, Leute wie Kokoschka oder der Ethnologe Franz Baermann Steiner. Die meisten dieser Berühmtheiten haben offenbar auf den Kontakt mit dem kleinen, wunderlichen Mann aus Bulgarien großen Wert gelegt; und tatsächlich avancierte Canetti in seinen englischen Jahren schon lange vor dem Nobelpreis zu einem Geheimtip, einer lokalen Kultfigur, dem Sokrates von Hampstead Heath, wie Jeremy Adler in seinem klugen Nachwort berichtet.
Unter den vielen erz-individuellen "Typen", von denen Canetti erzählt, muß er einer der unverwechselbarsten gewesen sein (und deshalb manchem englischen Exzentriker ein Bruder im Geiste). Einerseits großmütig und gesellig bis zur Verausgabung, wird Canetti andererseits plötzlich von regelrechten Haß- und Gemeinheitsanfällen heimgesucht. T. S. Eliot etwa kommt bei ihm so schlecht weg wie sonst nur Margaret Thatcher: eine "erbärmliche Figur", ein Blender, ein Totengräber der englischen Kultur deren Niedergang Canetti tatsächlich mit dem Kriegsende gekommen sieht. Er nennt Eliot den "Dichter der englischen und modernen Gefühls-Verarmung, die durch ihn Mode" geworden sei, aber trotzdem versteht man die Gründe für Canettis Abscheu nicht ganz.
So wenig man auch die ausgesuchte Bosheit gegenüber Iris Murdoch versteht, der Dichterin und zeitweiligen Geliebten. Ihre vierundzwanzig Romane: "Oxford-Geschwätz". Ihre Liebe zu ihm: "peinlich einseitig", ihre Füße "unschön". Ihren Eindruck auf Männer unterstreicht sie durch eine "durchsichtige Seidenbluse", und so fort. Canetti ist, nicht nur in diesem Buch, eine große und häufig maliziöse Klatschbase, launisch und sprunghaft in den Urteilen, voller Freude am Herabsetzen anderer, während die eigene Person geradezu von einer Fettschicht der Selbstgewißheit umgeben scheint. Wie immer es um diese oder andere mögliche Charakter-Schwächen Canettis bestellt ist: vielleicht sind sie es, die erst den immensen Reichtum, die Perspektiven-Fülle seiner englischen Beobachtungen ermöglichen. Mit diesem Buch legt Elias Canetti vom Zauber englischer Charakterköpfe zwischen 1940 und 1980 ein höchst lebendiges Zeugnis ab.