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Party im Blitz. Die englischen Jahre

"Ich bin in Verwirrung über England", so beginnen die Erinnerungen des fast neunzigjährigen Elias Canetti an seine "englischen Jahre". Ein halbes Jahrhundert hat er zu diesem Zeitpunkt, Anfang der neunziger Jahre, in England gelebt, hat sich nach dürftigen Anfängen längst einen Namen als Schriftsteller und Denker gemacht, und trotzdem sind ihm die Engländer noch immer ein Rätsel. "Die Engländer", das meint bei Canettti, obwohl er doch ein Theoretiker der "Masse" war, niemals die Unter- und Mittelschicht, die berühmte englische Arbeiterklasse; es bezeichnet vielmehr den Ausschnitt der Gesellschaft, den er von seinem Wohnsitz, dem Londoner Intellektuellenvorort Hampstead Heath, aus teilnehmend beobachten konnte: die bürgerliche und aristokratische Oberklasse, die bessere Gesellschaft. "Das Schlimmste an England", schreibt Canetti, "sind die Vertrocknungen, das Leben als gesteuerte Mumie", und nirgendwo geht es vertrockneter zu als auf der englischen Party, zumal der Steh-Party, wie sie zur Zeit von Canettis Ankunft auf der Insel dort Mode wurde. "Party im Blitz" heißt dieses Buch im Andenken einerseits an die zahllosen Parties, die Canetti als Gast miterleben oder soll man sagen: durchleiden durfte, andererseits an den Blitz, der den Himmel über einer Londoner Party im September 1940 erhellt, als dort oben die Luftschlacht über England tobt und abgeschossene Kampfbomber im Zickzack zu Boden stürzen.

Christoph Bartmann | 17.09.2003
    Canetti, ein Meister der Übertreibung und des Übermutes, kann sich mit der verordneten Zurückhaltung, der ironischen Distanz der Engländer schwer abfinden. Wenn sie ihn auf Parties ignorieren, erkennt er in solchem Verhalten den landestypischen Hochmut, wenn sie ihn nicht ignorieren, findet er dies noch hochmütiger, denn nichts scheint ihm herablassender als geheucheltes Interesse. Aber wie könnte man mit Bestimmtheit sagen, das Interesse der Gesprächspartner sei geheuchelt, wenn vielleicht deren ganzes Leben geheuchelt und zwar – schön geheuchelt ist, Produkt einer uralten "Einübung in die Kunst der Gesellschaft", wie Canetti es nennt? Eben das ist die eingangs genannte "Verwirrung über England". So viel Steifheit, Verklemmtheit, Selbstbeherrschung einerseits, so wunderbar freie und unorthodoxe Individuen andererseits. Wie läßt sich das eine mit dem anderen vereinbaren? Das vermag auch Canetti nicht zu erklären. Interessanterweise sind viele von den außergewöhnlichen Menschen, denen er in England begegnet ist, gar keine WASPs, keine weißen angelsächsischen Protestanten; es waren Iren, Schotten und Waliser, darunter viele Katholiken, Außenseiter der stolzen Art wie Canetti selbst.

    Gesellschaftspanorama ist dieses Buch zum einen Teil, Porträtgalerie zum anderen, und in der Kombination von beidem entsteht ein ungemein prägnantes Bild vom englischen Leben, wie es einmal war. Schon in seiner dreibändigen Autobiographie der Jahre 1905 bis 1937 zeigt sich Canetti als ein Virtuose der Kurz-Charakteristik. Ein Historiker "wie Aubrey" wolle er gern sein, schreibt er einmal, sich auf den englischen Antiquar John Aubrey und dessen berühmtes Biographienwerk "Brief Lives" aus dem späten 17. Jahrhundert beziehend. "Brief Lives" sind auch der Kern von Canettis Buch: liebevolle, bösartige, witzige, pointierte, in jedem Fall aber kurze Charakteristiken von durchweg bedeutenden Menschen. Wobei das Bedeutende nicht unbedingt in Höchstleistungen gleich welcher Art bestehen muß; besonders liebt Canetti die Exzentriker, Männer wie den Straßenkehrer in Chesham Bois, wohin er und seine Frau Veza kriegsbedingt übersiedelt waren – einen Mann von vollendeter Artikulation und profunden Bibelkenntnissen, mit dem sich Canetti gern auf der Straße über britische Sekten des 17. Jahrhunderts unterhielt.

    Man ist erstaunt, mit wem Canetti, der jahrzehntelang nichts veröffentlichte und nur einer Handvoll Eingeweihter literarisch bekannt war, Umgang pflegte: mit Bertrand Russell, Dylan Thomas, T. S. Eliot, Iris Murdoch, Henry Moore, Enoch Powell. Daneben die Emigranten, zumal aus Österreich, Leute wie Kokoschka oder der Ethnologe Franz Baermann Steiner. Die meisten dieser Berühmtheiten haben offenbar auf den Kontakt mit dem kleinen, wunderlichen Mann aus Bulgarien großen Wert gelegt; und tatsächlich avancierte Canetti in seinen englischen Jahren schon lange vor dem Nobelpreis zu einem Geheimtip, einer lokalen Kultfigur, dem Sokrates von Hampstead Heath, wie Jeremy Adler in seinem klugen Nachwort berichtet.

    Unter den vielen erz-individuellen "Typen", von denen Canetti erzählt, muß er einer der unverwechselbarsten gewesen sein (und deshalb manchem englischen Exzentriker ein Bruder im Geiste). Einerseits großmütig und gesellig bis zur Verausgabung, wird Canetti andererseits plötzlich von regelrechten Haß- und Gemeinheitsanfällen heimgesucht. T. S. Eliot etwa kommt bei ihm so schlecht weg wie sonst nur Margaret Thatcher: eine "erbärmliche Figur", ein Blender, ein Totengräber der englischen Kultur deren Niedergang Canetti tatsächlich mit dem Kriegsende gekommen sieht. Er nennt Eliot den "Dichter der englischen und modernen Gefühls-Verarmung, die durch ihn Mode" geworden sei, aber trotzdem versteht man die Gründe für Canettis Abscheu nicht ganz.

    So wenig man auch die ausgesuchte Bosheit gegenüber Iris Murdoch versteht, der Dichterin und zeitweiligen Geliebten. Ihre vierundzwanzig Romane: "Oxford-Geschwätz". Ihre Liebe zu ihm: "peinlich einseitig", ihre Füße "unschön". Ihren Eindruck auf Männer unterstreicht sie durch eine "durchsichtige Seidenbluse", und so fort. Canetti ist, nicht nur in diesem Buch, eine große und häufig maliziöse Klatschbase, launisch und sprunghaft in den Urteilen, voller Freude am Herabsetzen anderer, während die eigene Person geradezu von einer Fettschicht der Selbstgewißheit umgeben scheint. Wie immer es um diese oder andere mögliche Charakter-Schwächen Canettis bestellt ist: vielleicht sind sie es, die erst den immensen Reichtum, die Perspektiven-Fülle seiner englischen Beobachtungen ermöglichen. Mit diesem Buch legt Elias Canetti vom Zauber englischer Charakterköpfe zwischen 1940 und 1980 ein höchst lebendiges Zeugnis ab.