Dienstag, 19. März 2024

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Pascale Robert-Diard: "Verrat"
Familienzerfleischung vor Gericht

Der lange und schmutzige Mordprozess um die junge Casino-Erbin Agnès Le Roux habe sie in den Abgrund blicken lassen, schreibt die Gerichtsreporterin Pascale Robert-Diard. In ihrem Buch "Verrat" gelingt ihr eine ebenso effekt- wie respektvolle Analyse des vielleicht dramatischsten Mordfalls Frankreichs.

Von Melanie Weidemüller | 22.09.2017
    Buchcover Pascale Robert-Diard: Verrat. Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet
    Im Deutschen sind Titel und Buchcover etwas reißerisch geraten - doch Pascale Robert-Diards Analyse von Frankreichs vielleicht berühmtestem Mordprozess fällt sehr feinfühlig und reflektiert aus, findet Kritikerin Melanie Weidemüller. (Zsolnay Verlag / Berzkalns)
    Frankreich im Jahr 1977: Valéry Giscard d’Estaing ist französischer Präsident, die jungen Männer tragen taillierte Sakkos, die Mädchen Schlaghose oder Minirock und Kajalstrich. An der Côte d’Azur, dem mondänen Lieblingsspielplatz des Jet-Set, berichtet die Lokalpresse über den sogenannten "Casino-Krieg" zwischen den beiden größten Glücksspielpalästen Nizzas.
    Dann verschwindet die schöne junge Casino-Erbin Agnès Le Roux spurlos. Ihr neun Jahre älterer Liebhaber, ein Anwalt mit Verbindungen in höchste Gesellschaftskreise, wird des Mordes angeklagt. Das Problem: Es gibt weder eine Leiche noch juristisch eindeutige Beweise. Ein vertrackter Fall. Und – ja: Das klingt wie die Inhaltsangabe eines schillernden Kriminalromans. Glücksspiel, Macht, Korruption, Mafia, Liebesdrama, Sex – alles drin. Bei einem Roman würde man sagen: eigentlich zu viel drin.
    Den Fall hätte man sich besser nicht ausdenken können
    Aber das hier ist keine Fiktion, es ist die Realität: Der "Fall Agnès Le Roux" war einer der obskursten Kriminalfälle in der Geschichte Frankreichs und beschäftigte über Jahrzehnte die französische Justiz und Öffentlichkeit. Anklage, Freispruch, Wiederaufnahme, Anrufung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Revision. Dann, 37 Jahre nach der Tat, kommt es im Gerichtssaal zum Eklat. Der Sohn des Angeklagten, der drei Jahrzehnte für die Unschuld seines Vaters gekämpft hatte, revidiert seine Aussage:
    "Ich bin gekommen, um Sie über eine Gewissensentscheidung im Prozess meines Vaters in Kenntnis zu setzen. Ich bin davon überzeugt, dass er Agnès Le Roux ermordet hat."
    Guillaume Agnelet wird vom Verteidiger zum Kronzeugen der Anklage. Er legt alles auf den Tisch, jedes perfide Detail. Die Mutter und der jüngere Bruder stehen zum Vater, sie erklären Guillaume für verrückt. Es wird schmutzig. Auf der Pressebank verfolgt Pascale Robert-Diard, seit 2002 Gerichtsreporterin für die französische Tageszeitung Le Monde, die Geschehnisse:
    "Was folgte, war ein einziger Knall. Eine Familie und ihre Geheimnisse zerbarsten live vor den Augen der Öffentlichkeit. Wir in den hinteren Reihen der Zuschauerbänke warteten nun darauf zu sehen, was die Explosion anrichten würde. An diesem Tag habe ich in den Abgrund geschaut."
    Noch ein Buch über diese Gruselgeschichte - ein gut erzähltes
    Vier Tage später, am 11. April 2014, verurteilt das Geschworenengericht Maurice Agnelet aufgrund der Aussagen seines Sohnes zu 20 Jahren Haft wegen Mordes an Agnès Le Roux. Der demnächst Achtzigjährige sitzt im Gefängnis; das Gericht hat jede weitere Revision abgelehnt.
    Damit war der Fall Agnelet nach fast vierzig Jahren eigentlich erledigt. Die Protokolle findet man in Archiven; es wurden Bücher veröffentlicht; der Regisseur André Téchiné hat den Fall einem Kinofilm zugrunde gelegt. Genug, sollte man meinen. Warum um Himmels Willen braucht die Welt noch ein Buch über diese Gruselgeschichte?
    Die kürzeste Antwort lautet: weil Pascale Robert-Diard sie brillant erzählt. Die Reporterin schreibt sachlich und dabei fesselnd, ist eine hervorragende Beobachterin und konzentriert sich auf den Sohn Guillaume Agnelet. Nach Prozessende nahm sie Kontakt zu ihm auf, nach mehreren Treffen schrieb sie ihr Buch.
    "Aus einer Nachricht wird eine griechische Tragödie"
    "Aus einer Zeitungsnachricht war eine griechische Tragödie geworden, die symbolische Ermordung des Vaters durch seinen Sohn. Und diese Geschichte wollte ich erzählen."
    Das Ergebnis ist eine konzentrierte Studie von 160 Seiten, die man in einem Zug wegliest. Robert-Diard interessiert sich nicht für den Jet-Set-Glamour des Falls; sie will die Familientragödie verstehen, die sich im Hintergrund abspielte. Psychologisch genau rekonstruiert das Buch die Beziehung zwischen einem charismatischen, manipulativen, Loyalität erpressenden Vater und einem Sohn, der drei Jahrzehnte schweigt und an der Mitwisserschaft fast zugrunde geht.
    Mit fünfzehn Jahren hört Guillaume erstmals von seinem Vater Maurice jenen Satz, den er danach nie mehr vergessen kann: "Solange sie die Leiche nicht finden, habe ich nichts zu befürchten. Und ich weiß, wo die Leiche ist."
    Je monströser eine Wahrheit ist, desto dringender das Verdrängungsbedürfnis; diese Eigenschaft der menschlichen Psyche hat ihre rettende und ihre toxische Seite:
    "Heute weiß ich, dass Geheimnisse einen eher umbringen als die Wahrheit", hatte Guillaume Agnelet vor Gericht erklärt, und man ahnt die abgründige Einsamkeit hinter diesem Satz.
    Den Weg Guillaumes in seine Verkapselung bis hin zum dramatischen Befreiungsschlag zeichnet Robert-Diard in ihrem Buch nach. Nicht umsonst lautet der Untertitel der Originalausgabe: "Die teuflische Spirale eines Familiengeheimnisses".
    Spannende, reflektierte Analyse über die Gerichtsbarkeit
    Hier gelingt Robert-Diard eine spannende Analyse. Die besondere Qualität des Büchleins aber verdankt sich der unaufgeregten, dabei empathischen Gerichtsreporterin: Robert-Diard ist eine Autorin, die ihre eigene Rolle und Gefühlsreaktionen stets mitreflektiert und kleine philosophische Exkurse einstreut. Dabei schöpft sie aus ihrer jahrelangen Erfahrung und erlaubt sich grundlegendere Reflexionen: über Strafprozess und Urteilsfindung, Wahrheit und Lüge, den Gerichtssaal als Ort, wo menschliche Dramen und intimste Details öffentlich werden.
    So liest sich dieser wahre Psychokrimi auch als kluges Essay über die Gerichtsbarkeit. Dabei weiß Pascale Robert-Diard durchaus um das Dilemma, dem auch ihr Buch über den spektakulären Fall Agnelet nicht entkommt: Es befriedigt unsere voyeuristische Seite, jene kitzlige Faszination an Verbrechen und Grausamkeit, von dem alle Justizdramen in Literatur und Film leben – am wirkungsvollsten, wenn sie "eine wahre Geschichte" erzählen.
    Autorin wahrt jederzeit den Respekt
    Doch der Autorin gelingt das Kunststück, den Respekt jederzeit zu wahren. Umso mehr mag man sich über die Aufmachung der deutschen Buchausgabe nun ärgern – mit einem Foto des realen Mörders auf dem Cover und dem effekthascherischen Titel "Verrat".
    Im Original lautet der Buchtitel nüchtern "Die Aussage". Kein Foto, kein Familienname. Es ist nicht zuletzt dieses Gespür für Ton und Stil, das die Gerichtsreporterin Pascale Robert-Diard auszeichnet.
    Pascale Robert-Diard: "Verrat. Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet". Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
    Paul Zsolnay Verlag: Wien 2017. 160 Seiten, 18 Euro.