Freitag, 29. März 2024

Archiv

Patarei
Festung mit düsterer Vergangenheit

Partys am Strand und relaxen im Liegestuhl: Wer im Schatten der estnischen Festung Patarei seine Freizeit verbringt, der entspannt auch im Schatten der Vergangenheit. Denn Patarei war nicht nur Marine-Festung des Zaren Nikolaus I., sie war vor allem eines: russisches Militärgefängnis.

Von Christoph Kersting | 19.02.2016
    Stockbetten im früheren Gefängnis Patarei, Tallin
    Stockbetten im früheren Gefängnis Patarei, Tallin (imago / Westend61)
    Schon wieder klemmt das Schloss, und Nikolaj Kask muss rohe Gewalt anwenden, um das rostige Eisentor schließlich doch noch aufzuschieben.
    Nikolaj steht jetzt in einer Art Vorraum des düsteren Gebäudes. Hier drinnen ist es genauso kalt wie draußen vor dem Tor; es riecht modrig, die Farbe blättert von den Wänden.
    Durch das löchrige Dach und zerbrochene Fenster ist die Ostsee leise zu hören. Das Meer ist nur 50 Meter entfernt. Auf der anderen Seite des Baus hat sich in den vergangenen Jahren der Stadtteil Kalamaja zum hippen Wohnquartier mit viel Glas und bunten Fassaden gemausert. Nikolaj drückt auf einen Lichtschalter und erzählt die Geschichte der Festung, die später Militär-Gefängnis wurde.
    "Patarei ist geplant und gebaut worden als russische Marine-Festung unter Zar Nikolaus I.. 1840 wurde der Bau fertiggestellt. 2000 Soldaten waren hier in der Regel stationiert. Es gab dann weitere Anbauten, nach Ende des Krimkrieges 1856 etwa. Und seit der ersten Unabhängigkeit Estlands im Jahr 1918 war Patarei das zentrale Stadtgefängnis von Tallinn."
    Die Deutschen nutzten die Seefestung dann vier Jahre lang als Arbeits- und Konzentrationslager, bevor das vier Hektar große Areal ab 1945 sowjetisches Militärgefängnis wurde. Es folgte nach 1991 das letzte Kapitel in der Geschichte des Stadtgefängnisses: 2002 wurde die Haftanstalt endgültig geschlossen, und Nikolaj Kask war der letzte Gefängnisdirektor.
    Würde jemand einen Film drehen wollen über Patarei – Nikolaj würde noch immer problemlos für die Rolle des Direktors gecastet mit seinem grimmigen, wettergegerbten Gesicht und der knarzigen Stimme.
    Auf den Spuren der Vergangenheit
    Nikolaj läuft über den Innenhof, vorbei an einer Reihe käfigartiger Außenzellen ohne Dach. Hier, erzählt der 68-Jährige, durften die Gefangenen einmal pro Woche an die frische Luft, auch bei zweistelligen Minusgraden. Das sei ein Gefängnis und kein Sanatorium gewesen, sagt Nikolaj halb ernst halb scherzhaft.
    Im Innern des Gebäudes dann leuchtet er die Gefängnisflure mit einer kleinen Lampe an seinem Mobiltelefon aus. Elektrisches Licht gibt es hier schon lange nicht mehr, dafür sind in vielen Zellen die Matratzen noch immer mit geblümten Laken bezogen.
    Im Krankentrakt stehen OP-Lampen, ein Zahnarzt-Stuhl und Schreibtische mit russischen, von Hand ausgefüllten Formularen darauf. Die Zellen waren eigentlich für 6 bis 8 Häftlinge ausgelegt – in der Theorie, sagt Nikolaj.
    "In so einer Zelle waren auch schon mal 18, 19, oder 20 Gefangene untergebracht. Da hinten, hinter der kleinen Mauer ist ein Abtritt. Die Zellen-Fenster auf der Meerseite hat man Ende der 70er-Jahre mit Stahlplatten dicht gemacht. 1980 waren ja die Olympischen Spiele, und in Tallinn fanden die Segelwettbewerbe statt. Man wollte verhindern, dass da irgendetwas nach außen dringt von den Häftlingen."
    Vom Gefängnis zum Museum
    Es geht weiter durch den "Transit-Bereich". Von hier aus wurden Gefangene zu Sowjetzeiten in sibirische Arbeitslager verschickt. Am Ende des Rundgangs steht Nikolaj tief unten in den feuchten Gewölben der alten Trutzburg vor einer Wand mit Einschusslöchern. In diesem Raum wurden Todesurteile vollstreckt - das letzte im Dezember 1991.
    Für den ehemaligen Gefängnisdirektor ist der düstere Bau ein Ort, der an die lange russisch-estnische Geschichte erinnert und darum erhaltenswert.
    "Keine Ahnung, wie es hier weitergeht. Es gab Pläne, dass hier die Kunstakademie einzieht. Aber das hat nicht geklappt. Meiner Meinung nach sollte in dem zentralen Gebäudeteil ein Museum errichtet werden, das die Geschichte der Festung dokumentiert. In den Anbauten können dann ja meinetwegen Restaurants oder ein Hotel entstehen. Platz gibt es jedenfalls genug."
    Einen Teil der zerfallenden Festung haben sich die Bewohner der Hauptstadt unterdessen schon zurückerobert: Im Sommer werden am ehemaligen Gefängnisstrand Partys mit Liegestühlen gefeiert.