Freitag, 19. April 2024

Archiv


Pathos der Wahrheit

Ein Sprung aus dem Fenster eines Gerichtsgebäudes machte Ludwig Lugmeier zu einem der meistgesuchten Männer Deutschlands. Zuvor hatte er bei einem Raubüberfall zwei Millionen Mark erbeutet. In seiner Autobiographie schildert er packend, wie er auf die schiefe Bahn geriet.

von Uwe Pralle | 13.12.2005
    "Guten Abend, meine Damen und Herren. Einer der beiden Angeklagten im Prozess um den größten Raubüberfall in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik, der 25-jährige Lugmeier, ist heute aus dem Frankfurter Gerichtsgebäude, wo gegen ihn verhandelt wurde, geflüchtet. Zusammen mit seinem Mitangeklagten Linden soll Lugmeier im Oktober 73 zwei Millionen Mark aus einem Transportwagen der Dresdner Bank geraubt haben."

    So meldete die Tagesschau am 4. Februar 1976, und der, von dem diese Meldung handelte, saß an jenem Abend selbst vor dem Bildschirm.

    "Nachdem ich aus dem Fenster gesprungen war, habe ich mich erstmal im Kino aufgehalten und mir einen sehr wilden Film angeschaut, der mir ziemlich lächerlich vorkam, und dann bin ich nach Nordweststadt in Frankfurt raus gefahren und musste mit dem Taxi weiter. Allerdings war der Taxifahrer nicht da, und so bin ich in das Haus rein gebeten worden von seiner Frau, und die ist dann in die Küche gegangen, war 20 Uhr, und hat Kaffee gemacht, während ich auf ihren Mann gewartet hab, und da ist die Tagesschau gekommen. Und da saß ich also vor dem Fernseher im Polsterstuhl und sie hantierte noch in der Küche rum, und dann kam mein Fahndungsphoto in der "Tagesschau", und ich weiß bloß, dass ich gehofft hab: Hoffentlich kommt sie nicht gerade jetzt herein. Kam mir furchtbar lange vor, dass das Bild gezeigt wurde."

    Nach dem spektakulären Sprung aus dem Fenster des Frankfurter Gerichts sah Ludwig Lugmeier
    sein Konterfei damals endgültig als das eines der von der Polizei meistgesuchten Männer Deutschlands durch die Medien gehen. Auf der Flucht zu sein, war für den 1949 gebürtigen Oberbayern aus Kochel am See nicht neu. In seiner Autobiographie "Der Mann der aus dem Fenster sprang" hat er den Weg jetzt ziemlich packend geschildert, der ihn früh auf die sprichwörtliche schiefe Bahn brachte.

    "Dieser Einbruch, den ich mit Vierzehn damals gemacht hab, das war zugleich auch so was wie ein Ausbruch für mich, denn das war der verbotene Raum, der sich dahinter geöffnet hat, und das war dieser Raum, den ich mir sehr magisch fast vorgestellt hab. Und in den wollte ich eintreten."

    In seiner Lebensbeschreibung geht Lugmeier mit sich keineswegs mit Samthandschuhen um. Weder stilisiert er sich zum Opfer bedrückender Verhältnisse noch überlässt er sich der Verlockung moralisierenden Räsonierens darüber, warum er durch erste Einbrüche mit dem Gesetz in Konflikt kam und seine Phantasien von einer abenteuerlichen Gegenwelt zum Alltag in der oberbayerischen Provinzenge ihn geradezu zielstrebig die Schattenzonen krimineller Milieus suchen ließen. Für solche nachträgliche Alibisuchen ist Lugmeier ein viel zu präziser – und übrigens auch guter – Erzähler. Manches an seiner erzählerischen Haltung zu sich selbst erinnert an den Ernst Jünger der "Afrikanischen Spiele".

    "Ich hab mich als Kind sehr, sehr eingeengt gefühlt, auf der einen Seite durch Kirche, durch Schule, durch mein Elternhaus, meinen Vater vor allem, meine Mutter stand eher dazwischen. Auf der anderen Seiten gab’s natürlich auch große Freiheitsräume, das waren sehr wilde Räume, das war das Moor, das waren die Wälder, in denen ich gerne war, das waren die alten Gestalten, die man heute kaum noch findet – ein Hirte, der bloß noch einen Arm gehabt hat, das war meine Großmutter, die sich da so als Dorfhexe ein bisschen Geld dazuverdient hat zu ihrer kleinen Rente. Das war eine Welt, die mich eigentlich angezogen hat. So waren da zwei Bewegungen, zwei Möglichkeiten, das eine, sich anzupassen und eben zu dem werden, was von mir erwartet wurde, und das andere, das war eine Welt, in der Impulse da waren, in der sich etwas schien öffnen zu können wohin ich wollte. Ich hab nicht genau gewusst, was das war. Da ist alles durcheinander gegangen, aber ich wollte jedenfalls nicht zu dieser anderen Welt gehören."

    Die beiden spektakulären Raubüberfälle auf Geldtransporter, 1973 in München und im folgenden Jahr in Frankfurt, waren die Höhepunkte und zugleich der Anfang vom Ende von Ludwig Lugmeiers eigenartig logisch wirkender krimineller Laufbahn. Nach weit über zehn Jahren unsteter Wechselspiele zwischen Gefängnisaufenthalten und weiteren Delikten, unterbrochen von Episoden im Zirkus und als Seemann, bis die großen Coups ihm ein mondänes Leben zwischen London und Mexiko, den Bahamas und Island erlaubten, immer auf der Flucht vor der Polizei, beendete 1977 die zwölfjährige Haftstrafe nach seiner Festnahme in Reykjavik Lugmeiers Ausbruch aus dem bürgerlichen Leben.

    "Nach meiner Verhaftung habe ich natürlich erst mal an die weiße Decke geschaut und gewusst: hier ist der Weg zu Ende, du kommst nicht mehr raus, du hast jetzt eine lange Zeit vor dir, eine Zeit, die so lang war, dass ich mir nichts darunter vorstellen konnte. Das hat ich glaub zwei drei Tage gedauert, dann hab ich diese andere Perspektive, die ja vorher schon da war, diese Linie in meinem Leben, das Schreiben, hab ich wieder aufgenommen und hab dann angefangen zu schreiben. Und natürlich hab ich gedacht, jetzt bist du achtundzwanzig Jahre alt, du hast sehr viel erlebt, jetzt wird’s Zeit, dass du deine Memoiren schreibst, und hab da auch festgehalten mehrere Jahre dran, hab dann ein Buch gehabt mit über vierhundert Seiten und dann einfach festgestellt: da ist nichts dabei, du hast über dich selbst nichts zu sagen. Das war wirklich eine Krise, weil ich auf einmal überhaupt keine Lebensperspektive mehr gehabt hab. Aber ich glaube, das war trotzdem ein wichtiger Prozess, den ich durchgemacht hab, denn ich hab unwahrscheinlich viel Müll abgeräumt, viel Sprachmüll, viel Nichtssagendes."

    In seinem Buch "Der Mann der aus dem Fenster sprang" erzählt Lugmeier von seinem Leben bis zur Verhaftung auf Island, während die langen Jahre der Haftstrafe bis 1989 ausgespart sind und die Zeit danach nur in einem knappen Epilog gestreift wird. Obwohl der Fokus so auf den spektakulären Teil seiner Vita gerichtet ist und das Buch auf den ersten Blick wie eine wohldosierte Mischung aus Zeithistorie und spannendem Kriminalroman wirkt, ist ihm anzumerken, dass Lugmeier den in solchem Genre üblichen Müll sensationsheischender Geschwätzigkeit schon früher abgetragen hat, um dieses sehr eindringliche und zugleich nüchterne Buch schreiben zu können. Genau genommen lässt sich daran sehr klar der Unterschied erkennen, der Literatur von den Selbstbeweihräucherungen vieler Pseudo-Promis in der Wachstumsbranche des medialen Narzissmus trennt und diesen Unterschied markiert das altehrwürdige Pathos der Wahrheit:

    "Ich möchte mich nicht selbst idealisieren, und ich möchte mir nicht freundliche, angenehme Motive unterstellen. Die mögen hin und wann mal da gewesen sein. Aber das war nicht das Wesentliche. Das ist auch, glaube ich, der Grund gewesen, weshalb ich so lang nicht darüber schreiben konnte. Es ist natürlich in der Zwischenzeit eine große Distanz dazu entstanden. Ich kann mich selbst gleichsam als Figur selbst sehen, und ich kann die Enge dieser Figur sehen, ich kann die Skrupellosigkeit dieser Figur sehen, auch das Doppeldeutige und Doppelgründige des Handelns."

    Wer Lugmeiers Buch aufmerksam liest, wird einiges von den Antriebskräften eines solchen Lebens erfahren, das in dem Maße, in dem es ein Abenteuerspiel war, jedenfalls nicht einer unheimlichen Komponente ermangelte.

    "Es ist auf alle Fälle ein Spiel, ganz sicher nicht "Mensch ärgere Dich nicht und nicht Mau-Mau, aber Russisch Roulett ist ja auch ein Spiel", sagt Lugmeier mit dezentem Hinweis auf die selbstzerstörerischen Potentiale in seinem früheren Leben. Dass er mit seinem Anteil an der Beute aus den Raubüberfällen die Spielcasinos zwischen London und Abaco fütterte, fügt sich in dieses Bild.

    "Also Weiterspielen selbst dann, wenn ich gemerkt hab, ich bin am Verlieren, aus dem Casino raus zukommen und mir zu sagen: du hast verloren und es führt alles ins Nichts und am besten gehst du in den Hyde Park und schießt dir eine Kugel in den Kopf, was ich dann natürlich nicht getan hab, um am nächsten Tag weiterzuspielen; also ich wollte im Grunde schon zerstören, was ich erreicht hatte."

    Um in seinem Buch bis zu den unangenehmen Wahrheiten vorzustoßen, hat Lugmeier paradoxerweise dieselben zerstörerischen Kräfte aufbieten müssen, nur dass sie in diesem Fall dazu geführt haben, einen Text literarischer Desillusion hervorzubringen.

    "So gesehen ist das natürlich auch mit einem Akt von Gewalt verbunden, denn Schreiben ist ein Gewaltakt, ein Gewaltakt gegen sich selbst. Man muss sich stellen. Es geht nur dadurch, dass man sich selbst angreift. Ich hab’s beim Schreiben immer wieder gemerkt, ich bin an Stellen gekommen, da ist es so unangenehm geworden und zum Teil auch so gefährlich, wenn ich mich in die Situation wieder reingedacht hab, dass mir mein alter ego weggebrochen ist und ich bin dagesessen und konnte nicht schreiben."

    Erst auf den zweiten Blick ist an Lugmeiers leiser und präziser Prosa zu erkennen, wie kompromisslos sein Rückblick auf den "Mann der aus dem Fenster sprang" tatsächlich ist. Tiefer als jedes moralisierende Lamento dringt diese Erzählung eines spektakulären Lebens in den Abgrund vor, wie seine erwartete Magie bereits zerfiel, noch während ihr nachgejagt wurde.

    "Im Grunde fing das schon in meiner frühen Jugend an, nachdem ich zum ersten Mal aus dem Gefängnis geflohen war, um nach Palermo zu gehen, dort die Mafia zu finden, um Mafioso zu werden. Ich hab einfach festgestellt: es gibt sie nicht, die Mafia, und es ist schlecht, ohne Geld in Italien zu sitzen und grüne Erdbeeren auf den Feldern zu essen", sagt Lugmeier, um mit Blick auf die Zeit, als er die Taschen voller Geld hatte, hinzuzufügen:

    "Die Bedrohung ist immer größer geworden, ich bin mir immer unsicherer geworden, was war das für ein Leben, was will ich überhaupt noch, alles bricht zusammen, also die Illusionen sind zusammengebrochen. Es war im Grunde ein Prozess der Desillusionierung, der anderthalb Jahrzehnte sich hingezogen hatte."

    Man kann gespannt sein, was von Ludwig Lugmeier noch zu lesen sein wird, der bereits 1992 den beachtlichen Roman "Wo der Hund begraben ist" vorlegte, nachdem ihn ein langer Umweg doch noch zur Literatur gebracht hat.

    Ludwig Lugmeier, Der Mann der aus dem Fenster sprang. Ein Leben zwischen Flucht und Angriff. 333 Seiten, Verlag Antje Kunstmann, München 2005, 19,90 Euro, auch als Hörbuch (3 CDs), vom Autor gelesen, Hörkunst bei Kunstmann, 19,90 Euro