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Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte“
Die verhedderten Fäden des Lebens entwirren

Jean soll für eine Agentur Informationen über eine gewisse Noëlle Lefebvre beschaffen. Viel findet er nicht heraus, aber noch Jahre später lässt ihn diese rätselhafte Person nicht los. Wieder einmal begibt sich Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano auf Erinnerungs- und Spurensuche.

Von Dina Netz | 18.02.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Patrick Modiano und das Buchcover seines Romans "Unsichtbare Tinte"
Patrick Modiano wurde 2014 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Das überraschte damals viele, denn Modianos innerliche Romane, in denen er um Erinnern und Identität kreist, waren bis dahin international eher ein Geheimtipp. (Cover Hanser Verlag / Portrait: Photo Catherine Hélie / (c) Éditions Gallimard)
Er schreibe immer schon "un peu le même livre" hat Patrick Modiano einmal eingeräumt, ein bisschen das gleiche Buch. Und der jetzt auf Deutsch vorliegende Roman "Unsichtbare Tinte" ähnelt Modianos früheren Büchern in der Tat stark. Der Ich-Erzähler heißt Jean, wie in vielen Texten Modianos.
Jean geht wie so oft auf die Suche nach den Spuren einer Person. Und wie immer gibt es einen Anlass für den Erinnerungsprozess. Häufig sind dies in Modianos Romanen Fotos, in diesem Fall eine Karteikarte in einer himmelblauen Mappe. Jean erhielt sie, als er selbst Anfang 20 war, in der "Agentur von Hutte" - das war offenbar eine Detektei, in der Jean eine Zeitlang arbeitete. Monsieur Hutte beauftragte Jean, nach Spuren einer gewissen Noëlle Lefebvre zu suchen. Jean, das Alter Ego Patrick Modianos, fand kaum etwas heraus. Wenig später beendete er seine Tätigkeit, nahm aber das Karteiblatt aus der Mappe mit. "Zur Erinnerung", wie er schreibt, wohl aber auch aus einem spontanen Impuls heraus, der auf den späteren Schriftsteller verweist:
"Ich hatte schon immer Spaß daran, mich ins Leben anderer einzuschleichen, aus Neugier und auch aus dem Bedürfnis heraus, sie besser zu verstehen und die verhedderten Fäden ihres Lebens zu entwirren – wozu sie selbst oft nicht imstande waren, denn sie erlebten ihr Leben aus allzu großer Nähe, ich dagegen hatte den Vorteil, bloß ein Beobachter zu sein oder vielmehr ein Zeuge, würde man in Juristensprache sagen."
Ringen und erinnern: bekannte Erzählelemente bei Modiano
Ganz so selbstlos, wie Jean es hier darstellt, ist sein Interesse am Leben anderer jedoch nicht. Seine Spurensuche ist immer auch eine nach Bruchstücken der eigenen Lebensgeschichte, ein fragendes Umkreisen der eigenen Identität. So ahnt man während der Lektüre von "Unsichtbare Tinte", dass der Erzähler irgendetwas zu tun haben muss mit der geheimnisvollen Noëlle Lefebvre, die sich Jeans Nachforschungen so beharrlich verweigert und deren geheimnisvolles Verschwinden ihn nicht loslässt. Auf welche Weise Modiano die beiden schließlich zusammenführt - das ist ein wirklich genialer erzählerischer Coup. Mehr sei hier nicht verraten.
Fast alle Elemente in diesem Roman kennt und schätzt man aus früheren Büchern Modianos: das mäandernde Ringen um Erinnerungsfetzen, die zunächst nur aus unzusammenhängenden Namen, Schauplätzen und Jahreszahlen bestehen. Das Springen zwischen den Zeitebenen, bis sich der Erzähler selbst zur Ordnung ruft und seine Erinnerungen chronologisch ordnet. Die genaue Verortung an Pariser Schauplätzen. Der sachte ansteigende Spannungsbogen bis hin zum furiosen Finale. Mit "Unsichtbare Tinte", die im Roman auch "magische Tinte" heißt, ist übrigens Geheimtinte gemeint, also eine Substanz, die erst sichtbar gemacht werden muss. Der Titel ist also nicht ganz glücklich ins Deutsche übersetzt.
Behutsam übersetztes Alterswerk
Elisabeth Edl hat ansonsten die tastenden, poetischen Sätze Modianos wie immer behutsam ins Deutsche übertragen: "Ja, die Erinnerungen kommen mit dem Kritzeln der Feder. Man darf sie nicht erzwingen, sondern muss einfach schreiben und dabei so wenig wie möglich streichen. Und im ununterbrochenen Strom der Wörter und Sätze steigen ein paar Einzelheiten, die man vergessen oder wer weiß warum in der Tiefe des Gedächtnisses vergraben hat, allmählich wieder an die Oberfläche. Sich auf keinen Fall unterbrechen, sondern beim Bild eines Skifahrers bleiben, der für alle Ewigkeit einen ziemlich steilen Hang hinabgleitet, wie der Füller über die weiße Seite. Später dann kommen die Streichungen."
Schöner kann man die Prozesse des Erinnerns und des Schreibens kaum schildern. Und dennoch - irgendwie fehlt diesem Roman die Dringlichkeit früherer Bücher Modianos. Vielleicht liegt es an der fehlenden Verortung in einer bestimmten, konkreten Zeit, deren Kolorit durch Jeans Erzählungen in anderen Romanen immer wieder aufschien. Vielleicht ist es auch der fehlende politische Hintergrund. Modianos voriger auf Deutsch erschienener Roman "Gräser der Nacht" zum Beispiel spielte während der Ben Barka-Affäre 1965 und warf Fragen zum Umgang Frankreichs mit seiner Kolonialgeschichte auf. Das machte Jeans damalige Spurensuche auch zu einem politischen Unterfangen. "Unsichtbare Tinte" dagegen hat etwas von einem Alterswerk: Alle Elemente, die Patrick Modianos Bücher auszeichnen, sind da, und sie sind gelungen. Vielleicht macht gerade das diesen Roman aber auch ein wenig langweilig.
Patrick Modiano: "Unsichtbare Tinte"
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag, München, 144 Seiten, 19 Euro