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Pau: "Hätte man neun Morde vielleicht verhindern können?"

"Der MAD wusste viel mehr über die militante Nazi-Szene und deren Akteure, als ich jemals vermutet habe", sagt Petra Pau, Obfrau der Linken im NSU-Untersuchungsausschuss. Sie sieht viel Gesprächsbedarf bei der heutigen Sitzung.

Petra Pau im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 08.11.2012
    Tobias Armbrüster: Der Ausschuss soll herausfinden, warum die deutschen Behörden sich so schwer getan haben bei der Aufdeckung der Terrorzelle von Zwickau. Das Treffen heute ist eine Sondersitzung, in der vor allem die Rolle des Militärischen Abschirmdienstes MAD beleuchtet werden soll. Im September war herausgekommen, dass der MAD in den 90er-Jahren den NSU-Mitbegründer Uwe Mundlos befragt hatte. Die entsprechende Akte war dem Ausschuss aber monatelang vorenthalten worden.

    - Am Telefon ist jetzt Petra Pau, sie sitzt für die Partei Die Linke im Untersuchungsausschuss. Schönen guten Morgen, Frau Pau.

    Petra Pau: Guten Morgen.

    Armbrüster: Frau Pau, ist die Bundeswehr auf dem rechten Auge blind?

    Pau: Also, ich war überrascht. Der MAD wusste viel mehr über die militante Nazi-Szene und deren Akteure, als ich jemals vermutet habe. Aber genau deshalb ergeben sich Fragen. Erstens: Was hat das Wissen des MAD in der Bundeswehr bewirkt? Und zweitens: Was hat das Wissen des MAD der Gesellschaft gebracht? Und Sie haben es eben schon gesagt: Wir haben über den Sommer mehrfach auch gefragt, gab es denn Gespräche mit Uwe Mundlos oder Herrn Böhnhardt – von dem wissen wir inzwischen, dass er nicht bei der Bundeswehr war – durch den MAD und wie ist man damit umgegangen. Und erst sehr zögerlich wurde dann bekannt, dass man sich mit Herrn Mundlos auch beschäftigt hat. Also hier stehen ganz viele Fragen heute auf der Tagesordnung.

    Armbrüster: Wie erklären Sie sich diese zögerliche Haltung beim MAD?

    Pau: Ich fürchte, dass das ähnlich ist, wie wir es in den Untersuchungsausschusssitzungen zum Verfassungsschutz gelernt haben, dass Quellenschutz immer vor Strafverfolgung geht. Wir haben am Wochenende lesen dürfen – und ich kann das nicht dementieren – in einer großen Tageszeitung, dass der MAD im Jahre 2000 dem Bundesamt für Verfassungsschutz einen 27-seitigen Bericht übergeben haben soll. In ihm habe es auch Hinweise auf das NSU-Trio und den möglichen Verbleib der drei gegeben. Die Frage ist: Was ist daraus geworden? Im Oktober 2000 hatte dieses Trio bereits drei bewaffnete Überfälle und einen Mord begangen und wurde steckbrieflich in der gesamten Bundesrepublik gesucht. Ich könnte es auch anders formulieren: Hätte man neun Morde vielleicht verhindern können, wenn man diesen Hinweisen nachgegangen wäre und die Informationen an die Strafverfolgungsbehörden gegeben hätte?

    Armbrüster: Aber ist es nicht ganz klar, dass in so einer Riesenbehörde wie der Bundeswehr oder auch beim MAD mal die eine oder andere Akte möglicherweise in der zweiten Reihe verschwinden kann?

    Pau: Also, Schlamperei kann es überall mal geben und wir sind alle Menschen. Allerdings: Ich habe mir gestern noch mal die Berichte der Wehrbeauftragten des Bundestages und dann auch der Nachfolger von ihr aus den 1990er-Jahren und den 2000er-Jahren angesehen. Und da wird schon deutlich, dass wir gerade Ende der 1990er-Jahre ein großes Problem mit Rechtsextremisten in den Kasernen hatten – so, dass das selbst in dem Bericht der Wehrbeauftragten an den Bundestag niedergeschrieben wurde. Und da stellt sich die Frage, wie sensibel ist man damit umgegangen.

    Armbrüster: Frau Pau, dieses Terrortrio hat auch jahrelang Jugendclubs besucht und sich dabei als offen rechtsextrem präsentiert. Dort hat auch niemand Alarm geschlagen. Wollen Sie diese Jugendclubs auch vorladen vor den Untersuchungsausschuss?

    Pau: Also, wir werden sicherlich nicht alle Sozialarbeiter und sonstigen Mitarbeiter der Jugendclubs hier hören. Aber die Frage stellt sich schon: Wie ist dieses Trio sozialisiert worden? Wie hat man darauf reagiert, dass Woche für Woche Konzerte stattfanden, in denen nicht nur schön geistig diskutiert wurde, sondern zum Mord an Migranten, an Polizisten, an Vertretern der demokratischen Parteien aufgerufen wurde? Das heißt: Wie hat man in der Gesellschaft einerseits reagiert, aber auch in den Institutionen? Das untersuchen wir weiter.

    Armbrüster: Frau Pau, wir haben gestern erfahren, dass schon wieder wichtige Akten beim Berliner Verfassungsschutz geschreddert wurden, Akten mit Informationen auch zur rechtsextremen Szene. Hat gerade die deutsche Hauptstadt ein Problem beim richtigen Umgang mit diesem Thema, mit dem Thema Rechtsextremismus?

    Pau: Also, leider reiht sich meine Heimatstadt Berlin hier in eine wirklich schlimme Serie von Schlamperei und ich hoffe nicht Vertuschung ein, weil das Wort "Pannen" kann ich gar nicht mehr hören, was in diesem Zusammenhang immer genannt wird. Wenn es denn stimmt, dass im Landesamt für Verfassungsschutz beziehungsweise in der Verfassungsschutzbehörde – ein Landesamt haben wir in Berlin ja gar nicht – ausgerechnet am 29. Juni 2012 Akten, die sehr wohl einen NSU-Bezug haben, vernichtet wurden, dann wirft das sehr viele Fragen auf.

    Armbrüster: Wenn Sie es nicht "Pannen" nennen wollen, Frau Pau, wie nennen Sie es dann?

    Pau: Also, entweder ist es totales Versagen oder aber – und das ist zu untersuchen – hier soll etwas verschleiert werden. Wenn das am 29. Juni passiert ist, dann müssen wir uns erinnern, dass am 28. Juni die Öffentlichkeit erfahren hat, dass es im vergangenen Jahr im Bundesamt für Verfassungsschutz, am 11.11.2011, die im Volksmund inzwischen genannte "Aktion Konfetti" gegeben hat, sprich Akten über den Thüringer Heimatschutz, Informanten aus dem Thüringer Heimatschutz, geschreddert wurden. Und dass bis zum Juli 2012 auch im Bereich des Bundesinnenministeriums Akten mit Bezug zur rechtsextremen Szene vernichtet wurden. Wie man an einem solchen Tag, einen Tag nach Auffliegen dieser schlimmen Aktionen, noch Akten mit dem Bezug zum Rechtsextremismus vernichten kann, erschließt sich mir überhaupt nicht. Ich hoffe, dass die Kollegen im Berliner Abgeordnetenhaus das in dieser Woche so weit untersuchen, dass wir darüber nur eine Bewertung abgeben müssen.

    Armbrüster: ..., sagt Petra Pau von der Linkspartei zur heutigen Sondersitzung des NSU-Untersuchungsausschusses. Vielen Dank, Frau Pau, für das Gespräch, und die schlechte Telefonqualität bitten wir zu entschuldigen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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