Freitag, 29. März 2024

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Paul Josef Cordes: Die verlorenen Väter - ein Notruf

Bis vor wenigen Jahren gab es stapelweise Bücher über Erziehung und Familie, auch die Literatur zu Frauen und Emanzipation verzeichnete ein ansehnliches Wachstum. Die Väter standen im Windschatten. Seit Mitscherlichs Klassiker 'Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft' kommt nun Licht in das Phänomen. In den USA ist der Stapel der Väterliterature bereits recht hoch, in Europa wird das Thema erst entdeckt. Als Einführung in die Gesamtthematik ist ein neues Buch zu empfehlen, das sich auch stark auf Erkenntnisse der Psychologie in Amerika stützt, aber auch weit darüber hinausgeht. Es stammt aus der Feder des in Rom lebenden deutschen Erzbischofs Paul Josef Cordes und hat den Titel "Die verlorenen Väter - ein Notruf". Der Autor ist zu uns ins Studio gekommen, besten Dank. Und die erste Frage soll sein: Sie zitieren zu Beginn Ihres Buches den Klassiker Mitscherlich 'Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft'. Sind wir da angekommen?

Jürgen Liminski | 12.08.2002
    Cordes: Alexander Mitscherlich hat dieses Buch schon 1963 geschrieben. Es war wie ein Schrei, und sicher ist viel darüber nachgedacht worden. Aber mir scheint, dass von dieser Zeit an das Bild des Vaters in der Gesellschaft immer noch schwacher geworden ist. Natürlich brauchen wir den biologischen Vater. Der ist ja nicht zu ersetzen, aber vielleicht tritt ein anderes Element des Vaters immer mehr in den Schatten: dass er nämlich Führer sein soll, dass er beschützen soll. Es gibt einen Trend, den Vater zur zweiten Mutter zu machen. Und das wäre höchst fatal, weil empirische Untersuchungen, biologische, anthropologische Forschungen darauf hinweisen, dass das Kind, um seine Identität zu finden, unbedingt den Vater braucht. Die Mutter ist gleichsam für das Kind ein zweites Ich. Nicht gegenüber der Mutter empfindet das Kind ein Du-Gefühl, sondern erst wenn der Vater in diese Beziehung eintritt. Wenn man also den Vater zur zweiten Mutter macht, dann versündigt man sich am Kind. Dann tut man etwas, was dem Kind zeitlebens Schaden zufügen wird.

    Das betrifft den innerfamiliären Raum, aber Mitscherlich sprach ja vor allem Dingen auch von der Gesellschaft als solcher. Fehlt uns da auch der Vater?

    Cordes: Der Vater ist natürlich durch seinen Beruf und durch seine Abwesenheit zwar existent, aber er wird nicht erfahren. Das war das Problem von Mitscherlich. Insofern haben Sie mich da auf den richtigen Weg zurückgeführt, dass die Väter durch ihre Berufsausbildung und durch ihre physische Abwesenheit den Kindern, den Heranwachsenden nicht mehr zur Verfügung stehen.

    Es ist auch ein Trend zu beobachten. Die älteren Herren kommen wieder, könnte man sagen - siehe die Neubesetzung bei großen Firmen, etwa Telekom, jetzt auch Bertelsmann; oder auch in der Politik - in Amerika wie in Europa selbst - fehlt jetzt das Patriarchalische, wovon wir uns eigentlich befreien wollen? Gibt es da eine Sehnsucht nach dem Patriarchen, der alles regelt?

    Cordes: In einem guten Sinne schon. Es gibt natürlich eine Furcht vor dem Patriarchen, der diktatorisch dazwischen greift und den Einzelnen nicht zu sich selbst kommen lässt. Aber den positiven Trend, den Patriarchen zu suchen, den Vater zu suchen, kann ich durchaus feststellen. Wenn ich mich umhöre: Sehr viele Leute haben Angst, und das ist ein Element, was uns mitgegeben ist, und es ist normal, dass jemand, der die Angst spürt, den Schutz sucht. Und ich denke mir, dass dieses Suchen des Patriarchalischen, des Väterlichen, daher rührt, dass wir uns ungesichert vorkommen. Der Papst ist jetzt gerade in Toronto gewesen. Es ist ja ein Phänomen, mit welchem Nachdruck junge Leute den Papst suchen, dem Papst begegnen wollen. Die Zahlen sind immer wieder neu phantastisch. Ein Politiker würde sich die Finger lecken nach solchen Möglichkeiten. Und die Suche nach dem Vater will mir ein Mittel in die Hand geben, das mich diese Angst relativieren lässt.

    Das hieße also - um mit Pascal zu sprechen: das Eigentliche der Macht ist ja die Beschützerfunktion -, dass dies die Sehnsucht ausmacht der Jugendlichen überhaupt, auch der Gesellschaft heute?

    Cordes: Davon bin ich überzeugt. Wir haben nicht von ungefähr Versicherungspaläste in allen Städten. Alles ist absicherbar, weil der Mensch eine solche Sorge hat um das Morgen und weil er immer versucht, dieses Morgen möglichst in den Griff zu bekommen.

    Ist denn das Vaterbild, das wir in Europa so lange Zeit gepflegt haben und vielleicht auch noch unbewusst weiter pflegen, etwas genuin Christliches? Cordes: Sicher nicht. Ich bin davon überzeugt, dass es eine natürliche Voraussetzung im Men- schen gibt, den Vater zu suchen und auch Vater zu sein. Allerdings muss man dann sagen, dass das Christentum sehr wesentliche Elemente in diese natürliche Veranlagung reingetragen hat, bis hin eben zur Benennung Gottes als unseres Vaters - eine unglaubliche Sache, die uns Jesus da offenbart hat. Ich sehe also in der Gestalt des Vaters schon eine Mischung zwischen natürlicher Veranlagung und göttlicher Offenbarung. Es ist ja interessant, dass andere Religionen - wie zum Beispiel der Islam - es niemals wagen würden, von Gott als dem Vater zu sprechen. Allah hat im Koran 99 Namen, aber es wäre ein großes Sakrileg, eine Beleidigung Gottes, ihn als Vater zu bezeichnen, weil sich Allah nie mit Schöpfung solidarisieren oder identifizieren wird. Wir haben also im Vaterbegriff Gottes etwas genuin Christliches, was wir auch zu schützen haben im Kontakt mit anderen Religionen, was wir uns nicht nehmen lassen dürfen, auch wenn ich befürchte, dass zunehmende Neutralität dieses Vaterbild Gottes verunklärt oder verschattet.

    Stört denn dieses christliche Vaterbild die Annäherung der Religionen. Wir beobachten ja das Phänomen, dass es entweder Annäherung gibt oder Konfrontation - und Huntington hat ja nicht umsonst sein Buch geschrieben -, also das Vaterbild scheint offenbar doch auch eine Frage des kulturellen Abgleichs zu sein?

    Cordes: Ich glaube, dass wir in vielen Elementen uns mit anderen Religionen solidarisieren können. Ich denke an den Buddhismus mit seiner Relativierung des Geschöpflichen, Relativierung der Leidenschaften. Da finde ich viele Elemente auch aus der christlichen Mystik. Ich denke an den Islam; dieses totale auf Gott setzen, was mich immer wieder fasziniert. Ein Mann wie Charles de Foucault, der große Franzose, Märtyrer, hat sich ja zum Christentum bekehrt durch die Begegnung mit dem Islam. Es gibt also sicher viele Elemente, die uns hellhörig machen können, die uns Elemente in unserem Glauben neu erschließen können. Aber mir scheint, dass die Annäherung an die Religionen irgendwo dann auch immer zu ihrer Grenze kommt. Ich denke mir, wir sollten für die Begegnung mit anderen Religionen nicht die schwierigen Punkte heraussuchen, sondern die vielen anderen Möglichkeiten zur Zusammenarbeit: Frieden zu schaffen in Afghanistan oder in Pakistan, oder Aus- gleich in Indien. Da gibt es also viele andere Möglichkeiten, die nicht in der Mitte unseres Glaubens ansetzen, sondern in anderen relativen Wahrheiten unseres Glaubens, die ich auch zur Diskussion stellen könnte.

    Ist Ihr Buch ein Band gegen die Emanzipation? Wir reden ja viel über Vater, Schutzfunktion des Vaters; da würden doch einige Frauen sagen: Brauchen wir alles nicht mehr.

    Cordes: Ich habe einen anderen Kronzeugen oder eine andere Kronzeugin häufig in der Publikation zitiert, eine Frau aus den Vereinigten Staaten, Susan Faludi. Sie ist eigentlich eine der Vorreiterinnen der Emanzipation gewesen, hat Anfang der neunziger Jahre ein sehr wichtiges Buch geschrieben, und sie will dann Ende der neunziger Jahre mit ihrer Publikation 'Stiffed' Bilanz ziehen für die USA zu den Folgen der feministischen Bewegung. Und sie kommt zu dem Ergebnis in einem 65o Seiten dicken Buch, in dem also pausenlos Reportagen zitiert werden. Es ist also nichts am Schreibtisch Erfundenes, sondern wirklich ein Reflex auf das Leben. Sie kommt zu der Konsequenz: Eine schlimme Folge der Emanzipation ist der Ausfall der Väter für die Söhne. Und wenn ich dieses Buch geschrieben habe, dann eigentlich, weil es da einen gesellschaftlichen Trend gibt, auf den aufmerksam zu machen ist. Ich glaube, daß die Frauenemanzipation den Frauen vieles gebracht hat und dass sie sehr positive Früchte gezeitigt hat. Aber wie das nun einmal ist bei solchen Entwicklungen: Es besteht immer die Gefahr, dass etwas überschwappt, dass das Pendel zu weit ausschlägt. Und das Pendel sozusagen in der Mitte zu halten - nach der Frauenemanzipation - war der Sinn dieses Buches.

    Sie zitieren eine Reihe von Philosophen, öfters auch Sören Kierkegaard. Welcher Philosoph hat Ihrer Meinung nach die prägnantesten Aussagen über Väter und Vaterschaft in Europa verfasst?

    Cordes: Da tue ich mich sehr schwer, einen herauszuheben. Am meisten beeindruckt hat mich Sören Kierkegaard, weil er selbst eine sehr verschattete bedrückte Beziehung zum leiblichen Vater hatte und von daher immer gelitten hat an seiner eigenen Vatererfahrung, weil er zweitens möglicherweise irgendwann - wie er schreibt - in einem Augenblick des Leichtsinns zum Vater geworden ist und in Kopenhagen die Straßen durchlaufen ist, um jemanden zu finden, der möglicherweise sein Kind sein könnte, und weil er drittens so berührt war von der Beziehung zwischen Abraham und Isaak. Er hat eine sehr bewegende Studie zu dieser Vater-Sohn-Beziehung gemacht, in der es ihm aber nicht um den Vater bzw. den Sohn ging, sondern um das, was in dieser Beziehung zum Ausdruck kommt, nämlich die Güte des Vaters im Himmel.

    Das war Paul Josef Cordes über sein Buch "Die verlorenen Väter", erschienen bei Herder in Freiburg, Basel und Wien. Das Buch hat 176 Seiten und kostet 14,90 Euro.