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Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik

Die Reformnotwendigkeit in Deutschland wird meist bezogen auf Arbeitsmarkt, Sozial-Sozialsysteme oder Tarifverträge. Hinter der Reform aber steht die Frage: Wohin soll sie den Menschen führen? Bringt sie mehr Freiheit, mehr Freundschaft unter den Generationen, wie es der neue Bundespräsident gestern formulierte? Die Frage ist uralt. Schon Aristoteles sah die Freundschaft als Band der Gesellschaft und sein zeitgenössischer Widersacher, der Sophist Thrasymachos, sah dagegen die technische Durchsetzbarkeit als einzigen Wert der Gesellschaft an. Der Historiker und Kultursoziologe Paul Nolte sucht in seinem Buch "Generation Reform" die Vereinbarkeit zwischen Fortschritt und Freundschaft, zwischen Solidarität und Innovation.

Rezensent: Günther Müchler | 24.05.2004
    Wenn die Zeichen nicht täuschen, dann sammelt sich eine neue Generation in Deutschland. Als eine "Generation Reform" erhebt sie den Anspruch, nicht beiseite zu stehen, sondern sich einzumischen und Verantwortung zu übernehmen für eine veränderte Republik. Denn es ist ihre Überzeugung, dass die Bundesrepublik Deutschland in eine tiefe Krise hineingeraten ist, aus der die bisherigen Rezepte, der etablierten Verhaltensmuster älterer, aber auch jüngerer Generationen nicht mehr heraushelfen. Es ist ihre Überzeugung, dass Revolutionsmacherei so falsch ist wie der bequeme Rückzug in die unpolitische Privatheit von Konsum und Selbstverwirklichung.

    Diese Sätze stammen nicht aus einer Regierungserklärung. Sie stammen aus der Einleitung eines neuen Buches, das den Titel "Generation Reform" trägt, Untertitel "Jenseits der blockierten Republik".

    Autor ist Paul Nolte, ein junger Geschichtsprofessor von der 'International University Bremen’, der, sieht man über den gelegentlichen hervorscheinenden Hang zu pathetischer Überzeichnung hinweg, ein spannendes Buch geschrieben hat. Man legt es nicht so leicht aus der Hand, und die oft zu stellende Frage, ob die Welt nun auch noch auf dieses Druckerzeugnis gewartet hat, kommt bei der Lektüre erst gar nicht auf. Womöglich ist 'Generation Reform’ das wichtigste gesellschaftskritische Buch der letzten Jahre.

    Was zu allererst aufhorchen lässt, ist der optimistische Grundton. Den findet man selten in einer Zeit, in der alles auf Moll gestimmt zu sein scheint, in der die Regierung ratlos, die Opposition mutlos, das intellektuelle Milieu sprachlos und das Volk offenbar bereit ist, sich widerstandslos mit allem abzufinden.

    Nun also kommt ein Intellektueller daher, schreibt ein Buch über die Zeitläufte, ohne Jammerton, ohne billige Verdammung der Globalisierung, ein optimistisches Buch, versehen mit dem Mehrwert, den ein gutes Buch haben muss: Das es auf den Begriff bringt, was auf der Hand liegt.

    Dabei ist es kein schönfärberisches und vor allem kein konformistisches Buch. Es ist so wenig konformistisch, dass es sogar darauf verzichtet, die Parteien und das politische Per- sonal insgesamt als allein zuständig für Krise und Niedergang zu brandmarken:

    Wir klagen über politischen Stillstand, über die Unfähigkeit zum Wandel, über die blockierte Republik. Aber die Schuldigen sind nicht einfach in der politischen Klasse zu suchen. Vielmehr blockiert sich eine Gesellschaft zunehmend selber, die Angst vor dem Wandel hat, die an alten Denkstrukturen und Institutionen festhält, die sich als eine 'Equilibrium-Gesellschaft’ wohl fühlt: Alles muss sich stets in Ausgleich und Balance befinden. Auf diese Weise kann sich aber überhaupt nichts mehr verändern.

    Wie konnte es zu dieser Selbstblockade kommen? Hier richtet sich von selbst der Blick auf das von Nolte gewählte Bild der Generationenfolge. Am Anfang standen die 68-er, sturmerprobt, tätig bis gewalttätig, ein Aufstand der Jungen gegen die Alten, nach dem Textbuch der Super-Oldies Karl Marx.

    Es folgte die von Florian Illies gekürte 'Generation Golf’ mit ihrem Individualismus und Hedonismus und ihrer politischen Apathie. Die nunmehr gealterten 68-er mussten ihre Haut gegen die nachkommende Generation nicht verteidigen:

    Im Gegenteil, sie haben sich auf eine heimliche Symbiose mit ihr eingelassen. Die unpolitische Jugend überließ ihr das Feld der Macht; ein neuerlicher Marsch durch die Institutionen, der die Marschierer von einst hinweggefegt hätte, war nicht zu erwarten. Das verlieh ihr das Gefühl einer Sicherheit der eigenen Machtstellung, die man dieser Generation bis heute anmerkt. Aber die Symbiose ging noch weiter. Sie lässt sich als grundlegende Übereinstimmung in einem Projekt des gesellschaftlichen laissez-faire beschreiben, eines laissez-faire, das von den 68-ern freilich ursprünglich anders gemeint war, als es dann von ihren Kindern, vielleicht auch zunehmend von ihnen selbst, verstanden wurde. An die Stelle der Liberalisierung trat Gleichgültigkeit und Belanglosigkeit.

    Aber die Grünen? - wird man einwenden. Das Aufkommen der Grünen hält Nolte für historisch notwendig, doch wirft er den Jüngern der einstigen Öko-Partei vor, ihre Einsichten in Pessimismus und Lethargie umgeformt zu haben:

    Dynamik und Innovation galten als verpönt; jede Baustelle mit mehr als zwei Kränen und Betonmischern wurde jetzt argwöhnisch beobachtet. Die westdeutsche Gesellschaft zog sich in ein Schneckenhaus zurück und glaubte, dort von der Substanz leben zu können.

    Für diese Mentalität wählt Nolte die Rumpelstilzchen-Metapher. Bekanntlich bestand die besondere Kunstfertigkeit dieser Märchenfigur darin, aus Stroh Gold zu spinnen.

    Sechs Illusionen sind es, die nach Nolte das Rumpelstilzchen-Modell beinhaltet, sechs Stereotype wie zum Beispiel:

    Angesichts der Grenzen des Wachstums lohnen sich Investitionen und Dynamik ohnehin nicht mehr.

    Oder:

    Die Entscheidung für Familie und Kinder ist eine reine Privatsache.

    Oder:

    Liberalisierung heißt Bindungslosigkeit und laissez-faire.

    Für eine ganz spezielle Illusion hält Nolte die Vorstellung vom Ende der Arbeitsgesellschaft,
    die nirgendwo so viel Anklang gefunden habe wie in Deutschland; die Vorstellung also, dass
    Arbeit nicht vermehr werden könne und deshalb besser verteilt werden müsse:


    Im Rückblick mutet es geradezu aberwitzig an, dass ausgerechnet in der Zeit einer tiefen Struktur- und Transformationskrise gesellschaftliche Anstrengungen zu ihrer Überwindung nicht vermehr wurde, sondern sich ein großer Teil der Gesellschaft auf die konkrete Zielvision immer kürzerer Arbeitszeiten einließ. Nach den 35 Stunden waren die 3o, dann die 25 Stunden wöchentliche Arbeitszeit bereits fest ins Visier genommen, und die Lebensarbeitszeit schrumpfte obendrein noch zusammen.

    Nach dieser Anmerkung kommt der nächste Gedanke Noltes vielleicht etwas überraschend. Wir befinden uns in einer Klassengesellschaft, schreibt er, und ruft sogar zu einem neuen Klassenbewusstsein auf. PDS-Leser werden an dieser Stelle wahrscheinlich erwartungs-froh aufseufzen, doch was dann kommt, ist kein Griff ins Ideen-Antiquariat. Vielmehr ist die neue Klassengesellschaft, die Nolte meint, mehr durch kulturelle Verwerfungen als durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit gekennzeichnet.

    So zeichnet sich nach ihm die neue Unterschicht etwa dadurch aus, dass ihre Angehörigen Konsumenten von Privatfernsehen sind, Opfer von Fehlernährung und Bildungsferne. Mit Besitz und Kapitalmacht hat das wenig oder nicht vorrangig zu tun. Schließlich könne man ja auch anderes sehen als RTL, und der Big-Mac ist keine Armenspeise:

    Jede zu Hause zubereitete Mahlzeit aus Kartoffeln und Gemüse, aus Vollkornbrot und Käse ist billiger zu haben als die Dauerernährung in Imbissbude und Schnellrestaurant, die vielen Kindern der Unterschicht zugemutet wird.

    Wer wollte dem Autor hier widersprechen? Auch die Feststellung, mehr Geld führe nicht automatisch zu mehr Bildungskonsum, ist plausibel:

    Benachteiligung äußert sich weniger als Mangel an Geldressourcen, eher als Mangel an kulturellen Ressourcen, als Sozialisation in spezifische Lebensweisen, Verhaltensformen und Konsummuster hinein.

    Diese, nennen wir es Klassenfalle, zu sprengen, ist offenkundig schwer. Kulturen der Marginalität haben sich herausgebildet, verfestigt. Kein materieller Anreiz führt aus ihnen heraus, auch kein Werte-Impetus. Denn: Die Welt der bürgerlichen Werte existiert nicht mehr. Der Historiker Nolte blendet an dieser Stelle zurück in die Geschichte der Arbeiterbewegung und der 'alten’ Klassengesellschaft. Für die Industriearbeiterschaft des 19. Jahrhunderts gab es ein Leitbild, die Kulturwelt des Bürgertums. Arbeiterbildungsvereine vermittel- ten dieses Leitbild und versuchten mit Erfolg, die Arbeiterschaft an dieser Welt heranzuführen. Dieser, wie Nolte schreibt, "produktive Nachahmungs- und Integrationsprozess" fällt heute als Treibriemen aus. Die Ursachen sieht Nolte gesamtdeutsch akkumuliert, einerseits in der gewollten Entbürgerlichung der DDR, andererseits im Wirken der westdeutschen Bürgerkinder, die 68 gegen die Bürgerlichkeit auf die Barrikaden gingen:


    Die Diskreditierung bürgerlicher Werte und Kulturformen durch die 68-er trägt in einem eher vermittelten, komplizierten Sinne eine Mitschuld am Verlust eines bürgerlichen - oder allgemeiner gesagt: eines nach oben, am Aufstieg orientierten Leitbildes in den Unterschichten.

    Bis hierher klingt das alles ziemlich defätistisch, ist aber nicht so gemeint. Heilung setzt vernünftige Diagnose voraus. Und Note belässt es nicht bei der Diagnose. Er will die zertrümmerten Leitbilder wieder aufrichten und fischt nach den Scherben in den geistigen Reservoirs der großen politischen Lager. Am ehesten fündig wird, so meint er, die 'Generation Reform’ im Reservoir der Konservativen, oder genauer: im Gedankengut eines modernen Konservatismus.

    Nolte enumeriert fünf Eckpunkte eines neuen konservativen Profils: Religiöse Fundamente in einer postsäkularen Welt; Eindämmung der Ego-Gesellschaft; Subsidiaritäts- und Netzstrukturen; Identitäten und Identitätsräume; Maßhalten und Machbarkeitsprinzip.

    Dreh- und Angelpunkt ist für den Autor dabei der Begriff der 'Verantwortung zur Veränderung’. Das Abbremsen des Modernisierungsdrucks reiche nicht mehr aus, schreibt er. Dieser klassisch-konservative Impuls müsse zur 'reflektierten Modernisierung’ erweitert werden, oder zu einer 'verantwortlichen Veränderung’. Religiöse oder transzendentale Wertmaßstäbe seien hierbei nicht zwingend, wohl aber hilfreich.

    Nolte hat das Buch flüssig geschrieben. Nicht überall ist es logisch stringent, mitunter nimmt der Gedankenflug eine abrupte Wende. Aber das Buch ist anregend, und weil es unkonventionell und klug ist, wird auch derjenige die Lektüre genießen, der Noltes Blickrichtung nicht uneingeschränkt teilt. Es ist ebenso eine Gesellschaftsskizze wie ein Wegweiser aus der Krise. Aber der Gebrauchswert des Buches geht noch darüber hinaus: Lesen kann man es auch als Architektur einer schwarz-grünen Zukunftspartnerschaft.

    Das war Günter Müchler. Er besprach das jüngste Buch von Paul Nolte: "Generation Reform - Jenseits der blocklierten Republik" erschienen ist der 256 S. starke Reader in der Beck’schen Reihe des C.H.Beck Verlags in München, und er kostet 12 Euro 90.