Dienstag, 23. April 2024


Pazifistischer Patriotismus

Deutschland hatte es nicht leicht mit mir. Noch Jahre nach der Einheit verweigerte ich meinem Land die Nennung - es klang wie Doitschland. Bundesrepublik - das klang erfolgreich, saturiert und berechenbar.

Von Thomas Brussig | 26.09.2006
    Mit der deutschen Einheit wurde aus Deutschland ein Recke. Was macht ein erwachender Recke? Er streckt die Glieder, spielt mit den Muskeln und entdeckt seine Kraft. Das geht bekanntlich am besten beim Kaputtmachen. Ich war gegen die deutsche Einheit, weil ich fürchtete, dass Deutschland da weitermacht, wo es zuletzt aufhören musste. Schon das Wort "Wiedervereinigung" fand ich verdächtig. Wenn es ein Deutschland in den Grenzen von 1990 nie zuvor gab, was bitte ist denn dann an dieser Vereinigung das Wieder? Sollte das etwa noch kommen, das Wieder?

    Die Antwort gab die Zeit. Seit 1990 sind ein paar Jahre vergangen, und auf eines konnte ich mich immer verlassen: auf unsere Harmlosigkeit. Dank ihr kann ich das Wort Deutschland in den Mund nehmen, ohne hackenknallende Assoziationen. Ich bin gerne Deutscher und egal in welches Land es mich verschlägt, sage ich es auch gern. Unser Ansehen in der Welt ist sensationell. Deutsche Technik funktioniert, Entwicklungshilfe geben wir gern, im Umweltschutz sind wir vorbildlich, am Reiseweltmeister verdienen alle irgendwie, mit Unilateralismus haben wir nichts zu tun, und weder im Irak-Krieg noch in Abu Graib waren Deutsche dabei. Deutsche Außenpolitik hat etwas von Einschaltquote: Wir senden nur, was gefällt. Und was auf Ablehnung trifft, wird nach einem Piloten aus dem Programm genommen.

    In diesem Jahr ist viel über einen neuen Patriotismus gesprochen worden. Gibt es ihn? Brauchen wir ihn? Und was ist das überhaupt?

    Begriffe wie Patriotismus, Vaterlandsliebe, Heimatliebe mag kein moderner Mensch mehr anfassen. Diese Begriffe sind geschunden, missbraucht - und durchschaut. Doch da diese Begriffe starke und authentische Gefühle ausdrücken, lassen sie sich nicht einfach abschaffen. Zugehörigkeit oder Verbundenheit sind moderne, behutsame und vor allem unschuldige Worte für das gleiche Phänomen.

    Der alte Patriotismus ist tot, endgültig. Jetzt ist etwas da, das diese Leerstelle besetzt. Es ist ein neuer Patriotismus. Neuer Patriotismus heißt: nicht der alte. Ein anderer. Denn der alte Patriotismus lebte in einem Deutschland, das es nicht mehr gibt. Der heutige Patriotismus unterscheidet sich vom alten Patriotismus in dem Maße, wie sich das heutige Deutschland vom alten unterscheidet. Und wenn ich das geklärt habe, kann ich der Versuchung kaum widerstehen, mit mir einen Patrioten auszurufen.

    Ich fühlte mich als Deutscher ausgesprochen wohl, ich war fast sogar stolz darauf, Deutscher zu sein, als sich Schröder dem Irak-Krieg verweigerte. Und die Fußball-Weltmeisterschaft, bei der ich zum ersten Mal fröhlich die deutsche Fahne schwenkte und ebenso fröhlich in den Farbtopf griff, um mir Schwarz-Rot-Gold ins Gesicht zu schmieren, war ein Fest - und kein Feldzug wie der Sommer 1914, als vermutlich zum letzten Mal eine solche Deutschlandseligkeit grassierte. Mich selbst betrachtend und in -ismen sprechend halte ich mal fest: Der Pazifismus ist ein konstitutives Element des neuen Patriotismus.

    Wären es deutsche Soldaten, die die Bilder von Abu Graib produziert hätten - ich hätte mich geschämt. Und nicht nur ich. Wären es unsere Soldaten, säßen uns die Bilder so in den Knochen, dass an einen neuen Patriotismus nicht zu denken wäre. Umgekehrt kann der neue Patriotismus auch in pazifistischen Bahnen einen selbstbewussten Ausdruck finden. Wer behauptet denn, dass Nicht-Beteiligung an Militäreinsätzen gleichbedeutend ist mit globaler Verantwortungslosigkeit, mit Gleichgültigkeit am Weltgeschehen? Wie wäre es, wenn wir mit den Mitteln, die andere Länder in Militäreinsätze stecken, in armen, aber halbwegs stabilen Staaten in großem Stil deutsche Schulen und deutsche Universitäten gründen? Bildung ist ein Garant für Prosperität. Auf eine Million Menschen eine deutsche Schule - das wäre doch ein Ziel. Und wenn die Eliten in den Entwicklungsländern schon früh eine Bindung an Deutschland haben, dann freut das irgendwann auch die deutsche Wirtschaft.

    Zurück zur Realpolitik. Die gibt den Außenposten unserer Kultur- und Bildungsarbeit, nämlich den Goethe-Instituten zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Schade. Denn das friedfertige Sendungsbewusstsein des neuen Patriotismus haben die Goethe-Institute schon immer praktiziert, und was wir Neuen Patriotismus nennen, war für Goethes Gründungsimpuls und fortlaufendes Selbstverständnis. Dass das Grundgesetz das Zeug zum Exportschlager hat, sagte Jutta Limbach, die Präsidentin der Goethe-Institute schon lange vor unserer Patriotismus-Debatte.

    Über eins sollten wir uns im Klaren sein: Der neue Patriotismus löst keines unserer Probleme. Er kann uns allenfalls in die Lage versetzen, unsere Probleme neu und anders zu betrachten. Das Argument, dass es eine "Schande für Deutschland" ist, wenn zum Beispiel jedes Jahr tausende Spitzenkräfte das Land verlassen, weil sie hierzulande keine Chance sehen, hat natürlich nur dann eine Kraft, wenn es uns weh tut, dass Deutschland ein Ort der Schande ist.


    "Helden wie wir", sein Wende- und Schelmenroman, machte den 1965 in Ost-Berlin geborenen Thomas Brussig 1995 schlagartig bekannt. Dem Bestseller ließ er die Vorlage für Leander Haußmanns Film "Sonnenallee" folgen, zu dem er auch das Drehbuch schrieb. Brussig, der auch Dramaturg ist, war Ko-Autor des Regisseurs Edgar Reitz für den dritten Teil von dessen Heimat-Trilogie.

    Denkt er an Deutschland, fällt Thomas Brussig Rio Reisers "König von Deutschland" ein.