Donnerstag, 25. April 2024

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Peggy Parnass
"Ich bin liebessüchtig"

In Peggy Parnass Autobiografie "Kindheit" verarbeitet die Autorin ihre düsteren und schmerzvollen Erinnerungen an das Dritte Reich. Begleitet werden ihre Erzählungen von den leuchtend-bunten Illustrationen der brasilianischen Künstlerin Tita do Rêgo Silva, die die düstere Stimmung bisweilen betont, aber auch vertreibt.

Peggy Parnass und Tita do Rêgo Silva im Gepräch mit Ute Wegmann | 21.03.2015
    Die Publizistin Peggy Parnass posiert am 6. Januar 2014 in Hamburg beim Neujahrsempfang des "Hamburger Abendblatt" im Hotel Atlantic.
    Die Publizistin Peggy Parnass. (picture alliance / dpa / Angelika Warmuth)
    Ute Wegmann: Jedes Jahr werden von der Stiftung Buchkunst die 25 schönsten Bücher prämiert. Dabei zählt vor allem die Gestaltung. Im Jahr 2013 gehörte zu diesen 25 "Kindheit", ein Text von Peggy Parnass aus den 80er-Jahren mit Bildern der brasilianischen Künstlerin Tita do Rêgo Silva.
    "Ich will mitten drin sein, genau hinsehen, Partei ergreifen. Nicht in der Distanz erfrieren."
    Das sagte Peggy Parnass vor drei Jahrzehnten und das war sie auch, mittendrin im Nachkriegsdeutschland, von 1970 bis 1987 als Gerichtsreporterin, als Kolumnistin für die linke Zeitschrift "konkret", als Schauspielerin, als Journalistin, die kein Blatt vor den Mund nahm.
    "Offenheit ist unsere einzige Chance", fügte sie dem Gesagten (in einem Vorwort zu ihrer Textsammlung aus dem Jahr 1983 mit dem Titel "Unter die Haut") hinzu, "sonst können wir uns die Finger plattschreiben, ohne das es was nützt."
    Diese im Ton so frischen Texte und Meinungen zu Politik, Sexualität, Frauenthemen und zum Naziregime habe ich gern gelesen. Arbeit, so scheint es, stand für Peggy Parnass immer an oberer Stelle, aber auch immer im Sinne des Kampfes für die gute Sache. Sie wollte etwas bewegen.
    Das miteinander Reden war ebenso wichtig wie das miteinander Lachen, die Gleichberechtigung ebenso wichtig wie die Gerechtigkeit. Sie wollte das Schweigen über den Holocaust brechen und hat sich dafür eingesetzt, dass Verantwortliche bestraft werden.
    "Unter die Haut" heißt eine Textsammlung aus dem Jahr 1983. Unter die Haut geht vor allem der erste Text: "Kindheit. Wie unsere Eltern uns vor den Nazis retteten" Hier erzählt Peggy Parnass von ihrer Kindheit in Hamburg.
    Assoziativ, liebevoll und lakonisch, in der ersten Person geschrieben, manchmal fast kindlich anmutend, erinnerte sich die erwachsene Frau an die Geborgenheit der Familie, aber auch an den Albtraum, der begann, nachdem die beiden Geschwister das Land verlassen hatten, um in Schweden in Pflegefamilien oder im Waisenhaus auf das Kriegsende zu warten. Peggy Parnass thematisierte auch ihren Hass gegen autoritäre Personen, ihren Wunsch nach Rache, vor allem aber, dass diese Wunden nie verheilen.
    Drei Stolpersteine erinnern in der Methfesselstraße in Hamburg an die Eltern, den Polen Simon Parnass und die Halbportugiesin Hertha Parnass, beide im Vernichtungslager Treblinka von den Nazis ermordet. Der dritte Stein steht für die Liebe, die sie verband.
    Peggy Parnass und die Künstlerin Tita do Rêgo Silva sind heute die Gäste im Büchermarkt. Peggy Parnass, hatten Sie nie den Wunsch Schriftstellerin zu werden?
    Parnass: Doch schon als Kind. Schriftstellerin und Schauspielerin.
    Wegmann: Aber fiktive Text haben Sie nie verfasst. Es sind ja nur reale Texte?
    Parnass: Nur reale. Ich seh überhaupt keinen Grund, irgendetwas zu erfinden, weil das Leben spannend genug ist. Spannender als alles, das ich mir ausdenken könnte. Das reicht.
    Wegmann: Sie schrieben einst, sie sind staatenlos geboren und Schwedin geworden. Aber im Herzen sind Sie doch durch und durch Bewohnerin des St. Georg-Viertels, eine Hamburgerin oder eher eine Europäerin?
    Parnass: Europäerin. Oder Weltbürgerin.
    Wegmann: Sie haben auch in einem Text unterschieden zwischen Verwandten und Wahlverwandten. Die meisten Verwandten sind ermordet. Wurden die Freunde Wahlverwandte und standen somit für Heimat und ein Zuhause?
    Parnass: Es sind um die 100 nahe Verwandte ermordet worden: Eltern, Großeltern, Tanten Onkel, Cousins, Cousinen. Und die Menschen, die die Wahlverwandten wurden, also meine Freunde, die mussten alles ersetzen. Und waren sicherlich damit sehr überfordert.
    Wegmann:In Ihrem Text "Kindheit", der auch auf der monatlichen Bestenliste des DLF war, da heißt es zu Beginn: "Ich hatte keine Kindheit", und an anderer Stelle: "Ich war uralt als Kind". Sie mussten früh viel Verantwortung übernehmen, für sich und den Bruder sorgen. Sie waren elf Jahre alt, als sie nach Schweden geschickt wurden mit ihrem Bruder.
    Parnass: Er war vier!
    "Eine bleibende, unauslöschliche Liebe"
    Wegmann: In "Kindheit" gibt es aber neben allem traurigen auch viele schöne Erinnerungen, vor allem an die Liebe zwischen den Eltern und an die Mutter. Ich habe die Erzählung als eine Liebeserklärung an Ihre Eltern, vor allem an Ihre Mutter, gelesen.
    Parnass: Ja, unbedingt. Absolut. Das ist wirklich eine bleibende, unauslöschliche Liebe. Sie war so wunderbar. Beide. Beide mit ihren Wuschelköpfen, mit ihren schwarzen Locken, mit ihrer Lebendigkeit. Sie sehr sehr jung, und beide völlig verrückt nacheinander. Die hatten sich nicht irgendwie ein bisschen lieb oder gern. Das war der reine Wahnsinn. Wenn er nach Hause kam, selbst wenn er nur eine Stunde weg war, besprang sie ihn richtig, umklammerte ihn mit Armen und Beinen, bis er keine Luft mehr kriegte. Das war für mich das absolut Schönste. Aber das war auch das einzig Schönste.
    Denn die Panik fing ja nicht erst später an. Solang ich denken kann, waren sie unentwegt in Panik, in Todesangst. Sie wussten ja, was auf sie zukam, Und sie stellten Anträge, in alle möglichen Länder, überall hin. Überall wurde es abgelehnt. Sie hatten kein Geld, wir hatten gar kein Geld. Aber bei uns war es immer sehr gemütlich und kuschelig. Ja, die Liebe herrschte, aber auch die Todesangst.
    Wegmann: Die Liebe ist in diesem Text sehr stark. Haben Sie dennoch, trotz der Todesangst, aus diesem starken Familienbund Ihre Kraft gezogen?
    Parnass: Ich weiß es nicht. Ich empfinde es nicht als Kraft. Weil ich so süchtig danach bin. Ich bin liebessüchtig. Und was es an Liebe gab, das ist danach nie wieder irgendwo hergekommen. Ich hab mich immer in Liebesgeschichten gestürzt. Kopfüber rein, drauflos gelebt, hab nach der Liebe gejagt. Das kann nicht glücklich machen.
    Wegmann: Woher kam denn Ihre Kraft, dass alles durchzustehen, zurückzukommen nach Deutschland, so kämpferisch zu arbeiten, wie Sie das gemacht haben all die Jahre?
    Parnass: Kämpferisch war ich schon als Kind. Meine Eltern waren Sozialisten. Die hielten keine Vorträge darüber, aber sie haben ja so gelebt. Sie haben sich immer für andere eingesetzt. Sie waren auch sehr beliebt in unserer Straße, da lebten keine anderen Juden. Sie waren so beliebt,w eil sie so waren wie sie waren. So herzlich, so hilfsbereit.
    "Meine Kunst spiegelt sehr viel aus meiner"
    Wegmann: Tita do Rêgo Silva, Sie sind in den 60er-Jahren in Brasilien geboren, haben dort studiert und kamen Ende der 80er-Jahre nach Hamburg. Welche Art von Kindheit haben Sie erlebt im Brasilien der Militärdiktatur?
    Tita: Als siebtes Kind, zu Hause war sehr viel los. Sehr bescheidene Familienverhältnisse, mein Vater war Tischler, meine Mutter Näherin. Und als Jüngste bin ich zuhause immer bei meiner Mutter unter den Tisch gekrochen und hab Stoffreste aufgesammelt und geschnitten. So fing mein kreatives Leben an. Aber es war eine ganz normale Kindheit in Nordost-Brasilien, wo es sehr warm war. In jeder Beziehung sehr und sehr warm. Und meine Kunst spiegelt sehr viel aus meiner Kindheit.
    Wegmann: Sie haben Ihr Land verlassen, um die deutsche Sprache zu lernen, was hat Sie überzeugt zu bleiben?
    Tita: Eine Weile hab ich gedacht, ich möchte gern mal im Ausland leben. Das war 1985, alle Leute wollten weg aus Brasilien. Alle waren unglücklich. Zwei, drei Jahre später habe ich es geschafft, meine Fluglinie (Red: Sie arbeitete als Stewardess) nach Deutschland zu nehmen und ich bin nicht zurückgeflogen. Ich wollte ein Jahr hier bleiben und ein Jahr in Italien , aber ich bin hier geblieben. Es hat alles supergut funktioniert mit meiner Kunst und in der Liebe. Ich bin sehr gern geblieben. Seit ich in Deutschland bin, kann ich von meiner Kunst leben.
    "Es stört mich, dass konzentriert an so Erinnerungstagen eine geballte Ladung auf einen zukommt"
    Wegmann: Über die Kunst sprechen wir später noch.
    Peggy Parnass, zu Beginn des Jahres jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Russen*. Schauen Sie sich Sendungen und Talkshows mit Überlebenden an? Und wie ist das, wenn Sie Erzählungen der Überlebenden wie Eva Erben hören?
    Parnass: Es stört mich, dass konzentriert an so Erinnerungstagen eine geballte Ladung auf einen zukommt. Massiv, und dann das Ganze Jahr über wird es ad acta gelegt. Es bedeutet eigentlich gar nichts dann, es schlägt sich gegenseitig tot, was da kommt. Ich seh mir die Interviews an, seh sie mir gerne an, sie erschüttern mich sehr.
    Ich finde, dass ich sehr glimpflich davongekommen bin, weil ich nicht im KZ war. Im Spiegel waren ja jetzt viele viele Seiten, 14 an die Nieren gehende, unglaubliche Interviews. Und da dort auch direkt geschildert wird, krieg auch ich mehr mit als vorher. Einzelheiten. So was Schreckliches. Was Menschen Menschen angetan haben oder auch antun.
    Ich schreib ja nicht über Vergangenheit. Einmal für die Anthologie "Kindheit", da haben ja viele geschrieben. Aber ich hab mit niemandem über meine Kindheit gesprochen, auch nicht mit Tita, die den Text illustriert hat, auch nicht mit meiner Tante Flora, die zwei Jahre in Auschwitz war und durch ein Wunder überlebt hat. Ich hab mich die ganzen Jahre mit dem jeweiligen Jetzt beschäftigt, immer versucht anzugreifen, wo ich etwas als falsch empfunden hab.
    Das ist mir immer wichtig gewesen. Rückwärts kann ich ja nichts mehr ändern. Und was mich sehr sehr getroffen hat, und trifft, ist: dass so wenig sich verändert hat. Hier in Deutschland ist es zur Zeit nicht in, nicht Mode andere abzuschlachten. Die Deutschen stehen Gott sei Dank noch ein bisschen unter Schock, aber nicht weil sie andere ermordet haben, sondern weil sie ja betroffen waren, da Bomben fielen, dass sie vorübergehend in der Schande waren. Im Grunde bemitleiden sie sich selber mehr als andere.
    Wegmann: Glauben Sie nicht, dass die jüngere Generation der Deutschen einen anderen Blick auf die Geschichte hat, dass sich da etwas verändert hat?
    Parnass: Doch die dritte Generation, die ja. Die regt sich auf, die nimmt teil, sofern sie überhaupt politisch interessiert sind, die Jugendlichen, und es regt sie richtig auf, wenn sie was erfahren. Aber die zweite Generation, die wollte gar nichts davon wissen, hat alles beiseite geschoben, die Lehrer haben das auch nicht zum Unterrichtsstoff machen wollen, weil sie wussten, wenn sie nicht ganz verblödet waren, dass ihre Eltern und Großeltern die Täter waren in den meisten Fällen. Ich kann ihnen nicht mal verdenken, dass sie davon nichts wissen wollten. Ich fühl mich privilegiert, wenn ich an meinen wunderbaren ermordeten Eltern denke, die grundanständig waren. Wenn ich mir vorstelle, wie man sich fühlen muss, wenn man so ein Pack zu Eltern oder Großeltern hat und die auch noch mögen soll ... Schon schlimm, nicht?
    "Ich leb wahnsinnig gern und darauf los"
    Wegmann: Jetzt wollte ich Sie bitten, einen Auszug aus Kindheit zu lesen, aber wir haben uns darauf geeinigt, dass Sie eine kleine Episode erzählen.
    Parnass: Ich merk gerade, dass alles so negativ wird im Gespräch und ich leb doch so gern. Ich leb wahnsinnig gern und darauf los, aber ich erinnere mich natürlich an Einiges.
    Ich konnte mit fünf Jahren schon lesen und da gab es den "Stürmer", da waren überall an jeder Straßenecke , hinter Glas, furchtbare Karikaturen mit Warnungen vor uns: Juden, die Kinder fressen und solche absurdesten Dinge, die aber für wahr gehalten wurden von der Bevölkerung. Und wir durften nichts, überall waren große Schilder. Wir durften uns auf keine Parkbank setzen, das war für Hunde und Juden verboten, stand da drauf, wir durften in keine Konditorei, nicht ins Kino, nicht ins Theater. Das war alles für Juden verboten.
    Wir durften kein Eis essen gehen. War für Juden verboten. Ich weiß gar nicht, was nicht verboten war. Alles war verboten. Wir durften im Sommer nicht in Schwimmbäder, aber wir haben es trotzdem gemacht, aber immer mit dem Gefühl, dass wir geschnappt werden könnten und dass es lebensgefährlich wird. Also nicht der reine Genuss.
    Wegmann: Jetzt haben Sie gerade gesagt, Sie möchten nicht, dass das allzu negativ klingt. Das tut es auch gar nicht, wenn man Ihre Geschichte liest.
    Ihre Sprache ist ehrlich und direkt, alle Erinnerungen und erzählten Augenblicke positionieren sich mit Klarheit, sind nie ein Jammern. Es gibt nur eine kurze Sequenz, wo anklingt: Wir haben doch alles das gesehen, warum wollten das die Deutschen nicht sehen,oder die Politiker. Was aber durchschimmert durch den Text ist: Wir mussten Einiges ertragen, aber wir haben uns nicht unterkriegen lassen. Sie haben sich immer gewehrt, wenn Sie nun erzählen, Sie haben sich als Kind schon gewehrt. Und , das kommt in Ihren Text auch zum Tragen, Sie waren immer voller Stolz auf Ihren "gesunden Menschenverstand und das Gerechtigkeitsempfinden". Was hat Ihnen die Kraft gegeben, in Deutschland zu bleiben?
    Parnass: Die Illusion, dass sich etwas geändert hätte, eine Illusion, genährt dadurch, dass so viele auf mich zukamen. Ich wirkte wohl an der UNI attraktiv auf andere jugendliche Deutsche.
    Ich lernte wohl als Erstes Peter Rühmkorf kennen und Klaus-Rainer Röhl, der später "konkret" gründete. Wir haben eine Wohngemeinschaft gegründet, wir haben eine eigene Studentenbühne gegründet, wir haben Kabarett gemacht, Rühmkorf hat die Texte geschrieben, Röhl die Regie geführt, ich hatte immer die Hauptrolle. Unser Kabarett hieß "Die Pestbeule" und war ganz toll, die Texte sind immer noch aktuell.
    Rühmkorf ist leider gestorben vor Kurzem. Ja, und alle hatten so viel Humor. Und die waren nun tatsächlich Antifaschisten und ich war froh und glücklich, dass ich die ganz nah an mir dran hatte, die die wirklich Linke waren. Mit denen ließ sich gut leben.
    "Ich wüsste nicht, wohin"
    Wegmann: Haben Sie niemals daran gedacht auszuwandern?
    Parnass: Auswandern, ich wüsste nicht, wohin. Dadurch, dass ich in verschiedenen Ländern aufgewachsen bin: Stockholm, London, später in Paris. In Paris hab ich miterlebt, wie die Algerier verfolgt wurden. In London hab ich miterlebt am großen Friedenstag, am 8. Mai, wie es Gruppen aller Länder gab, mit ihren Länderfahnen. Sie gingen alle glücklich und stolz und strahlend.Dann kam ein ganz kleines jüdisches Grüppchen, vielleicht 30 oder 35 Leute, mit der jüdischen Fahne, blau-weiß, die wurden alle zusammengeschlagen von Engländern.
    Das ist für mich eine Lehre fürs Leben, denn bis dahin dachte ich, man müsste nur Deutschland platt machen, weg mit den Deutschen, dann ist die Welt ein Fest. Aber so einfach ist es leider nicht. Also, auswandern, da geht es mir wie dem Juden im Reisebüro, der nicht weiß, wo er hinfahren soll. Wird beraten, hier hin , da hin, dort hin. Zum Schluss hat der Reisebüroverkäufer die Schnauze voll, holt einen Globus und dreht ihn. Und sagt, suchen Sie sich doch endlich was aus. Und der dreht und dreht und guckt und guckt und sagt: Ja, haben sie denn nichts Anderes?
    Ich sehe keine Alternative. Ich wüsste keine!
    "Sie sagte: Ich liebe deine Kunst"
    Wegmann: Tita, jetzt muss man erst einmal sagen, welche Art von Bildern Sie gemacht haben. Es sind nämlich Holzschnitte. Holzschnitt ist Ihre künstlerische Ausdrucksform. Sie haben für das Buch zwölf einseitige Holzschnitte und mehrere Vignetten geschaffen. Zu sehen sind langbeinige Fabelwesen, eine Mischung aus Hund oder Wolf und Mensch, in farblich hell-warmes Ambiente gesetzt: Die Farben gelb, rot, orange, türkis, hellgrün überwiegen. Frühlingsfarben. Woher kommen diese intensiven, ausdrucksstarken Mischwesen, die ja generell Ihr Werk durchziehen? Und die hier sehr gut zu dem Text passen.
    Tita: Ich hab mit Peggy darüber gesprochen, das Buch zu machen. Sie war sehr glücklich: Sie sagte: Ich liebe deine Kunst. Dann war klar, dass sie einverstanden war. Anderes konnte ich nicht machen, konnte ich, aber es wäre nicht meine Kunst gewesen. Diesen Stil habe ich im Laufe der Zeit entwickelt. Man erkennt sich doch, obwohl das ein Schweine- oder Hundekopf ist. Es ist viel Fantasie.
    Es wird alles in Holz geschnitten oder in Linol und dann auf Papier gedruckt.
    "Ich bringe aus Brasilien meine Farbigkeit"
    Wegmann: Nun hatte Peggy, so kann man im Nachwort lesen, zwei kleine Wünsche geäußert. Sie hat sich die Farbe Gelb gewünscht. Und sie hat sich gewünscht, dass die Figuren Locken haben.
    Tita: Lockig, viele Locken; Locken, Locken, Locken. Ich hab gesagt, okay, ich versuch das zumachen. Gelb ist kein Problem, in meiner Arbeit ist immer viel Gelb, das ist auch typisch für meine Bilder: Ich bring aus Brasilien meine Farbigkeit. Auch weil ich dachte, Holzschnitt in Deutschland ist immer so duster. Die Geschichte von Peggy, die ist sehr traurig, aber wie Sie schon gesagt haben, sie erzählt das nicht so tragisch. Sie erzählt es auf eine Art märchenhaft positiv und sehr direkt und locker. Und ich hab diese Punkte gesehen. Und ich hab gesagt, ich möchte ein schönes Buch machen. Ich mache auf keinen Fall ein Buch mit traurigen Bildern und traurigen Farben. Von daher Gelb passte. Aber die Locken – es war ein Albtraum, Locken in Holz zu schneiden, das ist so viel Arbeit. Das hab ich konsequent gemacht, überall Locken. Aber das ist nicht leicht, im Holzschnitt so kleine Locken zu schneiden.
    Wegmann: Alles, was Peggy Parnass macht ist politisch. Sie, Tita, sind eine andere Generation, sind in Südamerika groß geworden. War die Bebilderung der Erzählung für Sie eine politische Arbeit oder eher die Darstellung einer Familiengeschichte?
    Tita: Beides. Ich habe mich in meinen Büchern, die ich immer in ganz kleiner Auflage mache, für meine südamerikanische Kultur interessiert. Fast alle Bücher haben brasilianische Autoren, oder meine Bilder haben etwas zu tun mit meiner Heimat Brasilien. Das Buch, Peggys Geschichte, jetzt ist komplett neu in meiner Kunstwelt. Und was sehr stark im Hintergrund stand, ist die Freundschaft. Die Freundschaft zu Peggy. Ich wollte unbedingt etwas mit ihr machen, aber es ist auch eine Hommage an Peggy. Gleichzeitig dachte ich, diese Geschichte ist so schlimm, und ich habe einmal auch eine Pflicht, als künsteln, die in Deutschland lebt, mich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen.
    Ich dachte auch, dass es für Brasilien interessant sein könnte. Und die Idee, die Geschichte in einer positiven Form für Kinder zu erzählen, aber so, dass die Wahrheit im Hintergrund ist, damit sie früh schon mitbekommen, was damals geschah, das interessierte mich. Aber die Freundschaft zu Peggy ist der Hauptpunkt in dieser Zusammenarbeit ....
    Parnass: Also Tita hat mit ihren Bildern, die ja fabelhaft sind, alle Situationen perfekt eingefangen. Das ist unglaublich. Da ist keine Diskrepanz. Es sind fantastische Bilder. Die gibt es in ihrem Atelier übrigens auch als Bilder, die man sich an die Wand hängen kann, damit andere sich mitfreuen.
    Wegmann: Sie haben mir das Stichwort Freundschaft gegeben. Peggy Parnass, Ralf Giordano, Publizist und Schriftsteller, war ein guter Freund. In einem Vorwort für Ihr Buch schrieb er im Jahr 1990 über Sie: Ihr "vorherrschender biografischer Aggregatzustand" sei "verheerende Verwundbarkeit".
    Ihre Offenheit haben Sie sich erhalten, sind Sie auch immer noch verwundbar?
    Parnass: Ja, leider, leider sehr. Aber genauso wie ich verwundbar bin, genauso bin ich begeisterungsfähig. Also ich zerspring ja zwischendurch auch vor Glück. Das hält sich eigentlich die Waage. Mir ist gerade wieder eingefallen, wie oft ich Grund hab, glücklich zu sein.
    Wegmann: Es ist wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass eins Ihrer Bücher "Süchtig nach Leben" heißt. (Peggy lacht)
    Man erinnert sich dann auch an die Dinge, die Sie gesagt haben, bezüglich Vergänglichkeit.
    Sie haben mal gesagt: "Ich kann Tod überhaupt nicht akzeptieren!" (S.48, Unter die Haut) oder: "Gott, hasse ich diese Vergänglichkeit!" (Süchtig nach Leben, S.162).
    Hat sich Ihre Einstellung zu Vergänglichkeit oder zum Gottesbegriff geändert?
    Parnass: Ich hab keinen Gottesbegriff, ich glaub an keinen Gott. Da gibt e s nichts, seitdem ich klein war. Ursprünglich wurde ich wie alle jüdischen kleinen Kinder zum Gottglauben erzogen, aber das hat sich ja schnell gelegt. Ich glaub an Freundschaft, ich glaub an Liebe. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist Liebeskummer, gerade weil mir Liebe so wichtig ist. Und weil ich immer versucht bin , immer alles in den Geliebten hineinzugucken, auch Nichtvorhandenes. Natürlich ist jeder Geliebte restlos überfordert. Was soll er nicht alles sein. Mein Gott, der Ärmste!
    *An dieser Stelle wurde ein inhaltlicher Fehler korrigiert.
    Buchinfos:
    + Parnass, Peggy: "Kindheit. Wie unsere Eltern uns vor den Nazis retteten", KJB
    + Parnass, Peggy: "Unter die Haut", konkret Verlag