Jüdische "Initiative LSD"

Shabbat für alle

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Rabbi Ariel Pollack und Teilnehmer des Berliner LSD bei einem Shabbat Service. © Deutschlandradio/Luba
Von Arkadiusz Luba · 23.11.2018
Juden, Christen, Nichtgläubige, Schwule, Lesben und Heteros: Die Berliner „Initiative LSD“ heißt sie alle willkommen, wenn es darum geht, den Shabbat zu begehen. Sie beten, feiern und singen mit besonderer Inbrunst die Liebeslyrik jüdischer Mystiker.
"Lobt Gott mit dem Schall des Widderhorns, lobt ihn mit Harfe und Leier!
Lobt ihn mit Trommel und Reigentanz, lobt ihn mit Saiten und Flöte!
Lobt ihn mit tönenden Zimbeln, lobt ihn mit schallenden Zimbeln!"
Diese Worte König Davids aus seinem Psalm 150 muss sich der junge Rabbi Ariel Pollack zu Herzen genommen haben. Seit fünf Jahren veranstaltet er einen alternativen Freitagabend-Gottesdienst für Schabbat in Berlin, bei dem Musik und Gesang eine große Rolle spielen. Mit den ersten Tönen verfallen einige in leichte Trance und schließen die Augen. Die Beter stimmen einen Niggun an, also ein Lied ohne Worte.

Essen, Wein, Musik

Auf dem Boden eines gemieteten Theatersaals liegen bunte, kleine Kopfkissen im Kreis, ausgebreitete Leindecken an den Rändern. Wein wird reichlich ausgeschenkt, Essen steht auf einem langen, breiten Tisch bereit. Das Licht ist gedämpft, in der Mitte des Raumes brennen Kerzen. Circa 50 junge Leute sind gekommen: Juden, Christen, Nichtgläubige, Schwule, Lesben und Heteros. Sie sitzen alle zusammen. Liedtexte auf Hebräisch und transkribiert werden verteilt. Der 29-jährige Rabbi spielt sich auf seinem Harmonium ein.
Das Akronym "LSD" assoziiert man sofort mit dem Rauschmittel der 70er-Jahre. Es stammt allerdings von Zalman Schachter-Shalomi, dem einstigen Anhänger von Chabad Lubavitsch, dem Begründer der Jewish-Renewal-Bewegung. LSD bedeutet "Let’s Start Davening". Schachter-Shalomi ist bekannt als "Reb Zalman" und steht für eine Verbindung jüdischer Lehre mit Freigeistigkeit der Hippie-Bewegung. Ich davene bedeutet: Ich bete. Rabbiner Ariel Pollack sagt:
"Die eine Erklärung führt uns auf das jiddische 'divino' zurück, also 'was Gottbegnadetes können wir als Menschen tun?' Wir können beten. Und die andere, die mehr poetische, Erklärung stammt von 'dav', was auf Hebräisch eine 'Seite' bedeutet. Die Juden sind so maschinell beim Umdrehen der Seiten beim Gebet. Es ist also 'davening'

Alternative zu traditionellen Synagogen

Ariel stammt aus Budapest, aus einer, wie er sagt, nicht besonders religiösen Familie. Schon früh interessierte er sich sehr für Religion und engagierte sich in der religiösen Jugendarbeit. Als er 2012 nach Berlin zog, stellte er fest, es gebe keine Synagoge in der Stadt, die offen und spirituell genug für ihn und seine Freunde wäre. Er fühlte sich in keiner der verschiedenen Berliner Synagogen zu Hause. Er suchte nach Alternativen, die er nicht fand und entschied sich, etwas Eigenes anzubieten, denn:
"Die jüdischen Gemeinden in Deutschland sind steif und hieratisch. Wenn du etwas Tiefes und Spirituelles suchst, bist du bei ihnen falsch. Wir suchen etwas Grundlegendes. Wir kommen allerdings nicht mit einer besonderen Botschaft, oder mit einem innovativen oder außergewöhnlichen Programm. Es ist einfach eine Gemeinde und gemeinsames Weintrinken, und singen, einfach ein Shabbat. Wir wollen ihn so feiern wie er ist – als ein Liebesfestival. Das klingt vielleicht ein bisschen hippie, aber wenn das so ist, dann ist es einfach schade, denn das ist das Original."

Der Shabbat als Liebesfestival

Ariel orientiert sich dabei an den Kabbalisten, den jüdischen Mystikern, die Liebesgedichte und -lieder geschrieben haben. Sie seien aufs Feld gegangen, in einen umschlossenen Garten oder Park, und begrüßten den Shabbat als eine entgegenkommende Königin. Ariel will zu diesen Wurzeln zurück. Für ihn ist das eine Rückkehr zu wahrer Spiritualität.
Aus gut einem Dutzend Teilnehmern sind jetzt 50 bis 70 geworden. Alle werden per Mundpropaganda, Facebook- oder Whatsapp-Nachrichten eingeladen. So auch Rachel. Sie ist von Anfang an dabei und unterstützt die Gruppe musikalisch. Sie lernte Ariel während seines Studiums am Abraham-Geiger-Kolleg kennen. Davor sei sie in eine traditionelle Synagoge gegangen, in der Frauen und Männer aber gleichberechtigt sind. Mit dem LSD nehme sie sich eine Auszeit davon, was sich in den Synagogen so institutionell, so doll religiös und bevormundend anfühle. Sie schätze den offenen und freien Charakter des LSD, erklärt Rachel:
"Dieser LSD ist in einer gewissen Weise freier, in dem Sinne, dass man mehr mitmachen kann, ohne viel zu können. Und das man, glaube ich, nicht so spürt, dass man jüdische Kenntnisse nicht hat oder dass man die Lieder gar nicht kennt und trotzdem da reinkommen kann, dadurch dass es so viel gesungen ist. Das ist hier auch zum Beispiel offen, queer. Auch dieses Stereotype, dass das Judentum homophob ist, spielt hier keine Rolle. Menschen können herkommen und müssen sich nicht verstecken. Und für mich persönlich ist es dieses Zusammenspiel von ganz viel Musik und ganz vielen ruhigen Momenten, aber auch Momenten, die man nicht vorhersagen kann. Manchmal denkt man sich, bei dem Lied geht es sonst immer los und wir wollen es total laut haben. Und dann ist es auch ok, wenn es leise geblieben ist."

Liberale Geisteshaltung und Dialog

Inzwischen wird der LSD von der World Zionist Organization gefördert. Nissan Shtrauchler von deren Abteilung für Diaspora-Aktivitäten in Deutschland unterstützt die LSD-Treffen. Er will einen Dialog zwischen deutschen Juden und Israel gestalten, basierend auf liberaler Geisteshaltung. Seine Philosophie: Man sollte immer zu den Menschen gehen, die anders sind als man selbst. Denn nur so kann man Ignoranz und Vorurteile hinter sich lassen. Selbst als orthodoxer Jude fand er Zugang zu den jungen Menschen:
"Ich habe in diesem LSD-Gottesdienst viel von der 'neschama', also von der Seele gespürt. Ich habe Menschen gesehen, die sie selbst sein konnten. Sie lernten vom liberalen und gleichzeitig vom traditionellen Standpunkt aus das Judentum kennen. Auch Nichtjuden waren hier willkommen, die Gastfreundschaft war beeindruckend. Und das ist wichtig, denn wenn du dich wohl fühlst, kannst du’s erst richtig genießen."

Nicht alle akzeptieren die "Initiative LSD"

Fröhliches Tanzen und Instrumentenspiel zu Ehren Gottes gefällt allerdings nicht jedem. Selbst Mikal, die erste Frau des König David, "verachtete ihn in ihrem Herzen, als sie ihn vor dem Herrn hüpfen und tanzen sah", heißt es in der Bibel. So werde auch der Berliner LSD nicht von allen akzeptiert, gibt der Rabbi Ariel Pollack zu. Er verstehe allerdings damit umzugehen:
"Das hat mich allerdings nur in meiner Arbeit bestätigt. Ich habe das Gefühl, es ist richtig, was ich tue. Sowas wie der LSD wird gebraucht. Die jüdische Gemeinde in Berlin hat eine harte und komplizierte Geschichte. Um damit fertig zu werden, braucht es viel daran zu arbeiten und es zu therapieren. Und das ist durchaus nicht einfach. Daher denke ich, es ist schon gut, wenn Leute unsere Treffen für wichtig halten und herkommen."
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