Donnerstag, 28. März 2024

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Pegida-Proteste
"Geschmacklos und missbräuchlich"

Der frühere DDR-Bürgerrechtler Schorlemmer hat den Pegida-Demonstranten Geschmacklosigkeit vorgeworfen, weil sie Rufe aus der Wendezeit nutzen. Es sei unverschämt und missbräuchlich, "wenn das jetzt politisch Enttäuschte und auch Verblödete nachbrüllen", sagte Schorlemmer im Deutschlandfunk.

Friedrich Schorlemmer im Gespräch mit Martin Zagatta | 23.12.2014
    Der Theologe Friedrich Schorlemmer, aufgenommen am 19. Oktober in Magdeburg.
    Der Theologe und frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer (picture alliance / ZB / Jens Wolf)
    Der Theologe sagte im Deutschlandfunk, der Freiheitsruf "Wir sind das Volk" habe sich 1989 gegen die Mächtigen gerichtet und "Dialog mit grundlegender Veränderung eingefordert und dann auch geführt". Bei den sogenannten Montagsdemonstrationen werde die Parole heute verkehrt. "Wenn das jetzt politisch Enttäuschte und auch Verblödete nachbrüllen und wenn sich das jetzt gegen die Schwächsten, die Hilfsbedürftigen (...) gewandt wird, (...) also ich bin ziemlich erregt."
    In jedem Fall dürfe man nicht um einen Dialog mit den Anhängern dieser sogenannten Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) betteln. Sie seien nicht an Dialog interessiert. "Hier sammelt sich der aufgerührte Sud der Gesellschaft, und der muss wieder zum Bodensatz werden. Aufklären lässt sich das kaum."
    Aber man dürfe auch jetzt nicht alle Ostdeutschen pauschal verurteilen, wie das Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) getan habe. "Eine Grund-Ausländerfeindlichkeit kann ich auch in Ostdeutschland nicht bemerken, zumal in Dresden man nicht vergessen darf, wie oft die Zivilgesellschaft dort wach wird, zum Beispiel am 13. Februar, wenn die Rechten aufmarschieren."

    Das Interview mit Friedrich Schorlemmer in voller Länge.
    Martin Zagatta: Bundesjustizminister Maas hat die Pegida-Proteste eine "Schande für Deutschland" genannt, auch sonst hagelt es scharfe Kritik, was aber dem Zulauf zu der Demonstration gestern Abend in Dresden keinen Abbruch getan hat. Die Zahl der Teilnehmer hat sich nämlich noch einmal vergrößert bei dieser jetzt schon zehnten Veranstaltung, die Peer Vorderwülbecke für uns beobachtet hat. (...)
    Und wir sind jetzt verbunden mit dem früheren DDR-Bürgerrechtler und Theologen Friedrich Schorlemmer. Guten Tag, Herr Schorlemmer!
    Friedrich Schorlemmer: Guten Tag!
    Zagatta: Herr Schorlemmer, wir haben das eben in dem Bericht aus Dresden jetzt auch wieder gehört: Die Pegida-Anhänger skandieren "Wir sind das Volk", also genau die Parole, mit der einst die Demonstranten in den letzten Wochen der DDR auf die Straße gegangen sind. Was empfinden Sie da, wenn Sie das jetzt in Dresden hören?
    "Politisch Enttäuschte und auch Verblödete"
    Schorlemmer: Also ich finde das unverschämt, frech, geschmacklos und missbräuchlich, wie der Freiheitsruf von 1989, "Wir sind das Volk", "Wir sind das Volk", wie die das beanspruchen und verkehren, denn damals wurde dieser Spruch gegen die Mächtigen gerichtet und der Dialog mit grundlegender Veränderung eingefordert und dann auch geführt – wenn das jetzt politisch Enttäuschte und auch Verblödete nachbrüllen und wenn sich das jetzt gegen die Schwächsten, die Hilfsbedürftigen, die Zuwanderer, die mit Traumen zu uns kommen, die Hilfe brauchen, gegen die gewandt wird, also wir – in Klammern Deutsche – sind das Volk. Und da wird auch ein Holzkreuz getragen als Transparent in schwarz-rot-goldener Bemalung, also ein Kreuzzug in den Farben Deutschlands – also ich bin ziemlich erregt.
    Zagatta: Aber ist das aus Sicht dieser Pegida-Bewegung jetzt, wenn man das sieht, nicht ein ziemlich geschickter Schachzug, wenn man eben genau diese Parole verwendet und den Protest, den diese Menschen da organisieren, auch noch Montagsdemonstration nennt?
    Schorlemmer: Ja, also geschickt ist das schon. Vor allen Dingen vermeiden sie jeden Dialog: Dann würden sie ja entblößt werden, dass sie kein Konzept haben.
    Zagatta: Wären Sie denn für einen ...
    Schorlemmer: Sie rufen auch "Wir kommen wieder". Das wurde gerufen von denen, die an der Bornholmer Straße am 9. November gerufen hatten "Macht das Tor auf", und "Wir kommen wieder" – das heißt, wir übernehmen unsere Verantwortung in unserem Land. Und die meinen damit: Wir kommen wieder – nächsten Montag. Also das ist also eine Entleerung von Parolen, die einmal eine große politische, auch weltverändernde Wirkung hatten.
    Zagatta: Wie erklären Sie sich, dass das ausgerechnet in Dresden passiert, dass also diese Pegida-Bewegung dort in Dresden ihre Hochburg hat? Hat das etwas mit der DDR-Vergangenheit zu tun?
    Schorlemmer: Ja, da müssen Sie den DDR-Experten Bouffier mal fragen.
    Zagatta: Volker Bouffier?
    Schorlemmer: Volker Bouffier, ja.
    Zagatta: Den hessischen Ministerpräsidenten, der meint das nämlich.
    "Keine Grund-Ausländerfeindlichkeit"
    Schorlemmer: Der meint das, ja, ja, deswegen meine ich, so ein Ost-Experte. Natürlich war es so, dass die DDR-Bürger wenig Berührung mit Ausländern bei uns hatten. Also die Vietnamesen bei uns wurden auch isoliert, in Wohnblocks mit Zäunen drum, zu den Russen hatten wir kaum Kontakt. Das stimmt alles. Aber eine Grund-Ausländerfeindlichkeit kann ich auch in Ostdeutschland nicht bemerken, zumal in Dresden man nicht vergessen darf, wie oft die Zivilgesellschaft dort wach wird, zum Beispiel am 13. Februar, wenn die Rechten aufmarschieren, und jetzt sind sie auch wieder da gewesen. Also ich finde das ... Die Dresdner schämen sich. Mir schreiben Leute, was sollen wir bloß tun? Ich schäme mich jetzt, Dresdnerin zu sein! Diese gibt es auch, und die 17.000, die sollen jeden Montag doch wiederkommen. Ich glaube nicht, dass man ihnen nachlaufen sollte und "Bitte, bitte"-Dialoge anbietet für Leute, die ihre Vorurteile pflegen, aber nicht befragt wissen wollen.
    Zagatta: Bei Wahlen schneidet die NPD aber im Osten Deutschlands ja auch besser ab und sitzt da auch im Landtag von Sachsen. [Anmerkung der Redaktion: Es muss heißen "saß im Landtag von Sachsen". Im September 2014 hatte die NPD den Einzug ins Landesparlament verpasst. Der Moderator korrigierte dies noch im Laufe der Sendung.] Sind die Ostdeutschen da nicht doch auch irgendwo noch anfälliger für rechtsextremes Gedankengut?
    Schorlemmer: Ja, das kann insofern sein, als wir ja 40 Jahre lang Nicht-Deutsche sein sollten, sondern DDR-Bürger sein sollten, und dass viele Ostdeutsche vor 25 Jahren dachten, ja, die Westdeutschen sind ja keine richtigen Deutschen mehr, die sind ja schon Europäer. Und dass da kein größerer nationalistischer Schub kam, das ist verwunderlich – nicht, dass es das gab. Zumal, ich meine: 40 Jahre irgendwie zu hoffen auf ein anderes Land, auf eine andere Gesellschaft, auf eine freie Gesellschaft, eine Gesellschaft auch mit D-Mark und mit Volkswagen – alles verständlich! Also das ist auch eine Art Demütigung der DDR-Bürger gewesen, dass sie hier haben leben müssen. Andererseits gibt es auch die andere Kraft, die eben alles eingesetzt hat, dass sie in die Demokratie kommen und sie selber aus eigener Kraft organisieren. Vergessen wir in diesen Jahren nicht, dass wir nach 25 Jahren auch feiern können, dass Deutsche für die Freiheit eingetreten sind, und daran war nichts Anti-Polnisches oder Anti-Russisches oder Anti-Islamistisches.
    "Kein Konzept, nur Brüllerei"
    Zagatta: In der Politik wird ja jetzt heftig darüber diskutiert, wie man mit dieser Bewegung umgehen soll. Soll man also versuchen, in einen Dialog mit dieser Pegida-Bewegung zu treten oder mit den Demonstranten? Habe ich Sie da recht eben verstanden: Sie würden das ablehnen?
    Schorlemmer: Ja, ich glaube, die leben davon, dass sie nicht sagen, was sie wollen. Die haben ja kein Konzept. Die haben nur Brüllerei bisher. Dahinter verbirgt sich auch, das muss man sehen, dass da Leute sind, die Angst haben, dass sie Verlierer sein würden, und populistisch wird immer erzählt: ja, die Ausländer, die nehmen uns ja alles weg. Aber einen Dialog würden die nicht führen, denn die möchten gerne ihre Vorurteile behalten. Sie müssten Angst haben, dass sie demaskiert werden. Eine Islamisierung der deutschen Gesellschaft oder die Scharia oder so, das droht doch überhaupt nicht! Die müssten einsehen, dass unser Land Zuwanderer geradezu braucht. Ich sage: Das Tumbe, was sich darin ausdrückt, muss auch tumb genannt werden, das Dumme muss auch dumm genannt werden. Hier sammelt sich der aufgerührte Sud der Gesellschaft, und der muss wieder zum Bodensatz werden. Aufklären lässt sich das kaum. Der Bodensatz, solchen Bodensatz gibt es, glaube ich, in jedem Land, aber die Dummheit, die sich darin auch ausdrückt, zumal von dem Herrn Bachmann, also das ist ja nicht zu übertreffen. Dietrich Bonhoeffer, der große Theologe und schon Zeuge für die Freiheit, hat geschrieben: "Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden" Also Dummen zu begegnen, ist wirklich sehr schwer. Aber ich meine, erst mal muss man das Dumme dumm nennen, und diejenigen, mit denen man einen Dialog führen kann, soll man ihn auch führen, aber nicht: Bitte, bitte, führe mit uns einen Dialog!
    Zagatta: Wenn Sie da mit so harschen Worten diese Bewegung kritisieren, Herr Schorlemmer, gerät man da nicht in die Gefahr, diese Bewegung auch zu dämonisieren und ihr vielleicht da erst recht noch Zulauf zu verschaffen?
    "Verachtung unseres politischen Systems"
    Schorlemmer: Na ja. Ich finde, wir sollten sie nicht dämonisieren und auch gelassen, damit eigentlich gelassen umgehen. Das, glaube ich, fällt auch in sich zusammen. Und ich würde auch sagen, man muss sehen, wie hier sich bei diesen Menschen auch eine enorme Distanz zu unserem politischen System äußert. Also die 50 Prozent Wahlverweigerer haben ja auch gezeigt, dass es schon eine Verachtung unseres politischen Systems und der politischen Klasse gibt und ein Nicht-Verhältnis zur Demokratie. Das muss uns Sorge machen, das ist das, was mir eigentlich Sorge macht, dass hier ein genereller Frust auf die Straße kommt, ohne dass irgendeinen Hauch von Konzept drin steckt. Dem muss man nachgehen. Warum sozusagen äußern die sich so destruktiv bei diesen sogenannten Montagsdemonstrationen?
    Zagatta: Und Sie glauben, ...
    Schorlemmer: Und dann auch noch zu sagen, patriotische Europäer – das wusste ich noch gar nicht. Das ist eine verschroben formulierte Deutschtümelei, und ich kann nur sagen: Das Weihnachtsliedersingen, was ich da gehört habe – also liebes Abendland, also das soll es gewesen sein, diese brummelnde Verhunzung der drei populärsten, wenn auch nicht aussagekräftigsten Lieder: Also nein, also liebes Abendland, so nicht!
    Zagatta: In der Wochenzeitung "Die Zeit", da ist jetzt schon die Frage aufgeworfen worden, warum die früheren Bürgerrechtler, zu denen Sie ja auch gehören, warum die so lange geschwiegen haben zu dieser Pegida-Bewegung. Haben Sie die unterschätzt am Anfang?
    "Ich habe das sicher unterschätzt"
    Schorlemmer: Ja, ich habe das so wahrgenommen, dass also solch ein, wie ich schon gesagt habe, ... einen Bodensatz gibt es da, der ist aufrührbar, der ist nationalistisch verführbar, mit dem muss man offen und selbstbewusst umgehen. Ich habe das sicher unterschätzt, dass da nun jetzt kurz vor Weihnachten 17.000 kommen. Nur möchte ich die 4.000 nicht vergessen, die von der anderen Seite gekommen waren und auch die Menschen, die in ganz anderer innerer Haltung in der Kreuzkirche gesessen haben.
    Zagatta: Und stimmt es, sind da die Bürgerrechtler merkwürdig stumm oder still in den letzten Tagen gewesen?
    Schorlemmer: Ja, also ich ... Das ist ja ein bisschen schwierig, wissen Sie, wenn Sie Bürgerrechtler sind – soll ich denn jetzt mal anrufen beim Deutschlandfunk oder bei der "Zeit" und fragen, darf ich mal was dazu sagen? Normalerweise wird man gefragt, ob man was sagen will und sagt nicht, ha, ich möchte dazu was sagen. Und das haben Sie heute getan.
    Zagatta: Was wir ja heute getan haben. Aber Sie hätten sich ja mit anderen, mit Ihren Freunden, mit Mitkämpfern da aus dieser Zeit ja vielleicht auch mal absprechen können für einen kleinen Aufruf oder sich mal zu Wort melden können. Das war wahrscheinlich die Frage, die da hinter dem Artikel in der "Zeit" steckte.
    "Eine breite Willkommenskultur entwickeln"
    Schorlemmer: Ja, das kann sein, und natürlich erschüttert es mich jetzt, wenn da ein großes Plakat gezeigt wird, "Wacht auf: Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht! Wir sind das Volk!" Da frage ich mit fünf Ausrufezeichen: Wer beißt da wen? Wer soll warum aufwachen? Wer schläft oder verschläft da die Zeichen der Zeit? Und wer ist das Wir und wer gehört da nicht dazu? "Wir sind das Volk" meint ja in deren Sinne, wir Deutsche sind das Volk, nicht die, die da zu uns kommen, uns überfremden. Das halte ich für ganz fatal. Wir müssen eine breite Willkommenskultur entwickeln und allen Vorurteilen widerstehen, aber da, wo es Probleme gibt, sie auch wirklich benennen. Aber ich denke zum Beispiel: Es ist ja ein wunderbares Zeichen, wenn in Vorra bei Nürnberg die Bürger ganz und gar willkommensoffen sind und Leute von außerhalb kommen, denen das nicht passt und die diese Häuser da anzünden, aber es gibt auch eine breite zivilgesellschaftliche Offenheit für die unter uns lebenden Muslime, und dass der Vertreter der Muslime in Deutschland und der Vertreter der Juden in Deutschland sich da so offen für unser Land ausgesprochen haben, finde ich ganz großartig und wichtig.
    Zagatta: Sagt der frühere Bürgerrechtler und Theologe Friedrich Schorlemmer, der, wie wir gehört haben, auf unseren Anruf schon länger gewartet hat offenbar. Herr Schorlemmer, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch!
    "Ich war heute nicht bei der Lügenpresse"
    Schorlemmer: Ja, also ich war ja heute nicht bei der Lügenpresse, ich war beim Deutschlandfunk. Das freut mich!
    Zagatta: Uns auch! Schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.