Donnerstag, 28. März 2024

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Penelope, die Listenreiche

Man mag es bedauerlich oder fatal finden, aber es ist nun einmal so: die abendländische Mythologie berichtet ausschließlich von harter Männerarbeit, von Taten, Kriegen und Irrfahrten, die den griechisch-römischen Kulturkreis die kommenden dreitausend Jahre hindurch streng patrimonial formten. Hätte uns Homer statt seiner Odyssee das Epos der untätig daheim ihren Gatten erwartenden Penelope geschenkt, Tochter des Icarius, Nichte des Tyndareus, Schwester der Helena und Mutter des Telemach, dann könnte auch das Drama des modernen Menschen nicht seit jenem 16. Juni 1904 in Dublin, am äußersten Westrand Europas, als kongeniale Fortsetzung der Odyssee gelten. Das war der Tag, an dem Leopold Bloom neunzehn Stunden durch Dublin irrt, nur um am Ende unter die Decke seiner Molly-Penelope zu schlüpfen. Achtzig Jahre nach James Joyce hat sich nun ein literarischer Kopf gefunden, dem dieser Sachverhalt endlich in wünschenswerter Klarheit vor Augen stand.

Beatrix Langner | 02.07.2002
    Es ist der Kopf der Armenierin Gohar Markosjan-Kasper, in dem die Lektüre des Ulysses, des wohl berühmtesten und meistkopierten Romans des 20. Jahrhunderts, ein ganz und gar überraschendes Echo ausgelöst hat, ein Echo vom äußersten Ostrand des europäischen Abendlandes, das via Moskau jetzt glücklicherweise bis zu uns gedrungen ist, das Echo einer weiblichen Stimme, gewissermaßen eine Penelopopee. Einen Tag vom Morgen bis Mitternacht läuft die strickende und wieder auftrennende, wartende und mit listenreicher Abwehr ihrer Liebhaber vollauf beschäftigte junge Armenierin mit dem Taufnamen Penelope, denn in ihren Adern fließt auch ein wenig griechisches Blut, durch die Strassen des winterlichen Jerewan und erlebt, neunzig Jahre nach Leopold Blooms Abenteuer des banalen Stadtalltags, die Abenteuer des osteuropäischen postsowjetischen Stadtalltags, die als banal zu bezeichnen schlicht kultureller Hochmut wäre: Penelope, die Listenreiche, möchte baden. Sie braucht eine Dusche, warmes Wasser, Strom. Ungewaschen verläßt die junge Lehrerin die elterliche Wohnung - mal wird der Strom in Jerewan angeschaltet, dann fehlt Wasser, dann wieder ist Wasser da, aber der Strom ist weg, und zwar in jedem Stadtviertel zu andern Zeiten - sie durchwandert den Chor der Nachbarinnen, besucht Freundinnen, wehrt einen hartnäckigen Liebhaber ab, gerät in eine zähe familiäre Geburtstagsfeier. Nach vierhundert Seiten ist das Wasser endlich eingelaufen zum Bad - ach was, zur Apotheose eines Bades in den Zeiten des marktwirtschaftlichen Postkommunismus. Shampoos, Düfte, Öle salben den schönen, begehrenden Körper der selbstverliebten stolzen Penelope - gerade rechtzeitig, ehe um Mitternacht ihr Geliebter erscheint, ihr Armèn-Odysseus, eben zurück vom Kriegseinsatz in Berg-Karabach, nicht nach zwanzig Jahren wie sein homerischer Vorgänger, sondern bloß nach zwei Monaten.

    Wir erinnern uns, das autonome Gebiet Berg-Karabach, einer jener Orte der vergessenen postsozialistischen Kriege der Kaukasus-Region. Armenier, Aserbaidschaner, Tschetschenen, Georgier, in einem Weltwinkel zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, der zwischen Christentum und Islam, von Türken und Persern bedrängt, schon immer Schauplatz kriegerischer ethnischer Konflikte war und schließlich von Lenins Nationalitätenpolitik in feste staatliche Grenzen gezwungen wurde. Armenien wurde im Jahre 301 christianisiert und umfaßt nur noch einen Bruchteil des alten ararischen Reichs, Westarmenien wurde türkisch, ein anderer Teil georgisch, immer wieder kam es zu Massakern an den armenischen Minderheiten in den Nachbarländern. Doch die Armenier fühlen sich, wie eine Figur des Romans sagt, schon immer als ein Teil des geistigen Europa, das es nach Asien verschlagen hat. Erst nach dem Ende der UdSSR haben sie das Armenische wieder zur ersten Schul-und Kultursprache erklärt.

    Gohar Markosjan-Kasper, die in Jerewan als Ärztin arbeitete und heute in Tallin lebt, schreibt russisch. Ihrer entzückenden armenischen Penelope gab sie Mollys ungebremste sinnliche Assoziationskraft, Stephan Daedalus' Intellekt und Leopolds Impulsivität mit. Penelope ist eine moderne junge Frau, deren endlos schäumende Wortkaskaden eine Menge europäischen Bildungsstoff, wie der Ulysses, in feinen Partikeln mitführt durch den Tag in Armeniens Hauptstadt Jerewan. Alle O's und Ochs der inneren Monologe, die Joycesche wuchernde, von Interpunktionen zerfetzte, zeitverdichtende Syntax, die noch heute ganz neu klingende Melodik einer Sprache, die in Bruchteilen von Sekunden zwischen Innen- und Außensicht der Figuren wechselt, all das hat Gohar Markosjan-Kasper für ihren ersten Roman ihrem Vorbild James Joyce listenreich abgeguckt. Eine auskalkulierte Romantechnik, ein witzig in ungezwungener Leichtigkeit tanzender Erzählton, zarte Anspielungen und übermütiger Blödsinn, armenische Geschichte und ironische Besichtigung des Erbes, das der Marxismus-Leninismus und die Russifizierung in den armenischen Köpfen hinterlassen hat, sind in einer bewundernswert gelungenen Übertragung von Gabriele Leupold zusammengekommen. Wie die unzähligen Wortspiele, die Stabreimfontänen, die Assoziationsketten, wie die kulturelle Synthese armenischer, sowjetischer und westeuropäischer Bildung in einer Momentaufnahme aus dem Jerewan von 1994 höchst unterhaltsam zusammenklingen, muß hier ausdrücklich der deutschen Übersetzung gedankt werden. Haben sich schon Generationen von Übersetzern am zeitgenössischen Englisch der Joyceschen Prosa abgearbeitet, so ist leicht vorstellbar, welche Herausforderung das Russische, das binnen zehn Jahren einen lexikalischen, stilistischen und semiotischen Sprachwandel von epochalem Ausmaß durchlaufen hat, für die literarischen Übersetzer darstellt; um so mehr, wenn die heimlichen Patrone diesmal Homer und James Joyce heißen.