Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Per Facebook zum Gottesdienst
Juden aus aller Welt beleben Berliner Synagoge

In jüdischen Gemeinden hierzulande wird oft beklagt, die Synagogen seien leer. Viele der zugewanderten russischsprachigen Juden hätten mit Religion nicht viel am Hut. Und jüngere Juden, häufig aus Israel, kommen auch nicht in die Gemeinde. Doch das muss nicht so sein. In der Berliner Synagoge am Fraenkelufer zeigt eine junge Initiative, wie Judentum modern gelebt werden kann.

Von Jens Rosbach | 17.09.2015
    Freitagabend, in der Synagoge am Berliner Fraenkelufer: In dem fast 100 Jahre alten Gotteshaus sitzen – inmitten dunkler Gebetsbänke und schwerer Thoravorhänge – drei Aktivisten: ein Mann mit blauer Hipster-Brille, ein Mann im orangenem Slim-Fit-Hemd und eine geschminkte Frau in engem Kleid. Das Trio ist nicht nur zum Beten hier, nein – es will auch über Politik diskutieren: nämlich über das Elend syrischer Flüchtlinge und die zahlreichen Solidaritätsaktionen an der Spree.
    "Es gibt wirklich eine ganz, ganz große Hilfsbereitschaft in Berlin. Und es gibt auch eine große Hilfsbereitschaft von Seiten religiöser Initiativen."
    Lobt die 32-jährige Nina Peretz die Willkommens-Projekte.
    "Also sehr viel ist christlich; es gibt jetzt den Aufruf muslimischer Verbände, die aktiv geworden sind. Und uns ist aufgefallen: Es gibt hier eine Lücke. Es gibt hier einfach keine großen Statements von den jüdischen Organisationen."
    An ihrer Seite: Ninas Ehemann – Dekel Peretz, der aus Israel stammt. Der 36-Jährige beobachtet, dass viele Juden hierzulande Angst haben vor den zumeist muslimischen Einwanderern aus Nahost.
    "Und dass Israel und Syrien einen langen Konflikt haben, ist keinem neu. Und es gibt natürlich eine besondere Angst unter Juden, dass dieser Konflikt jetzt mit syrischen Flüchtlingen nach Berlin gebracht wird."
    Dennoch haben Nina und Dekel Peretz einen Spendenaufruf ihrer Synagoge verfasst – damit die Asylsuchenden ein Dach über den Kopf finden. Mit dabei: der 29-jährige William Glucroft. Der US-amerikanische Journalist hält die Flüchtlingshilfe für selbstverständlich.
    "Weil wir Juden auch Flüchtlinge waren. Und wir auch Hilfe und Unterstützung von fremden Ländern notwendig waren. Und wir bekamen das nicht! Und deswegen haben wir eine Pflicht, eine Verantwortung für die Zukunft. Wir profitieren von Vielfalt, von neuen Leuten, von einer moralischen Gemeinschaft."
    Weitere Juden betreten die Kreuzberger Synagoge. Denn gleich beginnt der Shabbat-Gottesdienst. Dabei geht es ganz traditionell zu: Frauen und Männer sitzen getrennt; gebetet wird auf Hebräisch. Nach und nach füllen sich alle 200 Synagogen-Plätze. Unter den Besuchern sind auffallend viele junge Erwachsene aus der ganzen Welt. Sie feiern an diesem Tag Rosh-haShana, das jüdische Neujahrsfest.
    Die drei Aktivisten singen mit. Sie gehören zum neuen "Verein Freunde der Synagoge Fraenkelufer" – einer Initiative, die neuen Schwung in ihr Gotteshaus bringen, es "aufmischen" will.
    "Wir sorgen dafür, dass Judentum nicht schwer daher kommt, nicht nur als Pflicht daher kommt, sondern als Spaß und als Gemeinschaft."
    Nina Peretz, die beruflich in einem Wohlfahrtverband arbeitet, erinnert sich genau: Vor drei Jahren noch kamen nur wenige alte Beter zur Freitagabendfeier. Die Berlinerin und ihre Freunde waren frustriert von der Leere – und griffen auf einen Trick zurück: lecker Essen. Sie baten die Synagogengänger, nach dem nächsten Gottesdienst nicht einfach nach Hause zu gehen, sondern noch zu einem Shabbat-Mahl zu bleiben.
    "Dann haben wir sie gebeten: Bringt doch einfach das Essen mit, was kosher ist und was euch am besten schmeckt! Und das hat gut funktioniert. Weil du hast die große Vielfalt – weil jeder bringt das mit, was er sowieso am besten kochen kann oder gerne isst – auch viel aus seiner heimischen Küche. Und du hast Menschen, die sich beteiligen. Das heißt, du bekommst die Menschen dazu, aktiv zu sein."
    Das Trio postete die kulinarischen Shabbat-Termine auf Facebook, vor allem auf den Facebook-Seiten eingewanderter Israelis. Bis zu 30.000 sind es mittlerweile in der deutschen Hauptstadt: Studenten, Künstler und Startup-Unternehmer. Und viele von ihnen ließen sich von der unkonventionellen Synagogenwerbung anlocken. Dekel Peretz, ein Historiker, kam bereits vor 13 Jahren nach Deutschland. Er weiß, warum seine Landsleute das Gotteshaus aufsuchen – obwohl sie oft säkular sind.
    "Sie kommen, um eine Verbindung zu ihrem Zuhause zu haben. Vor allem Feiertage werden in Israel groß gefeiert, auch unter Leuten, die sich nicht als religiös-jüdisch definieren würden. Sie kommen her, um Lebenszyklus zu feiern, Bar Mizwa. Es ist so wie Konfirmation im Christentum."
    Mittlerweile unterhalte man sich in der Synagoge in sechs Sprachen, erzählen William und sein Freund Dekel.
    "Englisch, Deutsch, Hebräisch, Russisch, Jiddisch vielleicht manchmal."
    "Spanisch – argentinische Juden kommen auch manchmal. Also es ist ein großes Sprachenchaos manchmal."
    An diesem Freitagabend, zum jüdischen Neujahrsfest, wird im angrenzenden Saal besonders üppig aufgetragen: Nudelsalat, Couscous und Granatäpfel gibt es, zudem Wein und Wodka.
    "Wir haben Honig und wir tunken nachher die Äpfel in den Honig und sagen einen besonderen Segensspruch."
    "Der Honig ist für die Süße, ein süßes gutes Jahr. Ein Apfel, nehme ich an, ist Fruchtbarkeit, der Anfang, schon paradiesisch – wir wollen ein paradiesisches Jahr haben."
    Doch es wird nicht nur gefeiert. Die neue Synagogen-Initiative will auch neue Projekte besprechen für das anbrechende Jahr: Ende September wird das jüdische Laubhüttenfest begangen. Und im Oktober gibt es einen interreligiösen Kiez-Spaziergang. Zudem werden noch Referenten gesucht für den Shiur, für das Thora-Lernen, das jeden Samstag in der Synagoge stattfindet. Möchte vielleicht jemand über die Rolle der Frau im Judentum sprechen?
    "Oder auch, wie vor ein paar Wochen geschehen: Ich möchte über Sex im Judentum sprechen, dann sagen wir toll! Das ist auch ein jüdisches Thema, das gut angekommen ist, da haben wir ein bisschen mehr Leute als sonst gehabt in dem Unterricht. Oder Bill hier zum Beispiel hat eine Woche vorher einen Shiur gemacht zum Thema Humor, jüdischer Humor. Und natürlich war der auch super besucht. Weil jeder kennt Woody Allen – und da haben wir uns einfach mal eineinhalb Stunden lang damit auseinandergesetzt, warum die Juden eigentlich so witzig sind."
    Schnelle Hilfe für Flüchtlinge, lockerer Thora-Unterricht, üppiges Shabbatessen. Nicht jedem alteingesessenen Beter gefällt der neue Synagogen-Trend. Einige kritisieren, dass viele Besucher nur dann kämen, wenn es etwas zu essen und zu trinken gebe. Ansonsten bliebe das Gotteshaus oft leer. Andere kritisieren, dass auch Frauen unterrichten dürfen. Doch die meisten freuen sich über das neue Treiben am Berliner Fraenkelufer. So wie Rachel Kohn, eine Bildhauerin über 50.
    "Es ist auf jeden Fall immer schön, wenn man junge Leute da hat, die dann wiederum Kinder haben und so weiter, es wird wuseliger, es ist was los. Ich komme auf jeden Fall öfter her als vorher."
    Die Rosh-haShana-Feier geht bis in die Nacht. Doch ab Sonnenuntergang müssen alle Mikrofone ausgeschaltet werden – wie alle anderen elektronischen Geräte. Auch wenn die "jüdischen Hipster" ihr Synagogenleben per Facebook und iPhone organisieren – ihre Tradition geben sie dafür nicht auf.
    "Am Shabbat und am Feiertag kehren wir jetzt in die Ruhe des heiligen Tages ein und schalten alles aus – ich habe gerade mein Handy weg gelegt und freue mich, einen Tag ohne Handy zu verbringen."