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Per Mertesacker
"Es ist schlimm, wie wir Spieler in diesem System opfern"

Seine Aussagen über Druck im Fußball haben Diskussionen ausgelöst. Im Deutschlandfunk-Sportgespräch spricht Fußballer Per Mertesacker über Lernprozesse, Höhepunkte seiner Karriere und Erfahrungen, die er jetzt an junge Fußballer des Arsenal FC weitergeben möchte.

Per Mertesacker im Gespräch mit Klaas Reese | 27.05.2018
    Das Bild zeigt Per Mertesacker im Trikot des Vereins FC Arsenal im September 2017.
    Per Mertesacker im Trikot seines Vereins Arsenal FC, für den er jetzt in der Nachwuchsabteilung tätig sein wird. (imago / Kieran Galvin)
    Schon vor einem Jahr hat Mertesacker sich entschieden, die Karriere in London zu beenden: "Ich wollte dann auch nicht mehr zurück nach Deutschland, um auch nicht mehr Erwartungen zu schüren, die ich nicht erfüllen kann. Und dann war es zum Glück so, dass der Verein mir großes Vertrauen entgegenbringt."
    Mertesackers Verein, der Arsenal FC, hat ihm einen Job in der Nachwuchsabteilung angeboten, bei dem der ehemalige Spieler von Hannover 96 und Werder Bremen seine eigenen Erfahrungen einbringen möchte: "Das Komische ist, dass viel früher selektiert wird. Mit diesem Selektionsprozess, auch der Akademien, bist du mit 15, 16 schon aussortiert, wenn du bis dahin nicht gut bist. Wäre das damals der Fall gewesen, dann hätte ich keine Chance gehabt. Für manche, die sich etwas später entwickeln, ist das eine Tendenz, die nicht so gut ist."
    "Ich wollte den Talentbegriff schon immer sezieren"
    Mertesacker selbst hatte Glück, dass er in einer Phase, in der er aufgrund großer Wachstumsschmerzen nicht spielen konnte, weiter bei 96 in der Jugendabteilung spielen durfte. Deshalb mahnt er: "Wir sollten aufpassen, dass wir Leute auch nicht zu früh beurteilen. Das war auch bei mir der Fall. Ich wurde früh beurteilt, früh als zu schlecht beurteilt. Im Rückblick wollte ich deshalb schon immer den Talentbegriff, wie damit umgegangen wird, wie man damit konfrontiert wird, auch mal gerne sezieren und auch meinen Frieden damit finden."
    Dazu gehöre für ihn auch, anzuerkennen, dass sich der Fußball weiter entwickelt habe: "Das ist ein ganz ganz großes Thema, dass Fußball sich extrem verändert hat in den letzten fünfzehn Jahren. Als ich Jugendlicher war, wurde ich noch nicht von Beratern angesprochen als ich 13 war, ich hatte noch keinen Sponsorenvertrag mit einem Schuhausrüster. Es gab noch keine sozialen Medien. Ich konnte noch behütet aufwachsen und hab mir noch nicht so viele Gedanken gemacht: 'Was bedeutet das jetzt? Ich bekomm jetzt so und so viel Geld, ich bekomme so einen Schuhvertrag. Bin ich jetzt was ganz Großes?' Da gilt es wirklich aufzupassen."
    Per Mertesacker in der alten Heimat Hannover. Am Maschsee mit Blick auf das Stadion von Hannover 96.
    Per Mertesacker in der alten Heimat Hannover. Am Maschsee mit Blick auf das Stadion von Hannover 96. (Deutschlandradio / Klaas Reese)
    "Meistens verlieren nicht die Kinder die Grundhaltung - meistens sind es die Leute drumherum: die Eltern, die Berater, die dann wirklich verwirren und wirklich die falschen Werte auch mitgeben. Das sind wir als Verein natürlich gefordert, uns da wirklich einzusetzen. Was ist wirklich wichtig in der Ausbildung von Jugendlichen? Wo kann man wirklich Werte vermitteln? Wenn die erste Geschichte ist, wie können wir wem das meiste Geld geben, dann ist schon sehr, sehr viel zerstört."
    In England hat Mertesacker erkannt, dass es große Unterschiede zwischen der alten Heimat und der Wahlheimat gibt: "London ist ein ganz anderes Pflaster als zum Beispiel Hannover. Viele Familien geht es nicht so gut. Die können ihre Familien nicht so gut unterstützen. Vielleicht haben sie auch nicht die Arbeitsstelle, dass es ihnen viel Geld bringt. Das heißt, sobald die Kinder mit 16 oder mit 17 Geld verdienen dürfen, verdienen sie sofort mehr als die Eltern. Was bedeutet das in der Rangfolge? Das ist ganz, ganz schwierig und meist auch ungesund, wenn die Eltern dann auch aufhören zu arbeiten und denken: 'Mein Kind kümmert sich jetzt um mich.' Es sollte immer andersherum bleiben."
    Die Nationalspieler Mike Hanke (li.), Per Mertesacker (Mitte) und Malik Fathi (re.) unterstützen mit DFB Maskottchen Paule die neue DFB Schuloffensive.
    Per Mertesacker unterstützt das Projekt: Schule und Fußball. Ein starkes Team. (imago sportfotodienst)
    Wenn allerdings der Rollentausch zwischen Erwachsenen und Minderjährigen schon erfolgt ist, dann möchte Mertesacker gern helfen: "Ich möchte natürlich Werte vermitteln und versuchen auch dafür zu werben, dass nicht das Geld die entscheidende Rolle spielt - besonders für junge Menschen. Wir wissen, dass es auch ein Leben danach gibt und die Entwicklung von diesen Jugendlichen eben steuern und unterstützen können."
    Unterstützung, die er sich selbst früher gewünscht hätte: "Es gab und es gibt die Momente, wo du denkst: 'Es ist auch schon ein bisschen viel.' Du nimmst es so mit und du nimmst es als Normalität, aber nach 15 Jahren merke ich, dass ich jetzt einen neuen Schritt gehen möchte und helfen möchte, jungen Spielern mit auf den Weg zu geben, wie es sich zu verhalten gilt und wie man sich am Besten weiterentwickelt."
    "Eine tolle Aufgabe, positiven Einfluss auf Jugendliche zu haben"
    Nach einem Interview mit dem Magazin "Der Spiegel", in dem der Abwehrspieler kurz vor seinem Karriereende offen über großen Druck gesprochen hatte, wurde Mertesacker oft auch von Jugendlichen angesprochen, die das Interview in der englischen Übersetzung gelesen hatten. Auch Mitspieler sprachen ihn an, wunderten sich über die Probleme, die der Nationalspieler lange Jahre mit sich herumgetragen hatte, gaben ihm aber auch zu verstehen, dass sie hinter ihm stehen.
    Aus diesen Rückmeldungen zog Per Mertesacker im Deutschlandfunk-Sportgespräch seine Lehren: "Jeder hat eine Geschichte. Jeder hat etwas vor dem Spiel, um diese Druckmomente eben auch auszugleichen, um sie auch zu erleben. Darüber zu sprechen und eben nicht eiskalt dazustehen und zu sagen: 'Mir geht es gut. Ich hab nichts. Ich will nur Fußball spielen.'"
    Mertesacker hat deshalb einen Wunsch für die Zukunft: "Sich auf eine Höhe zu begeben, authentisch zu sein, hilft den jungen Spielern. Sie sollen sich gut betreut und gut unterstützt fühlen und nicht versuchen, Dinge wegzudrücken. Dinge auch beiseite zu drängen, das hat im Fußballbusiness nichts verloren. Ich glaube, mit der ganzen Aufmerksamkeit, die auch schon auf die jungen Spieler zukommt, sollte man da mehr drüber reden und verstehen. Die Jungs müssen sich erstmal selbst verstehen. Was für Gefühle kommen da raus? Wie sehe ich mich selber? Um dann auch wie ich damit umzugehen, das auch teilweise zu besiegen und deshalb ist das auch eine tolle Aufgabe, positiven Einfluss auf Jugendliche zu haben."
    "Ich hätte mir nicht vorstellen können, damit früher rauszukommen"
    Würgereize vor dem Spiel hat Mertesacker lange Zeit als eine normale Begleiterscheinung empfunden, denn ein Spiel vor 60.000 Zuschauern sei eben eine bedrückende Situation. "Das musste ich dann einmal rauslassen. Es war dann dieser eine Moment, der mich erschüttert hat, der mich im Endeffekt auch wacher gemacht hat vor dem Spiel. Ich konnte damit gut umgehen, aber es war auch eine sehr intensive Zeit und ich hätte mir während meiner Karriere wohl nicht vorstellen können, darüber zu reden."
    Negative Reaktionen habe er nur aus der Presse erfahren. Es gab von vielen Kollegen Zustimmung. Viele auch, die sich besorgt gezeigt haben. Denen sagte Mertesacker, es gehe ihm blendend:
    "Ich will ja gar nicht, dass alle mich verstehen. Das kann ich auch nicht verlangen, will ich auch gar nicht. Ich glaube, es war einfach nur die Herausforderung, die Gesellschaft damit zu konfrontieren. Wie wir damit jetzt umgehen, das ist jetzt der nächste wichtige Schritt. Viele können nur einmal darauf reagieren und sagen: "Warum hat er nicht einfach aufgehört?" Aber manchmal ist es halt nicht so einfach, wie man es sich ausmalt." Für Mertesacker sei es das schönste Signal gewesen, dass der Verein ihm nach dem Interview die Rückmeldung gab, dass man sich genau wegen solcher Aussagen für ihn als Mitarbeiter in der Nachwuchsabteilung entschieden habe.
    "So richtig interessiert hat es keinen"
    Mit Blick auf die Themen Homosexualität und Depression im Fußball zeigte Per Mertesacker sich schockiert: "Das ist schon schlimm, wenn wir Spieler und Menschen opfern in diesem System, wo man denkt, das ist jetzt ein großer Aufschrei für eine Woche, danach haben sich dann noch ein paar andere geoutet, aber so richtig interessiert hat es jetzt keinen, was das mit einem macht wie jetzt im Fall Depression."
    Auch für sich ganz persönlich haben diese Erfahrungen zu einem Lerneffekt geführt: "Dass die Spieler jetzt einfach so unbekannt sind, das hat mich natürlich auch erschüttert, wie man wirklich gar nichts mitbekommen hat, wie man denkt, man ist Freund von jemandem, aber man weiß gar nichts über seine Krankheit, man weiß gar nichts darüber, was da in einem passiert. Deswegen wird es Zeit, dass wir mehr Geschichten teilen. Da kommt es nicht darauf an, wie viel Geld wir verdienen oder dass Leute denken, dass wir Roboter sind. Ich glaube, wir sollten wieder in eine etwas andere Richtung gehen, wo wir wissen, das ist jetzt keine gesunde Entwicklung."
    Mertesacker erkennt aber auch an, dass man nicht alles im Fußballbusiness ändern kann und auch nicht sollte: "Es ist schwierig. Ich habe es ja auch selbst erlebt, dass ich auch immer selbst Herausforderungen wollte, sie auch verlangt habe, ich auch große Erwartungen an mich selber habe. Vielleicht hat es auch dazu geführt, dass ich mir den einen oder anderen Brechreiz geholt habe. Aber ich würde es immer wieder tun für das, was der Fußball mir gegeben hat, für das was mir das ganze System gegeben hat. Natürlich an Geld, aber auch an Freude, an diese Momente, auch die Siege zu genießen, auch diese Erleichterung, dass das Spiel vorbei ist. Es gibt noch immer sehr sehr viele Menschen, die wollen Profifußballer werden. Die setzen alles daran und vielleicht gibt es Menschen, die an einem Weg arbeiten, der vielleicht auch etwas gesünder wird."
    Auf der Fanmeile: v.l.: Bastian Schweinsteiger, Per Mertesacker, Torwart Manuel Neuer, Kevin Grosskreutz mit WM-Pokal und Deutschlandfahne Empfang der deutschen Fussball Nationalmannschaft auf der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin.
    Bastian Schweinsteiger, Per Mertesacker, Manuel Neuer, Kevin Grosskreutz mit dem WM-Pokal. (imago sportfotodienst)
    Dazu gehöre auch ein gesunder Teamgeist, einen Teamgeist wie ihn Mertesacker besonders bei der Weltmeisterschaft in Brasilien mit der deutschen Nationalmannschaft erlebte. Natürlich sei auch vorher schon oft von Teamgeist die Rede gewesen, aber die Situation in Südamerika sei besonders gewesen, etwa nach dem schwierigen Spiel gegen Algerien, das das DFB-Team nur knapp gewinnen konnte:
    "Das sind solche magischen Momente und die sind gerade in Brasilien so oft passiert, dass man sich einfach gedacht hat, dass es dieses Mal ein anderes Gefühl ist, dass wir uns gegenseitig so stark respektieren und dass wir alle merken, wir brauchen jeden einzelnen Spieler. Egal ob einer spielt, reinkommt oder auf der Bank sitzt. Das war für mich das erste Mal, dass ich das so stark gespürt habe. Wir hatten ein besonderes Band. Als Mannschaft sich in diesen acht Wochen so zu finden, weil man aus so verschiedenen Lagern kommt. Es war wichtig, dass wir so zusammen waren, so weit weg zu Hause, wo man dachte, man kann es eh nicht schaffen in Südamerika, es sind so schwierige Bedingungen.
    Für Russland "neue Dynamiken" nötig
    Aber irgendwie hat die Mannschaft immer die richtigen Antworten gefunden. Und wenn du das merkst auf dem Weg ins Finale, dass man immer die richtigen Antworten finden kann und dass andere Mannschaften irgendwie nichts dagegen tun können, egal wie gut sie spielen, egal wie schlecht wir spielen. Das hat uns dazu gebracht, den Titel zu gewinnen und es war eine große Befriedigung für jeden einzelnen, der dabei war. Das aber jetzt zu kopieren auf Clubebene, und auch jetzt in Russland, das ist wieder eine ganz neue Story, da müssen sich jetzt wieder neue Dynamiken, ein neuer Mannschaftsgeist finden."