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"Personaldebatten haben immer auch etwas ziemlich Zerstörerisches"

Wolfgang Thierse (SPD) hat das rasche Vorgehen der SPD-Spitze bei der Auswahl einer neuen Parteiführung verteidigt. Die Kritik daran halte er für falsch. Die Partei selbst sieht Thierse in einem "Zustand tiefer Erschütterung".

06.10.2009
    Bettina Klein: Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse. Ich grüße Sie, Herr Thierse!

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein!

    Klein: Die Kritik haben wir gerade gehört. Kein guter Neustart, fast putschistisch, Selbstnominierungen. Sind Sie glücklich mit der Art und Weise, wie der Personalwechsel jetzt zustande kam?

    Thierse: Ich halte die Kritik für falsch. Wie sollen Personalvorschläge entstehen? Da müssen doch diejenigen, die infrage kommen, auch miteinander reden, ob sie miteinander es können. Das kann man doch nicht auf dem offenen Markt vollziehen. Wochenlange Diskussionen über Personen verbrennt diese Person. Es ist noch nie anders gewesen, bei keiner Partei, als auf diese Weise, dass Personen miteinander reden, dass man zusammen sagt, ein Vorschlag, der und der könnte miteinander machen, wir bilden ein Team. Und dieser Vorschlag wird dann ganz formell den Gremien unterbreitet, das Präsidium diskutiert darüber, der Parteivorstand diskutiert darüber, nominiert die Vorgeschlagenen, und dann wird der Parteitag im November darüber abstimmen. Ich halte das für ein durchaus übliches Vorgehen, so wie es früher in der SPD war und wie es bei allen anderen Parteien ist. Personaldebatten haben immer auch etwas ziemlich Zerstörerisches, Quälendes, und deswegen muss man sie behutsam so führen, dass Personen dabei nicht verbrannt werden.

    Klein: Aber Teile der Basis fühlen sich ja offensichtlich nicht miteinbezogen, sondern ausgeschlossen. Muss man das nicht ernst nehmen, Herr Thierse?

    Thierse: Was ist die Basis? Soll man jetzt viele Wochen über viele Namen miteinander diskutieren unter Beteiligung der Journalisten, und zwar nicht nur freundlich gesonnene Journalisten? Ich jedenfalls finde, dass wir gestern nach langer intensiver Diskussion auch am vergangenen Montag eine intensive Diskussion im Parteivorstand hatten und wir jetzt ein Team vorgeschlagen haben, das unser Zutrauen und unser Vertrauen verdient.

    Klein: Wie stark ist denn ein Team, wie stark ist ein Parteivorsitzender, der 77 Prozent der Stimmen bekommt?

    Thierse: Was hätten Sie mich gefragt, wenn er 100 Prozent bekommen hätte? Nein, die SPD ist in einem Zustand tiefer Erschütterung. Wir haben bei dieser Wahl dramatisch verloren, in alle Richtungen. Dass da die Emotionen hin und her gehen, Enttäuschung, Wut, Verzweiflung, neue Entschlossenheit, das kann vernünftigerweise, redlicherweise nicht zu 100-Prozent-Ergebnissen führen. Die hätte ich fatal gefunden. Nein, das sind ganz ehrliche Ergebnisse, die dieses Team, das wir da vorgeschlagen haben und das sich am Parteitag zur Wahl stellt, das hat einen Vertrauensvorschuss bekommen und muss sich dieses Vertrauens erst noch richtig würdig erweisen durch härteste Arbeit.

    Klein: Die vor allen Dingen worin jetzt bestehen muss?

    Thierse: Also ich denke, dass diese Partei gewissermaßen wieder aufgerichtet werden muss. Wir haben doch, wenn ich es dramatisch nennen darf, einen beispiellosen Niedergang erlebt. In den letzten zehn, zwölf Jahren haben sich die Wähler der SPD halbiert, wir haben ein Drittel der Mitglieder verloren. Wir müssen wieder neu zu uns finden und gewissermaßen neu definieren, wie die SPD als linke Volkspartei sich positioniert, welche Politik wir konkret anbieten, wie wir neu Glaubwürdigkeit erringen, wie wir uns verständlicher machen. Denn ich glaube, dass das Grundsatzprogramm der SPD, das Hamburger Programm, auch das Regierungsprogramm, die sind wirklich gut, aber Menschen haben uns nicht mehr verstanden, haben uns nicht mehr geglaubt, was wir wollen. Und deswegen ist die Arbeit an unserer Glaubwürdigkeit die wichtigste Aufgabe, die wir unter einer neuen Führung angehen müssen.

    Klein: Heißt Arbeit an Glaubwürdigkeit, die Partei, die Sie als linke Partei bezeichnen, muss sich weiter dahin bewegen, was man gemeinhin als links nennt in der deutschen Demokratie?

    Thierse: Wir sollten uns nicht selber definieren immer mit Blick auf andere, also gewissermaßen die eigenen Positionsbestimmung abhängig machen von dem, was andere über uns sagen und wie andere sich positionieren. Nein, die linke Volkspartei heißt, wir sind eine Partei, die gewissermaßen von der Mitte bis nach links Position einnimmt, die die Partei der sozialen Gerechtigkeit ist, eine realistische Politik für mehr soziale Gerechtigkeit formuliert. Die Antworten gibt darauf, wie die Globalisierung mit ihren hoch problematischen widersprüchlichen Folgen so gestaltet wird, dass nicht immer die Schwachen vor allem die Zeche zahlen. Solche Antworten müssen wir überzeugender geben, als es offensichtlich in der Vergangenheit gelungen ist.

    Klein: Können Sie ein Beispiel dafür geben, Herr Thierse, wo man eine linke Antwort geben will und sich gleichzeitig von der Linkspartei abgrenzen möchte, mit der sie sich die Oppositionsbänke ja nun teilen will in Zukunft?

    Thierse: Ich will es anders sagen: Ich fürchte mich vor einem Überbietungswettbewerb in Sachen Linkspopulismus. Diesen Wettbewerb sollten wir nicht antreten, da sind die Entertainer Oskar Lafontaine und Gregor Gysi immer besser. Wir müssen realistische und realisierbare Antworten geben, nicht die Losung wie bei der Linkspartei, Reichtum für alle, sondern wie wir Verteilungsgerechtigkeit in diesem Lande erreichen mehr. Und da geht es um Steuerpolitik, gerechte Steuern, bei den Kleinen wenig, bei den Großen mehr. Wir müssen noch einmal neu diskutieren, wie die Bilanz unserer elfjährigen Regierungspolitik gewesen ist. Es geht nicht darum, dass wir nun eine 180-Grad-Kehrtwendung vornehmen, dadurch gewinnt man nicht Glaubwürdigkeit, indem man sich als Partei der Wendehälse darstellt, sondern indem man kritisch diskutiert, was haben wir erreicht. In dieser Agenda 2010 sind viele positive Dinge erreicht worden, aber wo müssen wir auch korrigieren, wo sind die Wirkungen, die wir erhofft, die wir erstrebt haben, nicht eingetreten, sondern problematische Wirkungen, also bei Hartz IV oder bei der Rente mit 67. Darüber müssen wir diskutieren, nicht die 180-prozentige Kehrtwendung, sondern eine nüchterne Bilanz, Diskussionen von Korrekturen und Stehen zu dem, was wir in den vergangenen elf Jahren für richtig gehalten haben und was insofern auch wichtig war.

    Klein: Herr Thierse, die SPD soll keine Partei der Wendehälse werden, sagen Sie. Eine Wende steht nun aber bevor, denn der künftige SPD-Vorsitzende, Sigmar Gabriel, hat gestern klipp und klar gesagt, seine Tendenz ist, Bündnisse mit der Linkspartei durchaus auch auf Bundesebene 2013. Das ist ja eine Veränderung.

    Thierse: Aber ist es eine so große Veränderung?

    Klein: Na, bisher galt auf Bundesebene: Nicht mit der Linkspartei, niemals!

    Thierse: Ja, aber so groß ist die Veränderung nicht, und ich habe etwas dagegen, dass wir uns auf die Linkspartei fixieren. Es ist klar, nach der Wahl am Sonntag ist dieses bundespolitische Tabu weg, aber man soll es auch nicht umkehren. Es gibt auch keine Pflicht zur Koalition mit Linksparteien, sondern wir behandeln sie wie eine ganz normale, stinknormale, konkurrierende gegnerische Partei, wo immer zu prüfen ist, kann man mit ihr zusammenarbeiten, kann man mit ihr nicht zusammenarbeiten. Das, was es auf der Länderebene gegeben hat, im Land Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen-Anhalt, das wird es nun möglicherweise auf anderen Ländern geben, aber wie gesagt, die Möglichkeit zur Koalition, aber nicht der Zwang zur Koalition, also das, was ich immer für richtig gehalten habe: die inhaltliche Auseinandersetzung mit anderen Parteien und darunter auch mit der Partei der Linken zu betreiben, nicht mehr und nicht weniger halte ich für sinnvoll.

    Klein: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse heute Morgen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Bedanke mich für das Gespräch, Herr Thierse!

    Thierse: Auf Wiederhören, Frau Klein!