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"Facing India" im Kunstmuseum Wolfsburg
Sechs Künstlerinnen interpretieren ihre Heimat

Indien ist ein Land der Extreme: höchste Wachstumsraten und größte Armut, die zweithöchste Einwohnerzahl weltweit, aber nur eine sehr kleine zeitgenössische Kunstszene. Sie fungiert vor allem als Gewissen des Landes, wie das Kunstmuseum Wolfsburg nun zeigt.

Von Carsten Probst | 29.04.2018
    Eine Besucherin betrachtet die Kunstwerke "Portrait Nirmila" (l) und "Portrait Nitu" der indischen Künstlerin Bharti Kher. Die Ausstellung "Facing India" im Kunstmuseum geht vom 29.04. bis zum 07.10. und zeigt die Arbeiten von sechs Künstlerinnen, die eine weibliche Sicht auf Indien repräsentieren.
    Die Kunstwerke "Portrait Nirmila" (l) und "Portrait Nitu" der Künstlerin Bharti Kher in der Ausstellung "Facing India" im Kunstmuseum Wolfsburg (dpa/Hauke-Christian Dittrich)
    "Ich kam 1992 nach Delhi, in einer Zeit großer Veränderungen in Indien – sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche. Ich gehörte zur jungen Künstlergeneration, und die Kunstszene dort war kaum vorhanden. Ich hatte Malerei in England studiert, aber das brachte mich dort nicht weiter. Ich fühlte mich isoliert und musste erstmal herausfinden, was das überhaupt für ein Ort ist, an dem ich dort angekommen war. Eigentlich wollte ich nicht länger bleiben als ein Jahr, aber inzwischen lebe ich seit 25 Jahren in Delhi."
    Bharti Kher wurde 1969 in London geboren, studierte dort Kunst und kehrte erst 1992, mit 23 Jahren, in das Land ihrer Eltern zurück. Ihr von der europäischen Ausbildung geprägter Blick auf Indien hat ihre Kunst verändert, von der Malerei zur Objektkunst. Sie möchte Geschichten erzählen, sagt sie, und damit auch den Menschen außerhalb einen Einblick in die Zustände in dem Land geben. Damit gehört sie im Westen mittlerweile sicherlich zu den Bekanntesten unter den hier gezeigten sechs Künstlerinnen in Wolfsburg. Mitten in der großen Ausstellungshalle des Kunstmuseums steht eine U-förmige kopfhohe Mauer aus schwarzen Ziegeln. Kher hat sie "Deaf Room" genannt, "Taubes Zimmer". Es steht geradezu paradigmatisch, als ein Mahnmal da für die unzähligen Stimmen geschändeter Frauen in Indien. Gleich dahinter findet sich ihre skulpturale Arbeit "Six Women", aus Gips naturnah nachgebildete, geschundene Körper von Sexarbeiterinnen aus Kalkutta.
    Ein Mahnmal für die geschändete Frauen in Indien
    Bhati Khers feministische Perspektive auf Indien korrespondiert mit dem territorial-politischen Ansatz der 1973 geborenen Reena Saini Kallat. Sie ist gleich im Eingangsbereich mit einer großen Wandinstallation vertreten, in der sie auf einer Weltkarte aus Wollfäden die internationalen Flüchtlingsströme nachzeichnet. In einem großen Kabinett nebenan hat sie merkwürdig zusammengesetzte Bilder von Tieren und Pflanzen aufgehängt, den Wappensymbolen von gespaltenen Staaten.
    "Was bedeutet es, dass wir als Menschen Eigentum an Naturformen beanspruchen, die im Grunde niemandem gehören? Ich meine diese Art nationalistischer Ideologien, die sich der Naturformen bedienen, um sich selbst darzustellen. Diese Bilder hier bestehen allesamt aus solchen hybriden Naturformen – Tiere, Bäume, Pflanzen – die sich aus Natursymbole politisch geteilter Staaten ergeben oder von Staaten, die gegeneinander Krieg führen um natürliche Ressourcen."
    Geradezu pathetisch, aber nicht minder eindrücklich orchestriert demgegenüber Vibha Galhotra ihre Anklage über die anhaltenden Umweltverbrechen in Indien.
    Ein schwarzes Tuch als Symbol für die Umweltverschmutzung in Delhi
    "Was sie eigentlich macht ist, sie nimmt den Fluss Yamuna in Delhi, der in Delhi selbst nur noch ein bis zwei Prozent des realen Flusswassers führt, der Rest sind private und industrielle Abwässer, vor Delhi ist er noch einigermaßen sauber. Und sie geht mit einem Floß auf das Wasser und nimmt ein weißes Tuch und zieht es vor Delhi durch den Fluss und dann macht sie das auch noch mal in Delhi selbst, und was rauskommt ist ein komplett schwarz eingefärbtes Tuch als Beweis der irreversiblen Verschmutzung."
    … erläutert Ausstellungskuratorin Uta Ruhkamp eine sound- und bildgewaltige Videoinstallation aus dem Werk Vibha Galhotras, die zugleich aber auch die Gratwanderung dieser Ausstellung sehr sinnfällig macht. Denn Galhotra bezieht sich bei aller Anschlussfähigkeit ihrer betont westlichen Ästhetik auf zahlreiche gelehrte, mythische und religiöse Traditionen Indiens, die Nichtkenner des Landes kaum in ihrer Tragweite identifizieren können. Das Verhältnis von fremdem und eigenem Blick bleibt unter dem Universalismus der hier verhandelten Krisenthemen ungelöst.
    Am eindringlichsten gelingt dieser Brückenschlag letztlich der jungen Künstlerin Tejal Shah, die auch schon auf der documenta mit einer ihrer Arbeiten vertreten war: Mit "Between the Waves", einer Fünf-Kanal-Videoinstallation, in der seltsam anmutende Wesen, denen man kein Geschlecht zuordnen kann, die gegenwärtige Welt erkunden und sich schamfrei ihren Instinkten hingeben. Das faszinierte Befremden gegenüber ihren Figuren rührt auch an das westliche Normbewusstsein und lässt die indischen Fragen sehr klar als die europäischen erscheinen.