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Pessimist, aber kein Zyniker

Als der Schriftsteller Richard Yates 1992 starb, war sein Werk fast vergessen. Inzwischen zählt er zu den großen Autoren des 20. Jahrhunderts. Auch hierzulande werden seine Romane und Erzählungen als außerordentliche Darstellungen des amerikanischen Durchschnittslebens neu entdeckt.

Von Wolfgang Schneider | 04.01.2009
    Sein Roman "Revolutionary Road" aus dem Jahr 1961, eine fulminante Demontage der Vorstadt-Idylle, kommt Anfang nächsten Jahres in die Kinos - opulentes Psychodrama mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio.

    Richard Yates ist Pessimist, aber kein Zyniker. Der Zyniker schreibt und spottet von der Warte der Desillusion aus. Yates schildert die Menschen im Zustand der Hoffnung. Seine Protagonisten machen sich schöne Bilder vom Leben zurecht, denen ihre Wirklichkeit weit abgeschlagen hinterher hinkt; sie nehmen den amerikanischen Traum in Bonbonfarben wörtlich. Als Meister der Psychologie, der ganz ohne Psychologisieren auskommt, baut Yates seine Figuren auf, so dass man spürt: Das Wesentliche literarischer Menschendarstellung ist nicht die Beschreibung von Nasen und Gesichtern, Körperformen, Kleidung und all den sozialen Signalen, die jemanden vom Haarschnitt bis zur Schuhsohle lesbar machen - sondern vielmehr das zarte Gespinst von Erwartung und Hoffnung, Ambition und Enttäuschungsbereitschaft, das jeden unsichtbar umgibt. Richard Yates macht es spürbar wie kaum ein anderer; daraus ergibt sich die Fallhöhe seiner Geschichten.

    In seinem zweiten Roman "Eine besondere Vorsehung", erschienen 1969, hat der Trostlosigkeitskünstler wieder eine ideale Ausgangssituation gefunden, um zu zeigen, wie sich Menschen gegenseitig überfordern. Es beginnt in New York, 1944. Alice Prentice bekommt den heiß ersehnten Besuch von ihrem Sohn. Bevor der junge Mann als Soldat nach Europa an die Westfront abmarschiert, gerät er noch einmal ins Sperrfeuer kompensierender Mutterliebe:

    "Oh Bobby", sagte sie. Ihr gekräuseltes graues Haar reichte ihm kaum bis zu den Klappen seiner Brusttaschen, und sie war zerbrechlich wie ein Spatz, doch die Kraft ihrer Liebe war so groß, dass er sich wie ein Boxer wappnen musste, um ihre Wucht abzufangen. "Du siehst wunderbar aus", sagte sie. "Lass dich ansehen." Und er ließ unangenehm berührt zu, dass sie ihn auf Armeslänge von sich weghielt und betrachtete. "Mein Soldat", sagte sie. "Mein großer, wunderbarer Soldat."

    Yates meinte einmal, dieses erstes Kapitel sei das schwerste Stück Arbeit gewesen, das er in seinem Schriftstellerleben geleistet habe. Großartig ist es in seiner Verdichtung, seiner Geladenheit mit widerstreitenden Gefühlen.

    Richard Yates wurde 1926 in Yonkers bei New York geboren; schon früh wurden auf spezifische Weise die Voraussetzungen für seine späteren Werke geschaffen: Die Ehe der Eltern zerbrach nach einigen alkoholisierten Jahren. Mit Mutter und Schwester zog er fortan von Wohnung zu Wohnung, von Ort zu Ort. Die Mutter zählte sich zur Bohème und glaubte an ihr Talent als Bildhauerin - man darf sich das alles ähnlich vorstellen wie in diesem Roman.

    In ihrer Jugend entdeckt Alice, das siebte Kind eines armen Kurzwarenhändlers aus der Provinz, die Leidenschaft für die Kunst und die Liebe zur großstädtischen Eleganz. Mit der Euphorie des Aufbruchs geht sie nach New York, Stadt ihrer Träume, und wird erst einmal Modezeichnerin. Das Elend beginnt, als sie mit George Prentice den falschen Mann heiratet.

    Aber wie konnte sie so blind für die Langweiligkeit des Mannes gewesen sein? Wie hatte sie übersehen können, dass er ihr Talent für nichts weiter als ein bezauberndes kleines Hobby hielt und dass es sein unaufhörlich diskutierter, größter Ehrgeiz im Leben war, zum stellvertretenden Leiter der Verkaufsabteilung einer so monströsen und vollkommen unverständlichen Organisation wie den Vereinigten Werkzeugen und Werkzeugmaschinen befördert zu werden?
    Und als wäre das noch nicht genug, wie hätte sie obendrein vorhersehen sollen, dass er, einmal verheiratet, immer mal wieder verschwinden und erst nach drei oder vier Tagen zurückkommen würde, nach Gin stinkend und mit Lippenstiftflecken auf dem Hemd?

    Alice lässt sich scheiden. Amerika zur Zeit der Wirtschaftskrise und der Depression der Dreißiger Jahre - das ist jedoch keine gute Zeit für eine alleinerziehende Mutter mit dem Ehrgeiz zur Bildhauerin. Die Schulden wachsen, ein Umzug folgt auf den anderen. Alice bezeichnet ihr Leben einmal als "hysterische Odyssee", erträglich nur durch die "wunderbare Gemeinschaft mit ihrem kleinen Jungen". Robert aber wächst auf im Gefühl, dass etwas nicht stimmt.

    "Wir sind anders, Bobby", erklärte sie, aber die Erklärung war nicht nötig. Wo immer sie lebten, er war stets der einzige neue Junge und der einzige arme Junge, der einzige Junge, bei dem es zu Hause nach Schimmel und Katzenkacke und Plastilin roch und wo statt eines Autos Statuen in der Garage standen, der einzige Junge, der keinen Vater hatte. - Aber er liebte sie auf romantische Weise und mit einem nahezu religiösen Glauben an ihre Tapferkeit und Güte.

    Mit selbstzerstörerischer Hartnäckigkeit wartet Alice auf den Durchbruch, der sich nicht einstellen will. Was allenfalls ein paar Dollar einbringt, sind ihre "Garten-Skulpturen" - Faune oder Gänsemädchen ohne künstlerischen Wert.
    Von Hoffnungen verblendet, missglücken ihr auch die Beziehungen mit Männern. Eines Tages verliebt sie sich in einen Briten mit überaus kultivierten Manieren. Sie ziehen zusammen in ein großes Haus voller erlesener Möbel. Bald aber geht der Mann nach Europa auf eine Geschäftsreise, von der er nie zurückkehrt, nichts als einen Haufen Schulden hinterlassend.

    Es gehört zum Thema der Illusionsbildung, dass das Leben der anderen immer gelungener und glücklicher erscheint als das eigene. Sobald aber eines dieser scheinbar harmonischen Paare genauer unter die Lupe genommen wird, kommt unweigerlich auch dort erhebliches Unglückspotential ans Licht. Wie bei Alice' Schwester Eva, die eine späte Erfüllung in der Ehe mit dem Geschichtsprofessor Owen Forbes gefunden zu haben scheint. Als Alice aber notgedrungen mit Robert bei Eva Unterschlupf sucht, zeigt sich: dieser Owen ist zu manchem anderen Übel ein missmutiger Alkoholiker, der nach einer Trockenphase gerade einen schweren Rückfall erlitten hat.

    Alice hält es mit ihm unter einem Dach nicht lange aus; und ihre neuerliche Flucht mit Robert gehört zu den beeindruckendsten Passagen des Romans. Sie müssen mit ihren Koffern eine Schnellstraße entlang laufen, die sich in eine Großbaustelle verwandelt hat - das aufbaufreudige Amerika des New Deal liegt in symbolischem Widerstreit mit zwei verlorenen Menschen, die durch eine Staubwüste irren.

    Der Lärm der Presslufthämmer war ohrenbetäubend, und die weiße Staubwolke wirkte undurchdringlich. Sie würden hindurchgehen müssen.
    Als sie die Baustelle erreichten, waren sie sofort von weißem Staub eingehüllt. "Ich muss wieder stehen bleiben, Schatz", sagte sie, aber er hörte sie wegen des Krachs der Presslufthämmer nicht. "Bobby, warte", rief sie, den Tränen nahe, und er drehte sich um und stellte die Koffer ab.
    "Ist der Staub nicht furchtbar?"
    "Was?"
    "Dieser Staub. Ich kann kaum atmen."
    "Wir tun so, als ob es nicht so wäre", sagte er.
    "Was?"
    "Ich sagte, wir tun so, als ob es nicht so wäre. Wir tun so, als ob es richtig kalt wäre und wir ganz schnell gehen müssen, damit wir nicht frieren. Wir tun so, als wäre der Staub ein großer Schneesturm, ein Blizzard, und wir müssen durch."
    Sie wollte gerade gereizt "Oh, bitte, Bobby", sagen, aber dann schaute sie in sein ernstes, verschwitztes Gesicht, und er hatte sie für sich gewonnen.
    "Brrr!" Er schauderte und schlang die Arme um sich. "Wenn wir hier noch länger bleiben, werden wir erfrieren. Gehen wir!"
    So tun, als ob es nicht so wäre! Und das Eigenartige war, dass es beinahe funktionierte. Ihr war schwindelig, sie erstickte fast, der Schweiß lief ihr in Strömen über den Rücken, aber sie tat ihr Bestes, um sich vorzustellen, es wäre kalt, und es klappte beinahe."


    Wie hält man all die Fehlschläge und Zumutungen aus? "So tun, als ob es nicht so wäre" - die Formel dieser Szene steht wie ein bitteres Leitmotiv über dem Leben der Alice Prentice. Sie beherrscht vor allem eine Kunst: die der Verdrängung. Nur ist sie dabei auf immer mehr Alkohol angewiesen, um die Schieflage von Traum und Wirklichkeit zu stabilisieren. Das Beschreiben von Trinkverhalten gleicht bei Yates, der selbst an seiner Sucht zugrunde ging, einem Todesmotiv; es ist wie eine unheilvolle Melodie, die in jedem seiner Romane wiederkehrt.

    Autobiographischen Hintergrund haben auch die Schilderungen von Roberts Kriegerlebnissen, die mehr als die Hälfte des Romans ausmachen. Yates war selbst Soldat im Zweiten Weltkrieg, und wie Prentice holte er sich eine Lungenkrankheit, an deren Folgen er bis ans Lebensende litt. Allerdings ist er als Autor durchaus nicht das, was man einen "Kriegsschriftsteller" nennt. Er schildert die Vorgänge mit zivilem Blick - weniger auf "action" als auf die Psychologie seiner Hauptfigur fixiert. Von der Euphorie des Sieges und der großen Sinngebung des Krieges, also der Befreiung der Welt von einer massenmörderischen Diktatur durch die Truppen der Demokratie, ist wenig zu spüren. Für Robert, der seine Komplexe und Versagensängste auch an der Front nicht loswird, gipfelt der Zweite Weltkrieg stattdessen in einer grotesken Rauferei mit einem Kameraden, von dem er sich gemobbt fühlt.

    Im Frühjahr 1945 bahnte sich die überlegene Militärmaschine der Alliierten den Weg des Sieges. Wie mühsam und lebensgefährlich der Vormarsch jedoch im Einzelnen war, kann man in diesem Roman erfahren; die GIs sind hier noch nicht die souveränen, Kaugummi und Schokolade verteilenden Sieger. Dreck, Kälte, Nässe, Schlaflosigkeit und Angst, wechselnd mit Apathie, setzen ihnen zu, während sie Kilometer für Kilometer deutsche Städte und Dörfer erobern. An einer Stelle wird der Todesschrecken des "friendly fire" geschildert:

    Am schlimmsten, da waren sich alle einig, war der Tag gewesen, als ihre eigene Artillerie auf sie geschossen hatte - der Tag, an dem Krupka getötet und Oberleutnant Coverly evakuiert worden war. Klein war es, der mehrmals erzählte, was mit dem Oberleutnant passiert war: "Er ist durchgedreht, einfach so. Als die erste Granate explodierte, sind wir alle auf die Straße und haben's irgendwie auf die Seite des Hauses geschafft; dann kam die zweite und dann die dritte - aber das waren Blindgänger. Es war zum Verrücktwerden: Wir warten auf die Explosion und hören immer nur dieses Klank, a-wank, wank, wank - einfach so, und diese gottverdammte Granate rollt über die Straße. Sie war so klein, versteht ihr? Eine Eins-null-fünf, wirklich eine kleine, schmale Granate - und sie rollt auf der Straße auf uns zu und bleibt dreißig Zentimeter vor Coverly liegen. Er langt hinunter und berührt sie, und er sagt: 'Sie ist heiß!'. Ich dachte, er lacht. Dann steckt er den Finger in den Mund und sagt: 'Sie ist heiß! Sie ist heiß!' Und dann ist er durchgedreht. Einfach so."

    Yates war unzufrieden mit diesem Roman, an dem er immerhin sieben Jahre geschrieben hatte. Das hat zum einen wohl mit der Hauptfigur zu tun. Ungeachtet der scheinbaren Schlichtheit seines Erzählens war dieser Schriftsteller ein Mann der strengen Form, wie sein Vorbild Flaubert. Dessen Ideal, nach dem der Autor wie ein unsichtbarer Gott über seiner Schöpfung zu schweben habe, hatte er - für den eigenen Geschmack zumindest - in "Eine besondere Vorsehung" nicht erfüllt. Robert Prentice erschien ihm im Nachhinein zu direkt autobiographisch, zu wenig objektiviert. Man versteht, was er meint, auch wenn man als Leser die Selbstpreisgabe zu schätzen weiß. Von einer Lizenz zum Selbstmitleid kann jedenfalls keine Rede sein.

    Yates' Unzufriedenheit hat aber auch damit zu tun, dass der Roman bei Kritik und Publikum auf geringe Resonanz stieß. Das Elend der Verkanntheit begann mit diesem Buch. Dass ein Roman, der einen amerikanischen Krieg so illusionslos schildert, zu Zeiten des Vietnamprotests auf wenig Gegenliebe stieß, ist erklärungsbedürftig. Immerhin war "Schlachthof 5" von Kurt Vonnegut damals ein Erfolgsbuch. Aber Vonnegut arbeitete mit Science-fiction-Elementen und Tricks der Metafiktion. Der literarische Realismus, den Yates dagegen unbeirrt verfolgte, war um 1970 außer Mode. Seinerseits verachtete er die angesagten Bücher der "Postmodernen". Für ihn war das schwer verdauliches Zeug, voller intellektueller Puzzlespiele und Oberseminarwitzigkeit; emotional leer, Literatur, die nicht "gefühlt" ist.
    Ungeachtet der unheroischen Darstellungsweise geht es für Robert Prentice durchaus um das, was auch die guten, alten Hemingway-Helden an den Fronten suchen und was mit dem Vietnam-Diskurs um 1970 ebenfalls nicht zu vereinbaren war: die große existentielle Bewährungsprobe, die Offenbarung der eigenen todesmutigen Maskulinität. Das hat hier nichts zu tun mit einer literarischen Überhöhung des "Kampfes"; allzu deutlich wird Prentice ja vom Männlichkeitsdefizit in seiner Familienbiographie angetrieben. Der Muttersohn sehnt sich nach dem Beweis, dass er keiner ist.

    Prentice gefiel es: Es machte ihm Spaß, Türen einzuschlagen und in der Pose eines Marodeurs hineinzustürmen, zu allem bereit. In einem Haus überraschten sie zwei sehr saubere, ängstliche Zivilisten in seinem Alter. Einer trug Kopfhörer, und sie saßen beide an einem Tisch, über ein kleines, kompliziert aussehendes Funkgerät gebeugt. Prentice (...) riss dem Jungen den Kopfhörer vom Kopf, warf den Tisch um und stieß den Gewehrkolben mit aller Kraft auf das heruntergefallene Funkgerät, während die Jungen zusammenzuckten, als hätten sie Schmerzen. Und was, wenn sie tatsächlich nur Amateurfunker waren, die monate- oder jahrelang an ihrer Ausrüstung gebastelt hatten? Zum Teufel mit ihnen.
    In einem anderen Haus stürmte er in ein Zimmer voller alter Männer und Frauen - ein Dutzend oder mehr, alle stocksteif vor Angst, als er das Gewehr auf Hüfthöhe sinken ließ. Eine dicke Frau ganz vorn hatte aufgeschrien, die Hände vors Gesicht geschlagen und war vor ihm zurückgewichen, doch jetzt spähte sie zwischen den Fingern hindurch, ließ die Hände sinken, schaute ihn mit einem tränenreichen, mütterlichen Lächeln an und sagte etwas, das eindeutig darauf hinauslief, dass sie nie erwartet hätte, dass sich der Feind als ein magerer, bartloser, erschöpfter Junge herausstellte. Dann trat sie vor, legte die weichen Arme um ihn und drückte den Kopf an seine Schulter, während er ihr mit der freien Hand den Rücken tätschelte.
    In wieder einem anderen Haus stürzte er in ein dämmriges Schlafzimmer und sah sich einem anderen Gewehrschützen gegenüber, und er brauchte einen Augenblick, bis er merkte, dass er sich selbst in einem dunklen langen Spiegel sah. Er hatte keine Zeit - Brownlee brüllte "Komm schon!" von unten -, aber er trat zum Spiegel und betrachtete sich, erfreut über das Bild, das er abgab. Es mochte das Gesicht eines Jungen sein, ein Gesicht, das eine Mutter zum Weinen brachte, aber der Rest war jeder Zentimeter ein Soldat."


    Roberts Mutproben stoßen allerdings auf ebenso wenig Anerkennung wie die Skulpturen seiner Mutter - wenn er etwa trotz Lungenentzündung eisern den Dienst als Läufer verrichtet und unter den Einschlägen durch umkämpfte Straßen hastet, nur um eine Botschaft zu überbringen, die niemand mehr braucht. Er macht keine gute Figur, dieser Robert Prentice; immer sitzt ihm die Angst im Nacken, wieder einmal zu spät zu kommen oder sich lächerlich zu machen. Das Drama des in allzu viel Mutterliebe gebadeten Jungen passte nicht zur Rebellen-Sehnsucht von 1969.

    Yates ist der Seismograph der unterschwelligen Enttäuschung, ein Autor, der alle Schlaglöcher des Gefühls durchfahren hat. Und er kannte sich aus mit Scheidungen: zwei gescheiterte Ehen, drei Töchter, kein Sorgerecht. Er litt darunter, man spürt es noch in der Art, wie er Roberts Vater im Hintergrund darstellt - immer besorgt und immer wieder bereit, einen Extra-Scheck zu schicken, während er Alice vergebens zu praktischer Vernunft mahnt. Ihre Spießer-Verachtung scheint an ihm abzuprallen. Offenbar hat auch er keinen tragfähigen Boden mehr unter die Füße bekommen. Und so richtet sich seine Hoffnung auf ein restauriertes Familienleben mit Frau und Sohn. Schließlich ist Alice bereit zum Neuanfang. Doch da bricht George tot im Büro zusammen - ein Herzinfarkt, der hier wie eine logische Konsequenz erscheint.

    Am Ende bleibt Robert in Europa; seine Zukunft ist offen. Alice dagegen bietet ein Bild der Verlassenheit. Yates' Kunst, Lieblosigkeit und scheiternde Kommunikation gerade im Umgang intim vertrauter Menschen darzustellen, triumphiert noch einmal in der Schlussszene. Mit seiner unprätentiösen Prosa, die ohne metaphorischen Aufwand auskommt, sich aber Anflüge von Komik erlaubt, schildert er, wie Alice mit ihrer "besten Freundin" essen geht. Beide Frauen öffnen ihre Herzen - und fühlen und reden doch völlig aneinander vorbei, die eine von ihrem Sohn und ihrer Kunst, die andere von ihrem Chef, den sie liebt und der sich leider nicht scheiden lassen will.

    "Es muss sehr - schwierig sein", sagte Alice und hoffte, dass Natalie keine weiteren Anekdoten über die Thayers erzählen würde, weil sie wusste, dass sie bald nicht mehr würde zuhören können. Das passierte oft: Natalie sprach immer weiter, beklagte ausführlich die Ungerechtigkeit ihrer Position, und nach einer Weile verlor Alice jedes Gefühl für das, was sie sagte. Sie saß da und schaute auf Natalies sprechenden Mund, ihre zuckenden Schultern und gestikulierenden Hände, während sie in Gedanken ganz woanders war und auf das Schweigen wartete, das signalisierte, dass sie etwas sagen musste.

    Verkorkste Biografien, elendes Leben - aber wer trägt eigentlich die Schuld an der Misere? Es zeichnet die Werke von Yates aus, dass die Frage offen bleibt. Weder betreibt der Autor seine Gesellschafts- und Kapitalismuskritik mit dem Zeigefinger, noch arbeitet er mit Übeltätern oder Intriganten, denen sich bei der Lektüre die Verantwortung leicht zuschieben ließe. Er hat einmal gesagt, dass er Dramen mit finsteren Verkörperungen des Bösen (wie "Jago" im Othello) nicht möge, weil sie es dem Zuschauer zu leicht machten. Und so wollen die Figuren in seinen eigenen Werken eigentlich alle nur das Beste. Dass das Gesamtbild trotzdem so desaströs gerät - darin erweist sich ein geradezu metaphysischer Verblendungszusammenhang, eine prinzipielle Fehlbarkeit und Verderblichkeit des Menschen, an der jeder seinen Anteil hat.
    Richard Yates: Eine besondere Vorsehung. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anette Grube. DVA, München 2008, 392 S., 19,95 Euro