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Peter Bichsel
Den Tod auf Abstand halten

Peter Bichsel ist ein Kolumnist, der in einer sehr schweizerischen Tradition steht: sich klein zu machen. Die Lektüre seiner Kolumnen ist wie ein Gespräch mit einem alten Freund. Nun erscheint der Sammelband "Über das Wetter reden. Kolumnen 2012–2015".

Von Martin Ebel | 14.04.2015
    In der kolumnenseligen Schweiz ist Bichsel der grosse Solitär: Nahezu der Einzige, der das Genre nicht als Freibrief zum "Ich über mich"-Schwadronieren begreift. Viele Kolumnen (und noch mehr Blogs) sind nichts anderes als geschriebene Selfies. Die von Bichsel sind keine Ego-Texte, obwohl man den Autor in jedem Satz spürt - nicht in seiner Gespreiztheit, sondern in seiner ganzen Bescheidenheit. Peter Bichsel steht in ¬einer sehr schweizerischen Tradition, der ¬Robert Walsers: Man macht sich klein, so wie ein gern gejagtes Beutetier in einem Loch oder Tarnkleid verschwindet.
    So darf der Leser kein Jäger sein, sondern ein geduldiger Betrachter und Beobachter. Nimm dich nicht so wichtig, lautet das Fazit einer Geschichte, in der Bichsel einem Mädchen ein Autogramm in ein Exemplar der "Kindergeschichten" schreiben will und dieses meint: "Ich hätte aber lieber den Kugelschreiber."
    Da sind wir schon mitten im Bichsel-Watching. Und dabei findet der Leser manches vertraute Thema, manche Denkfigur und Wendung wieder. Das stört überhaupt nicht, im Gegenteil. Bichsel-Lektüre ist wie ein Gespräch mit einem alten Freund, der ja auch nicht bei jeder Begegnung mit Brandneuem aufwartet und an dem man das Bekannte, das Verlässliche mag. An Bichsel etwa die liebevolle Zuwendung zu Menschen und Dingen, ob das eine Beizenbekanntschaft ist oder sein stets vom Verkümmern bedrohtes Avocado-Bäumchen, dessen Existenz schon fast durchsichtig wird zu der künftigen Erzählung vom Avocado-Bäumchen, das er einst gehabt hat. Bichsel kauft "sich und ihm" ein Windspiel und stellt erstaunt fest, dass er über dessen zarte Klänge das Rauschen der Autos nicht mehr wahrnimmt. "Eigenartig, dass das Leise das Laute übertönen kann", bemerkt er, und mancher Leser wird wohl im Stillen hinzufügen: so wie eine Peter-Bichsel-Kolumne manchen posaunenhaften Roman.
    Sport und Politik interessieren Bichsel heftig, aber auch selbstkritisch; mit freundlicher Verwunderung und Skepsis registriert er seine eigene Hoffnung auf Schweizer Siege im Schnee und auf dem Rasen. Sieger erregen schliesslich eher sein Mitleid, weil er weiss, dass Siege Menschen verwandeln und sich entfremden. Noch mehr misstraut Bichsel dem Siegen in der Politik. Mit Blick auf den Volksentscheid zur SVP-Einwanderungsinitiative schreibt er: "Man hat jene gewählt, die an eine siegreiche Schweiz glauben, die Europa und die Welt in die Knie zwingen wird. Wir haben uns selbst gewählt, und ich fürchte zu Recht - so sind wir."
    "Die Aktualität ist ein verdammtes Gift"
    Etwas Brandneues hat Bichsel dann aber doch: ein Smartphone. Was er mit ihm erlebt, speist gleich mehrere Kolumnen. Bichsel ist kein Fortschrittsfeind und kein Maschinenstürmer; er lebt gern in unserer Zeit, sagt er, ist aber froh, in einer anderen aufgewachsen zu sein. Das Smartphone erfreut seinen Spieltrieb; er macht sich aber nichts vor: Die Zeit, die es ihm erspart, nimmt es ihm auch wieder, eben durch Herumspielen und Herumtrödeln. Er staunt über die vielen Dinge, die das Ding kann - aber das Staunen war früher etwas anderes. Etwa das Staunen über ein spätes Streichquartett von Beethoven, als er es das allererste Mal hörte. Natürlich hat auch das Smartphone diesen Beethoven auf Lager; es ist aber nicht dasselbe, "nur ein Abklatsch. Die Funktion Beethoven".
    Dass das Wissen das Staunen verdrängt, aber nicht ersetzen kann: Das ist ein alter Bichsel-Hut, der auch auf das Smartphone passt. Da war doch dieser Beizenabend, an dem gestritten wurde, wer denn jetzt tot sei und wer noch lebe, Koblet oder Kübler? Der Streit ging "stundenlang, ein schöner, ein lustiger Abend". Heute wäre mit zwei Klicks die Frage geklärt, das Thema erledigt. "Kaltschnäuziges Wissen" nennt Bichsel das, was Google ausspuckt.
    Dass die Beschleunigung unsere Zeit prägt, ist eine Binsenweisheit. Bichsel macht sie auf eine ganz eigene Weise erlebbar. Ihm steckt das Tempo seiner Jugend noch in den Knochen. "Die Aktualität ist ein verdammtes Gift", schreibt er. Fernsehen und Onlinemedien kennen nur das Jetzt. Was in den Zeitungen stand, setzt Peter Bichsel dagegen, war immer ein Gestern. Und "ein Gestern kann man erzählen, ein Jetzt aber nicht. Und das Erzählen macht das Schnelle langsam."
    Mit dem Erzählen hat es nun ein Ende. Bichsel will das so. Er hat sich die Kolumnen nicht "von der Seele geschrieben", sondern "auf den Buckel. Der Buckel ist voll, ich spür es im Rücken." Das ist ernst und endgültig gemeint. Schon immer haben die Menschen erzählt, um den Tod auf Abstand zu halten.
    Peter Bichsel: Über das Wetter reden. Kolumnen 2012–2015. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2015. 156 S.