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Peter Orners neuer Roman
Vielstimmig und wortgewaltig

Der amerikanische Schriftsteller Peter Orner hat zuerst Erzählungen in großen amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht, bevor er 2001 mit "Esther Stories" seinen ersten Band mit Kurzgeschichten herausgab. 2006 legte er mit "Die Wiederkehr der Mavala Shikongo" seinen ersten Roman vor - mehrfach prämiert. Jetzt ist sein zweiter Roman "Liebe und Scham und Liebe" auf Deutsch erschienen.

Von Johannes Kaiser | 08.06.2015
    Der Fuß einer Tänzerin der Ballettschule der Oper in Nanterre,
    Protagonistin Bernice, vor der Ehe eine professionelle Balletttänzerin, hat für die Heirat ihren Beruf aufgegeben, ist Ballettlehrerin geworden. (AFP PHOTO / Lionel Bonaventure)
    "Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der es großartige Geschichtenerzähler gab, die sich gut ausdrücken konnten und ich war immer derjenige, der geschwiegen hat. Ich denke, dass mein Schreiben schon sehr frühzeitig der Versuch war, mir Gehör zu verschaffen, weil ich mitten unter solchen wunderbaren Geschichtenerzähler lebte und nicht dazu gehörte."
    "Die Wiederkehr der Mavala Shikongo"
    Allerdings fällt das Schreiben dem 46jährigen amerikanischen Schriftsteller Peter Orner nicht gerade leicht. Er ringt hart mit seinen Stoffen, braucht lange, um einen Roman abzuschließen. An seinem Debüt "Die Wiederkehr der Mavala Shikongo", einer Geschichte, die auf seinen Erlebnissen als junger Lehrer im gerade unabhängig gewordenen Namibia beruht, saß er 12 Jahre und sein jetzt auf Deutsch erschienener Roman "Liebe und Scham und Liebe' entstand in sechs Jahren. Eigentlich hatte er nach der schweren Geburt seines Erstlings gehofft, sein zweites Buch erheblich rascher abschließen zu können. Immerhin kehrt er dort an den Ort seiner Kindheit zurück, nach Chicago, wo er in einer wohlsituierten jüdischen Familie aufwuchs, die sich stark in der Lokalpolitik engagierte. Eben solch eine Familie steht nun im Mittelpunkt des neuen Romans.
    "Wie ich entdeckte, war es sogar noch schwieriger, meine Heimat wieder zu erschaffen, als einen Ort, der nicht meine Heimat war. Ich ließ mich dadurch, dass ich glaubte, ihn zu kennen, einlullen. Es stellte sich heraus, dass das Gegenteil der Fall war. Es ist etwas sehr Merkwürdiges. Wenn wir uns etwas anschauen, von dem wir glauben, es näher zu kennen, dann wird es viel schwieriger. Das habe ich tatsächlich entdeckt. Ich habe ja keine Memoiren geschrieben. Die Herausforderung bestand vielmehr darin, das Geheimnisvolle dieses Ortes wieder zu erschaffen. Irgendwann kam ich im Buch dann an den Punkt, an dem ich begriff, dass ich mich nicht erinnerte, sondern Dinge erfand. Wenn wir uns erinnern, dann erfinden wir und erfinden für uns selbst neue Geschichten."
    Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg
    Über drei Generationen folgt Peter Orner der Geschichte der Poppers, die in einem der weißen Vororte Chicagos beginnt, im Haus Seymour Poppers. Der ist ein redseliger, anfangs durchaus erfolgreicher Banker, der eine Menge merkwürdiger Vorstellungen über das Leben hat, und aus Starrsinn sowie falsch verstandenem Ehrgefühl Pleite geht. Im Buch taucht er zweimal auf, einmal in den Geschichten selbst als einer der Protagonisten und dann als Briefschreiber, der seiner Frau von seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg berichtet.
    "Mit Anfang vierzig ging er zur Marine. Eigentlich war er zu alt, um in den Krieg zu ziehen, aber er wollte unbedingt mitmachen. So hat er sich zuerst der Küstenwache angeschlossen. Den Job hat er so gut erledigt, dass es im Buch im Scherz heißt, er habe Chicago so gut vor den Nazis geschützt, dass man ihn dann in den Pazifik geschickt hat, um die Japaner zu bekämpfen. Das macht er schließlich auch. Für viele Leute wird solch eine Erfahrung zu der Geschichte ihres Lebens und in seinem Fall stimmt das sicherlich. Auch 1980 werden seine Gedanken immer noch von diesem Kriegssturm geprägt."
    Abgedruckt sind die alten Liebesbriefe an seine Frau Bernice, die immer wieder zwischen die Erzählungen der Familiengeschichte eingeblendet werden. Sie zeigen, dass die beiden sich tatsächlich einmal geliebt haben, auch wenn sich Seymours Enkel Alex und Leo das gar nicht vorstellen können, denn von dieser Liebe ist bei ihrer Geburt nichts mehr vorhanden. Bernice, vor der Ehe eine professionelle Balletttänzerin, hat für die Heirat ihren Beruf aufgegeben, ist Ballettlehrerin geworden. Das bereut sie ein Leben lang.
    Peter Orner plaudert aus dem Nähkästchen
    Schließlich verlässt sie Seymour. Nicht weniger ehrgeizig und stur wie sein Vater ist auch Philip, der in die Politik einsteigt und sich um einen der Senatorensitze bewirbt, jedoch scheitert. Die politischen Ambitionen und Diskussionen der Poppers nehmen viel Raum im Buch ein. Peter Orner plaudert hier aus dem Nähkästchen, denn seine Familie gehörte mit zum Adel der Chicagoer Partei der Demokraten. Doch man muss weder die Namen der Chicagoer Bürgermeister noch die der verschiedenen Präsidentenkandidaten kennen, um zu begreifen, was der Schriftsteller von Politik hält:
    "Es ist schwierig über Politik zu schreiben, aber für mich ist sie vor allem lustig und eine Art von Showbusiness. Insbesondere dort, wo ich herkomme, in Chicago, spielt man damit allerdings nicht herum. Das ist das eine Art des Daseins. Die Bürgermeisterwahlen, die Alex als ein Kind miterlebt, waren viel vergnüglicher als - nehmen wir die Footballmannschaft Chicago Bears. Politik war eine große Form der Unterhaltung für diese Familie und auch andere Leute in Chicago. Einen Politiker dabei zu beobachten, wie er verliert, ist faszinierend, insbesondere in der Nacht der Niederlage, wenn er eine Rede halten muss. Ich habe diese Reden nach Niederlagen immer genossen. Für einen Romancier ist dieses Material Gold. Man will in einem Roman nicht, das der Kandidat gewinnt."
    An Niederlagen fehlt es in Peter Orners Werk jedenfalls nicht. Alle drei Poppers Generationen scheitern auf die eine oder andere Art und Weise. Auch die Liebesbeziehungen sind alles andere als glücklich, wenn auch jede auf ihre eigene Art. Allerdings ist es nicht ganz leicht, die Entwicklungsphasen dieser drei Generationen im Blick zu behalten, denn Peter Orner springt in den Zeiten hin und her. Es gibt keinen chronologischen Ablauf der Ereignisse, vielmehr nur Einzelepisoden aus verschiedenen Jahren, Erinnerungsfetzen, mal in Dialogform eines Gesprächs wie auf einer Theaterbühne, dann wieder im Tonfall einer Erzählung. Jedes Kapitel ist begleitet von einer Zeichnung, die Orners Bruder für das Buch geschaffen hat.
    Einzelepisoden aus verschiedenen Jahren
    "Für mich ist ein Buch, das linear ist, die Zeit ganz normal Jahr für Jahr wiedergibt, - ich respektiere das durchaus -, nicht realistisch. Jedenfalls ist das meine eigene Erfahrung. Wenn ich morgens den Hund ausführe, von mir bis zum Ozean ist es nur eine halbe Meile, besuche ich im Kopf ganz viele Orte meines Lebens und hüpfe zwischen den Jahren hin und her, von 1975 zu 1992 zu 2012. Peng, Peng, Peng. Ich habe in dem Buch versucht, einzufangen, wie es in meinem Kopf zugeht und, wie ich glaube, auch in den Köpfen anderer Menschen. Wir sind überall. Wir schreiten voran, in dem wir uns erinnern und dabei kehren wir in der Zeit zurück und genau diese Vorstellung wollte ich einfangen."
    Die Schwierigkeit bei dieser Art der Darstellung liegt darin, dass man als Leser ein gutes Gedächtnis besitzen muss, um den Geschichten beim Hin-und Herspringen in der Zeit folgen zu können. Man sollte beim Lesen also keine allzu großen Pausen einlegen. Ständig werden neue Facetten der Protagonisten präsentiert und man begreift ihr Verhalten erst im Fortgang der Vor- und Rückblicke. So ähnelt das Buch einem Puzzle, bei dem sich allmählich aus den verschiedenen Geschichten ein Gesamtbild zusammenfügt, Handlungsstränge erkennbar werden. Peter Orners Roman besitzt zudem keinen erkennbaren Plot und das mit voller Absicht.
    "Manchmal sind wir in die traditionelle Art und Weise, Geschichten zu erzählen, eingesperrt und das wollte ich nicht sein. Ich glaube, es gibt neue Wege des Erzählens und der typische plotgetriebene Roman hat mich nie interessiert. Was mich interessiert sind Figuren, denn der Charakter einer Figur ist doch der wirkliche Plot. Das Spannende in unserem Leben sind die Menschen, mit denen wir uns befassen, nicht unbedingt die Ereignisse. Die Ereignisse kommen für mich erst an zweiter Stelle nach den Charakteren. Ein Plot, bei es darum geht, was passiert, interessiert mich weitaus weniger als die Reaktionen der Figuren auf die Ereignisse. Und dabei geht es um deren Charaktereigenschaften."
    Denken, Handeln, Fühlen
    So hat der Roman weder einen richtigen Anfang noch ein wirkliches Ende. Wir lernen einzelne Abschnitte aus dem Leben der Protagonisten kennen, die ihr Denken, Handeln, Fühlen charakterisieren, sie auf dem Papier lebendig werden lassen. Das gilt insbesondere für zwei Figuren: Für Alex, den alle nur Popper nennen und für seine Freundin Kat, die allerdings nicht mit ihm zusammenleben will, obwohl sie eine gemeinsame Tochter haben. Es ist ihre Geschichte, die immer wieder zwischen all den anderen Episoden auftaucht und uns durch das Buch führt.
    "Das Buch dreht sich vor allem um die Liebe. Das ist das Hauptthema. Alex trifft Kat, die er wirklich liebt und das endet damit, dass sie zusammen ein Kind haben. Seine Vorstellung von ihr stimmt aber nicht. Er kennt sie nicht so gut, wie er möchte und Kat ist eine extrem unabhängige Frau, sehr lustig und auf ihre eigene Art und Weise eine getriebene Person. Traurig im Buch ist, dass man glaubt, etwas zu verstehen, aber dann stellt sich heraus, dass man völlig falsch gelegen hat. Ich denke, Kat and Popper kommen letztendlich miteinander klar, aber nicht so, wie sich Alex das vorgestellt hat. In gewisser Weise ist das ein happy end, denn meine Vorstellung von einem happy end heißt Ausdauer. Wir halten durch. Das ist meine Lieblingszeile Faulkners, wo er über die Compsons sagt: "Sie hielten durch" und das gilt auch für die Poppers."
    Peter Orners Roman "Liebe und Scham und Liebe" ist ein vielstimmiges und wortgewaltiges Werk, in seinem Aufbau ein ungewöhnliches und gewöhnungsbedürftiges, aber durchaus geglücktes Experiment. Seine amerikanische Familiengeschichte über 50 Jahre gehört zu jenen Erzählungen, die in all ihrer Besonderheit doch Erfahrungen aufzeigen, die wir alle teilen.
    Peter Orner: "Liebe und Scham und Liebe"
    Übers. Henning Ahrens, Carl Hanser Verlag München 2014, 396 Seiten, 21,90 €