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Peter Rühmkorfs Lyrik
Die Summe eines schöpferischen Lebens

Peter Rühmkorfs Gedichte und Reime sind virtuos und gewitzt, als Dichter findet er eine erstaunliche Balance zwischen Aufklärung und romantischem Volksliedton, Tradition und Moderne, Hymne und Ironie. Nun hat Bernd Rauschenbach die Ausgabe "Sämtliche Gedichten" herausgegeben.

Von Wolfgang Schneider | 27.02.2017
Der Autor Peter Rühmkorf (1929-2008), aufgenommen während einer Pressekonferenz in Hamburg.
Der deutsche Lyriker Peter Rühmkorf (1929-2008). (picture-alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
"Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem I n d i v i d u u m
aus nichts als Worten träumend.
Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes / Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.
Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine ...
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine."
Nicht nur dieses Gedicht mit dem Titel "Hochseil" ist inzwischen ein Rühmkorf-Klassiker. Dabei lag das "Klassische" diesem Dichter ursprünglich denkbar fern. Peter Rühmkorf wurde 1929 als Sohn einer Pastorentochter und eines durchreisenden Puppenspielers in Dortmund geboren. Gern hat er sich, gegen überkommene bildungsbürgerliche Attitüden, als Gaukler und Spaßmacher verstanden und von seinen lyrischen "Balanciernummern" gesprochen. Und in der Tat: Als Dichter findet er eine erstaunliche Balance zwischen Aufklärung und romantischem Volksliedton, Tradition und Moderne, Hymne und Ironie. Nachprüfen lässt sich das in der nun von Bernd Rauschenbach herausgegebenen Leseausgabe mit "sämtlichen Gedichten" Rühmkorfs, die er zu Lebzeiten in Buchform publiziert hat. Dieser Band zieht die Summe eines schöpferischen Lebens. Was für ein Werk, was für ein lyrischer Zaubergarten! Rühmkorf hatte allen Grund zu Selbstbewusstsein.
"Wenn ich mal richtig ICH sag,
wieviele da wohl noch mitreden können?!
Einspruch? Nichtsda.
‘N Ich hat irgendwie jeder, und das ist auch gar nicht so ungewaltig.
Wenn es die Augen zuklappt,
geht die Erde unter,
sind die Sterne aus."
… heißt es im Gedicht "Phönix voran!". Es gehörte zu Rühmkorfs Grundüberzeugungen, dass Lyrik bei allem formalen Anspruch eine populäre Kunst sein sollte, die sich sowohl vom Feinsinn wie vom Vulgären nährt, vom hohen Ton wie von der Alltagssprache – also auch von Kalauern, Schlagzeilen, Werbesprüchen. Und von den schöpferischen Möglichkeiten des Reims. Denn bei aller Verbundenheit mit der Moderne, deren Reim-Tabu hat Rühmkorf nicht mitgemacht.
"Reimfibel
Liebe Kinder, hört mal zu.
Hier sind A-E-I-O-U
(rückwärts U-O-I-E-A):
Eine Lautharmonika. (…)
RACKEN-RECKEN-RICKEN-ROCKEN-RUCKEN
Nach den Ricken blickt der Bock.
Recken tragen selten Rock.
Rocker rackern nicht am Reck.
Mein Verlag druckt jeden Dreck"
Rühmkorfs Reimspiele sind virtuos und gewitzt, und er wusste, was auch Robert Gernhardt in seinen poetologischen Äußerungen betont hat: Reime sind Sinnstifter. Einen fertigen Gedanken in Reime zu fassen, das wirkt oft bemüht; Gedanken aber, die erst dem Reim entspringen, weil dieser durch neue Wortkombinationen Assoziationen schafft: Das ist ein faszinierendes, geradezu experimentelles Verfahren. Oft spürt man in Rühmkorfs Versen die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reimen – und beim Fortspinnen von prägnanten Formulierungen, Sprüchen, Parolen.
Brecht und Benn gab Rühmkorf als wichtige Dichter-Vorbilder an. Politisch stand er Brecht näher. Doch in der Formsprache ist Gottfried Benn seine große inspirierende Instanz gewesen, sowohl in den frühen Bänden, wo er sich einswingt in den unverkennbaren Benn-Sound voller Melos, Jambus, Reimfluss, als auch im rhythmisch aufgelockerten und reimlosen Parlandoton, den er in späteren Jahren pflegte und der sich so gut für seine ironisch knisternde Altherrenpoesie eignet.
"Wenn man bedenkt, wie vielen trotzigen kleinen
Tante-Emma-Läden
du bis zum letzten Hirsekorn die Treue gehalten hast,
und sind ausnahmslos untergegangen…
Und dann kommt ja auch bald der Moment,
dass du selbst die Regale räumen musst,
nur weil von hinten unentwegt die neue Ware nachdrückt:
Vom Dreck ergriffen steht die Menge da."
Was Rühmkorf von seinem Vorbild Benn unterscheidet, ist das Dialogische, Kommunikative seiner Gedichte. Benn trieb seine Lyrik bisweilen ins Hermetische, Elitäre, schroff Verständnisabweisende. Rühmkorf dagegen begreift den Leser – gewissermaßen sozialdemokratisch – als Partner. So virtuos und schlackenlos die besten seiner Gedichte sind, man muss ihrem Sinn zumeist nicht lange nachsinnen. Deshalb eignen sie sich gut zum öffentlichen Vortrag, immer wieder auch in der Begleitung prominenter deutscher Jazz-Musiker. Die große Bedeutung des Komischen ist ein weiteres Signal dieser Rühmkorfschen Autor-Leser-Partnerschaft: Lachen tut man nicht allein, selbst wenn man alleine liest. Jede Pointe zielt letztlich aufs Einverständnis, auf die Lachgemeinschaft. Von daher kokettieren viele von Rühmkorfs späten Gedichten denn auch nur mit der Form des kauzigen Monologs.
"Keine Herzattacke ohne den Beistand von deinem
Lieblingskardiologen
Und der BARMER ERSATZKASSE,
und wenn du morgens wieder mal dunkeltrunken deinen
Rattenbau erreichst,
Gratuliere, ah, im Kühlschrank brennt noch Licht."
Dieser Sound der Lakonie eignet sich bestens für Vergänglichkeitsanwehungen, Weltverlustbefunde und Herbstgedanken – oder für melancholische Rückblicke auf das eigene Leben und die vergangene Triebstärke, die ja immer auch Antriebsstärke in Sachen Lyrik war. Das ewig-alte Dichter Thema "Liebe" hat der Wahl-Hamburger gerne handfest-unhanseatisch besungen. Der jüngere Rühmkorf präsentierte sich geradezu als erotischer Kraftlackel, als melodienreicher Sänger der geschlechtlichen Freuden. Wie heißt es doch in "Minnesangs Abschiedslied"? "Ein jeder Kreuzzug kam ihm recht, / er blieb zuhaus, ein Damenknecht." Das Pathos des modernen Minnesängers bricht Rühmkorf allerdings mit Komik.
"Undine.
Zieh sie an Land,
die säuselnde Sirene,
frag nicht, wer dich belügt –
Ein Kopf voll Haare und das Maul voll Zähne
genügt.
Schmeckt nur die Brust nicht schal,
wo hätte Wahnsinn je das Glück gemindert?
Du – krank im Geiste
und sie gehbehindert,
egal – egal."
Rühmkorfs Gedichte erscheinen, heute gelesen, erstaunlich frei von der alten bundesrepublikanischen Tristesse und der grauen Betonmoderne der 50er- und 60er-Jahre. Sie preisen die irdischen Freuden, verbinden den Lebensgenuss im Sinn der Barockdichtung aber mit Vanitasemphase: Vergänglichkeit? Na, dann los und jetzt erst recht rein ins Vergnügen! Gerne hat sich Rühmkorf inszeniert als verschmitzter Freund der Aufklärung, als Widersacher aller Dunkelmännerei und der, Zitat, "menschenverneinenden Religionen". Geprägt durch die Kriegs- und Nachkriegszeit, die bald auf neue globale Konflikte und atomare Planspiele zusteuerte, liebäugelte er als junger Mann mit linken Utopien, machte politisches Kabarett und war mit Ulrike Meinhof befreundet. Die anfänglichen Hoffnungen waren allerdings vielen Desillusionierungen ausgesetzt, die er immer wieder thematisierte, etwa im Gedicht "Selbstporträt", Mitte der 70er-Jahre entstanden:
"Die Wahrheit macht einem immer mal wieder
einen dicken Strich durch den Glauben.
Man kuckt in die Zukunft – jedenfalls ich! –
wie in eine Geschützmündung.
Vielleicht ist es einfach nur dies:
mein Herz zieht allmählich die Geier an.
Wer links kein Land mehr sieht,
für den rast die Erde bald
wie ein abgeriebener Pneu auf die ewigen Müllgründe zu"
Am Ende dieses Buches, das in chronologischer Folge die Werke von Rühmkorfs neun Gedichtbänden enthält, wartet noch eine Überraschung auf die Leser: Eine Auswahl mit einigen ganz frühen Gedichten aus der Zeit vor 1952. Sie wurden in Zeitschriften veröffentlicht, sind teilweise bemerkenswerte Talentproben, teilweise aber auch nur Fingerübungen, die zeigen, dass sich Rühmkorf seinen unangestrengten Ton hart erarbeitet hat. Das Schwere leicht aussehen lassen: Das ist das Ethos des Trapezkünstlers und eines Schriftstellers, der von einem dahingeplaudert wirkenden Gedicht oft Dutzende Vor-Fassungen schrieb.
"Was dann nachher so schön fliegt…
wie lange ist darauf rumgebrütet worden"
Dieses wunderbare Lesebuch beweist eine einzigartige Lust an der Sprache. Es bringt unser oft als ein wenig schwerfällig empfundenes Deutsch zum Tanzen und Blühen. 600 Seiten Gedichte, ein umfangreicher Band, aber kein ein Klassiker, der einen erschlägt, sondern eine wohltuende, ja beschwingte Lektüre.
Peter Rühmkorf: "Sämtliche Gedichte 1956–2008. Mit einer Auswahl der Gedichte 1947–1955"
Hg. v. Bernd Rauschenbach. Rowohlt, Reinbek. 624 S., 39,95 Euro