Dienstag, 16. April 2024

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Peter Struck: Möchte mich nicht von oben herab mokieren

Fast 30 Jahre lang war Peter Struck Mitglied des Deutschen Bundestages. Nun blickt er gelassen auf die Politik. Der ehemalige Verteidigungsminister und langjährige SPD-Fraktionschef nennt die Regierungskoalition "Amateure" und ist zufrieden mit der Arbeit seiner Partei.

Peter Struck im Gespräch mit Frank Capellan | 12.09.2010
    Frank Capellan: Peter Struck, schon wieder legt ein prominenter Sozialdemokrat ein Buch vor. "So läuft das" haben Sie Ihren Rückblick überschrieben auf die sozialdemokratischen Regierungsjahre. Ihr Parteichef Sigmar Gabriel braucht sich aber keine Sorgen zu machen, das ist keine Abrechnung mit den Genossen damit, was jetzt läuft, was jetzt auch anders läuft und was Ihnen vielleicht nicht gefällt?

    Struck: Nein, das war nie meine Absicht. Ich finde, dass der Sigmar Gabriel das gut macht als Parteivorsitzender. Es ist kein guter Stil, wenn man als Ausgeschiedener plötzlich erklärt, wie die Nachfolger das besser machen sollten. Sich von oben herab zu mokieren, das war nie meine Absicht.

    Capellan: Sie haben betont, Sie haben ein "ruhiges Buch" geschrieben – anders als Thilo Sarrazin, auch Sozialdemokrat, auf den ich auch anspielte. Der hat ein "unruhiges" Buch geschrieben.

    Struck: Ja, ich wollte nicht provozieren. Ich meine, man kann natürlich die Zielrichtung haben, dass man möglichst viele Bücher verkauft. Das war nicht meine Absicht. Eigentlich wollte ich nur klarstellen, dass in den Zeiten der SPD-Regierung – einmal Rot-Grün unter unserer Führung, dann auch in der Großen Koalition – wir gute Arbeit für unser Land geleistet haben.

    Capellan: Am Ende Ihres Buches schreiben Sie: Lasst Euch nicht kirre machen, Genossen, es gibt auch eine Volkspartei SPD, wird es weiterhin geben. Aber beweist nicht gerade die Debatte um Thilo Sarrazin das Gegenteil – die Politik regiert offenbar am Volk vorbei?

    Struck: Na, ich weiß nicht, ob man Sarrazin da als Beispielsfall herannehmen sollte, Herr Capellan. Es ist schon so, dass man das Gefühl manchmal haben muss, dass die Politik ein bisschen vorbeigeht an den realen Bedürfnissen der Menschen. Das sieht man an solchen Vorfällen wie "Stuttgart 21", wo da plötzlich eine ganze Bevölkerung aufsteht und sagt: "Das ist ein falsches Projekt." Trotzdem glaube ich, dass man als Politiker im Grunde auch stehen muss – auch zu unpopulären Entscheidungen. Man darf sozusagen nicht wankelmütig sein und sagen: "Ich schließe mich dem Volkszorn oder der Volksmeinung an", selbst um den Preis des Abgewähltwerdens willen.

    Capellan: Aber es gibt so viel Zustimmung in der Bevölkerung für Sarrazin. Da muss man doch sagen und zugeben, auch Sie als langjähriger Politiker: Offenbar haben wir irgendwie was falsch gemacht.

    Struck: Na ja, es ist schon so, dass die Frage der Migration, der Integration von ausländischen Mitbürgern hier, schon problematisch ist. Es gibt bestimmte Gebiete oder Regionen, in denen das wirklich sehr schwer ist. In anderen Regionen hat das gut geklappt. Und dass Thilo Sarrazin auf ein Problem hinweist, ist ja normal, ist okay.

    Capellan: Was hat denn die SPD versäumt?

    Struck: Na, ich denke, dass wir eigentlich nicht viel versäumt haben. Natürlich versuchen wir ja auch über Kandidaturen von in Ausland groß gewordenen oder auch hier groß gewordenen Migrationskindern für Kommunalparlamente, für Landtage, für Bundestage . . .

    Capellan: . . . im Parteivorstand ist niemand, das ist sicherlich ein Problem, nicht wahr?

    Struck: Es ist schon verbesserungsbedürftig in manchen Bereichen. Trotzdem glaube ich, dass wir als SPD uns nicht den Vorwurf gefallen lassen müssten, wir hätten da nicht genügend getan. Eigentlich haben alle nicht genügend getan, in der Zeit der Großen Koalition haben wir mit der Integration (Anm. d. Redaktion: Schwer verständlich im Hörprotokoll) begonnen, auch mit Frau Böhmer als Beauftragte der Bundesregierung. Und wenn ich das richtig sehe, ist das auch auf einem ganz guten Weg. Aber es gibt immer Menschen, die nicht integrationsbereit sind, auf die Sarrazin auch hingewiesen hat.

    Capellan: Und die muss man mehr fordern? Hat Rot-Grün zu sehr auf Multi- Kulti und Liberalität gesetzt, muss man auch von Einwanderern mehr fordern – die deutsche Sprache zu lernen beispielsweise?

    Struck: Ja, vielleicht haben wir da etwas versäumt, das will ich gar nicht bestreiten. Man hätte schon ein bisschen mehr Druck ausüben können und müssen, was das Erlernen der deutschen Sprache angeht, entsprechende Kurse eben auch anbieten. Das ist wahrscheinlich nicht in ausreichendem Umfang geschehen. Trotzdem bleibt ja nach wie vor übrig, dass der größte Teil der Migranten hier in Deutschland absolut integriert ist.

    Capellan: Sarrazin war sicherlich immer ein Politiker, auch als Finanzsenator, mit Ecken und Kanten, so lautet ja der Untertitel Ihres Buches – "Politik mit Ecken und Kanten". Warum muss dann eine Volkspartei SPD einen solchen Mann nicht aushalten, sie will ihn jetzt rauswerfen?

    Struck: Ich will mich da jetzt nicht in aktuelle Verfahren einmischen, Herr Capellan. Nur – ich hätte auch zu mehr Gelassenheit geraten. Thilo Sarrazin hat nicht die Meinung der SPD vertreten. Es war seine eigene Meinung, sehr prononciert vorgetragen, wahrscheinlich auch mit einem kommerziellen Hintergrund, um das Buch gut verkaufen zu können. Aber ich hätte klargestellt von Anfang an: Das ist nicht die Meinung der SPD, es ist die Einzelmeinung von Thilo Sarrazin. Damit hätte man es gut sein lassen sollen.

    Capellan: Also Sie sind gegen ein Ausschlussverfahren?

    Struck: Na, ich würde sagen: Seht das gelassen, seht das locker. Ich würde auch erwarten, dass Thilo Sarrazin auf die SPD zukommt und in einem Gespräch mit dem Parteivorsitzenden klar macht oder der Generalsekretärin klar macht, was er eigentlich gemeint hat und was seine wirkliche Intention ist. Aber wenn sozusagen beide Seiten sich unversöhnlich gegenüberstehen, kann eigentlich nichts Gutes dabei herauskommen.

    Capellan: Was kann denn die Partei nicht aushalten an dem, was er gesagt hat?

    Struck: Ja, es ist schon ein bisschen eigenartig mit dem "Juden-Gen", von dem er gesprochen hat, oder sozusagen, dass Dummheit auch vererblich sein könnte. Das ist nicht die Position der SPD.

    Capellan: Die Union hat ganz aktuell ein möglicherweise vergleichbares Problem - die Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach. Müsste die Ihrer Ansicht nach die Union verlassen?

    Struck: Na, wenn sie von sich aus den Weg gehen würde, wären sicher viele Leute in der CDU froh, das denke ich schon. Ich glaube, viele sehen das mit Erleichterung, dass sie nicht mehr für den Parteivorstand kandidiert. Auf der anderen Seite: Sie hat abstruse Vorstellungen vertreten – über die Verantwortung Polens für den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Das weiß jeder, dass das Unsinn ist. Aber ich meine, es hat auch jedes Parteimitglied das Recht, Unsinn zu reden. Da muss man eben nur klarstellen, dass das nicht die Meinung der CDU ist.

    Capellan: Es heißt immer, die beiden schaden Deutschland im Ausland. Ist das auch so ein Argument, was für Sie Berechtigung hat?

    Struck: Ja, das darf man nicht unterschätzen, das Argument. Ich war jetzt gerade im Urlaub in Amerika, Motorrad fahren. Ich verfolge da natürlich auch die Nachrichten, CNN und anderswo. Da wird schon sehr genau darauf geachtet, was ist in Deutschland so an "rechtsradikalen" – in Anführungszeichen jetzt – oder "rechtsextremen" Ansichten gerade en vogue oder in. Und da ist Amerika sehr empfindlich. Wir müssen schon darauf achten, dass unser Bild im Ausland nicht durch solche dummhaftigen Äußerungen verdunkelt wird.

    Capellan: Befürchten Sie denn, wenn solche Leute – ich sage jetzt mal – mundtot gemacht werden in den Volksparteien – Steinbach wie auch Sarrazin –, dass es dann zur Gründung einer rechten Partei, rechts von der Union, kommen könnte?

    Struck: Nein, das glaube ich nicht. Aktuelle Meinungsumfragen sind das Eine, aber eine rechtsextreme Partei hat in Deutschland Gott sei Dank keine Chance.

    Capellan: Warum nicht?

    Struck: Nein, weil die etablierten demokratischen Parteien das Spektrum schon abdecken: CSU sozusagen als ganz rechts außen, dann CDU, FDP und Grüne in der Mitte und wir links, und die Linke natürlich noch weiter links. Also ich glaube nicht, dass es eine Situation geben wird in Deutschland, wo jemand à la Jörg Haider - Gott habe ihn selig – sozusagen hier Chancen hätte in Deutschland, politisch wirksam zu werden.

    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Peter Struck, fast 30 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestages, 1998 bis 2002 Fraktionschef der SPD unter Rot-Grün, 2005 bis 2009 im selben Amt während der Großen Koalition, dazwischen Verteidigungsminister. Darüber wollen wir später noch reden, Herr Struck. In der Partei läuft inzwischen einiges anders. Sie haben eben so angedeutet, es läuft gut?

    Struck: Ja, ich bin sehr zufrieden mit Sigmar Gabriel und seiner Arbeit. Man darf ja nicht vergessen: In den letzten Jahren hat die SPD zehn Parteivorsitzende gehabt – von Willy Brandt an gerechnet mit Hans-Jochen Vogel beginnend . . .

    Capellan: . . . das wollte ich Sie auch fragen, woran das liegt.

    Struck: Ja, das liegt natürlich schon daran, dass die SPD nicht Geduld hat mit ihren Parteivorsitzenden, dass die SPD auch teilweise sozusagen – abgesehen von Matthias Platzeck, das war eine Ausnahme, der aus gesundheitlichen Gründen, was ich immer absolut nachvollziehen kann, das Amt nicht mehr weiterführen konnte –, schon mit ihren eigenen Vorsitzenden nicht pfleglich umgeht. Und es bedarf der Kontinuität, also eine Partei, die in so kurzem Zeitraum zehn Parteivorsitzende verbraucht, muss sich nicht wundern, dass die Menschen in ihrer Stetigkeit und Verlässlichkeit bestimmte Zweifel setzen.

    Capellan: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass vor der Bundestagswahl 2009 sich viele Sozialdemokraten schon quasi aufgegeben haben. Und da fiel das Stichwort von der "Erneuerung in der Opposition". Da haben Sie gesagt: Das ist alles Quatsch, Opposition ist Mist – in Anlehnung an Franz Müntefering. Aber jetzt beweist sich doch eigentlich, dass die Erneuerung ganz gut klappt, oder?

    Struck: Na ja, es ist so: Es kommt immer auf die agierenden Personen an. Ich will auch ausdrücklich Andrea Nahles mit einbeziehen und Frank Steinmeier, die die Partei und die Fraktion schon dazu gebracht haben, Alternativen zu formulieren und zu arbeiten. Eine Oppositionsfraktion muss in der Lage sein, morgen die Regierung zu übernehmen. Sie muss realistische Konzepte, Alternativkonzepte vorlegen können, darf nicht im Wolkenkuckucksheim sich tummeln und sagen: Im Himmel ist Jahrmarkt, und ich verspreche Euch, dass Ihr in den Himmel kommt, wenn Ihr mich wählt. Die Partei, die SPD, hat sich gefangen. Das liegt natürlich auch an der Schwäche der jetzigen Bundesregierung, diese Amateure, die ich da sehe. Und insofern sind wir auf einem ganz ordentlichen Weg. Und wir müssen nur bei den Meinungsumfragen noch deutlich über die 30 Prozent kommen, wenn wir die Mehrheit erreichen wollen.

    Capellan: Aber tut das nicht weh, dass nun viele Dinge korrigiert werden, die Sie mühsam mit durchgepaukt haben, zum Beispiel die Rente mit 67?

    Struck: Ja, wobei man der Ehrlichkeit halber sagen muss oder der Korrektheit halber sagen muss: Wir haben auch die Rente mit 67 ja unter einen Vorbehalt gestellt, nämlich dass im Jahr 2012 geprüft werden soll: Ist es wirklich möglich, die Rente mit 67 einzuführen? Ich weiß, die Debatten sind schwierig gewesen in der SPD, in meiner Partei. Viele haben uns damals verlassen oder sind zu anderen Parteien abgewandert als Wählerinnen oder Wähler. Insofern ist das, was die SPD jetzt beschlossen hat, aus meiner Sicht richtig. Sie sagt: Wir können die Rente mit 67 einführen, wenn mehr als 50 Prozent in der Lage sind, das auch zu machen.

    Capellan: Das ist aber auch ein Schielen auf die alten Wählerschichten, die alte Klientel. Also, ein bisschen Populismus steckt schon dahinter?

    Struck: Ja, ich meine, was soll eine Partei anders machen, als sich darum zu bemühen, verloren gegangene Wähler wieder zurückzugewinnen? Es ist ja keine hundertprozentige Kurskorrektur.

    Capellan: Die Gefahr besteht doch, dass sich das irgendwann rächt. Ich will das Beispiel nennen "demografischer Faktor" - hat Gerhard Schröder 1998 gesagt: Wollen wir nicht, schaffen wir wieder ab, was Kohl eingeführt hatte. Damals war das Argument: Den Kriegerwitwen dürfen wir nicht an die Rente gehen. Und dann, drei Jahre später, musste er selber sagen: War ein Fehler. Also könnte das Gleiche nicht irgendwann passieren, dass man sagt, dass wir das Renteneintrittsalter, dass wir das jetzt wieder aufgeschoben haben, so wie es Sigmar Gabriel ja vorschwebt, das war auch ein Fehler?

    Struck: Nein, das glaube ich nicht. Ich meine, ausschließen kann man es nicht. Man muss in der Politik auch in der Lage sein, zu sagen: Meine damalige Position ist aus den und den Gründen gebildet worden, aber es gibt heute gute Gründe, diese Position zu korrigieren. Trotzdem bleibt übrig, dass man natürlich angesichts der demografischen Entwicklung einfach schlicht darauf hinweisen muss, dass die Menschen länger arbeiten müssen.

    Capellan: Anderes Beispiel: Umverteilung von unten nach oben. Das beschreiben Sie auch, dass man versucht hat, die neue Mitte zu gewinnen und dass man weg wollte von dieser Umverteilungspolitik. Jetzt geht man wieder ein Stück da hin. Vermögenssteuer soll wieder eingeführt werden, der Spitzensteuersatz soll angehoben werden. Ist das richtig, diesen Schritt zurück zu machen?

    Struck: Na ja, zum jetzigen Zeitpunkt ja. Es ist faktisch ein Schritt zurück, aber er ist ja der neuen politischen Situation geschuldet. Ich meine, der Staat ist in einer schweren Finanzkrise. Und wenn man eine solche Finanzkrise hat wie jetzt, wo der Staat dann einstehen muss für Dinge, von denen wir vor zehn Jahren noch nie was geahnt haben, dann muss man auch bereit sein, sozusagen auf die aktuelle Situation einzugehen – auch mit solchen Vorschlägen.

    Capellan: Sie schreiben sehr viel über Wolfgang Clement, dessen Parteiausschluss - über solche Verfahren haben wir ja eben gesprochen - Sie damals eigentlich gefordert und forciert haben. Sie stellen die These auf, dass Wolfgang Clement zumindest teilweise auch schuld ist, dass die Linkspartei geboren, gegründet wurde.


    Struck: Ganz so ist es nicht. Also, ich glaube, dass es ein Fehler der zweiten Regierung Schröder war, ab 2002, das Arbeits- und das Wirtschaftsministerium zusammenzulegen.

    Capellan: …und dann zu besetzen mit einem Mann wie Clement...

    Struck: …und dann zu besetzen mit einem Mann wie Wolfgang Clement, der sich nun eigentlich deutlich selbst als ein Mann der Wirtschaft oder für Wirtschaft verstanden hat, und nicht als Arbeits- und Sozialminister. Hätten wir Walter Riester behalten für sein Ressort, als Arbeits- und Sozialminister, und Wolfgang Clement als Wirtschaftsminister, wäre vieles anders gelaufen. Ich glaube, dass der Gerhard Schröder das nicht anders sieht als ich heute.

    Capellan: Aber er hat auch einen Fehler gemacht in dem Kontext, die vorgezogene Neuwahl, ist Ihre These.

    Struck: Ja. Ich war, glaube ich, das einzige Kabinettsmitglied, das dagegen war. Aber es war eine Entscheidung, die schon getroffen war zwischen ihm und Franz Müntefering.

    Capellan: Ihrer Ansicht nach hat es die WASG und PDS gezwungen, sich innerhalb kürzester Zeit zusammenzufinden.

    Struck: Ja, sehr schnell zusammenzufinden. Und wenn wir bis 2006 gewartet hätten, hätten wir eine andere wirtschaftliche Situation gehabt. Wir hätten die Fußballweltmeisterschaft mit der Euphorie in Deutschland gehabt, die natürlich auch der Regierung zugute gekommen wäre.

    Capellan: Und die Linke hätte nicht Fuß fassen können.

    Struck: Und die Linke wäre noch nicht so weit gewesen, wie sie dann ja tatsächlich im Jahr 2005 unter diesem Zeitdruck gewesen ist.

    Capellan: Lässt sich das umkehren?

    Struck: Das weiß ich nicht. Also, ich glaube schon, dass die Linke keine vorübergehende Erscheinung ist. Ich glaube schon, dass wir uns in den nächsten Jahren schon mit einem Fünf-Fraktionen-Parlament weiter beschäftigen müssen, was ja auch Auswirkungen auf die Koalitionsfrage hat. Zweierkonstellationen werden eher seltener werden als Dreierkoalitionen oder Große Koalition eben als Alternative. Aber die Linke wird sich überleben. Die SPD wird irgendwann die verloren gegangenen Wähler wieder zurückbekommen.

    Capellan: Was sollte die SPD mit der Linken tun, aktuell?

    Struck: Na, ich denke schon, dass man sie politisch bekämpfen muss, das haben wir immer gesagt, unsere Alternativen klar machen. Wir haben auch zu meiner Zeit als Fraktionsvorsitzender schon aufgelistet, wie die Forderungen der Linken finanziell sich auswirken würden auf den Bundeshaushalt - also, überhaupt finanziell alles gar nicht darstellbar. Aber ich erwarte sozusagen den ersten Schritt auf der Seite der Linkspartei. Sie muss ihre Position in Sachen Außenpolitik deutlich ändern, und sie muss eine realistische Finanz- und Sozialpolitik vorlegen können oder machen wollen. Dann ist sie durchaus ein Gesprächspartner für uns.

    Capellan: Wie es weiter geht zwischen den beiden, zwischen SPD und Linkspartei, hängt sicherlich auch von Personen ab, auch aufseiten der SPD. Einem Sigmar Gabriel traut man eine Koalition mit der Linkspartei zu, einem Peer Steinbrück, der auch mal wieder noch ins Gespräch gebracht wird – Sie haben ihn auch sehr gelobt für seine Politik in der Großen Koalition . . .

    Struck: Der war ein guter Finanzminister, ja.

    Capellan: Manche sähen ihn gerne als Kanzler. Bei dem kann man sich nicht vorstellen, dass der etwas mit der Linken machen würde.

    Struck: Es macht ja keinen Sinn, jetzt über Koalitionen zu reden. Wir sind jetzt drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl…

    Capellan: Auch nicht über Kanzlerkandidaten?

    Struck: Sowieso nicht. Das ist lächerlich, eine solche Debatte.

    Capellan: Aber Gabriel hat sie ja selber so ein bisschen angestoßen und gesagt, man könnte auch in Urwahlen einen Kanzlerkandidaten bestimmen. Wäre das eine Lehre aus dem Schwielowsee?

    Struck: Nein. Das war meiner Meinung nach kein Ruhmesblatt, der Schwielowsee. Alles ging um die Frage, warum Kurt Beck sozusagen zurückgetreten ist. Das ist ja am Schwielowsee dann entschieden worden.

    Capellan: Ja, und der Hintergrund war ja eben auch dieser schwelende Machtstreit zwischen Beck und Steinmeier: Wer wird Kanzlerkandidat? Was sich da lange hingezogen hat.

    Struck: Ja, das war eigentlich kein Machtstreit. Im Grunde war es aus meiner Sicht ziemlich schnell klar für den Kurt Beck, dass er Steinmeier vorschlagen würde. Aber es macht keinen Sinn, jetzt über Kanzlerkandidaten zu reden. Ich will übrigens noch mal sagen, dass ich den Grundsatz, dass der Parteivorsitzende der SPD den ersten Zugriff hat auf ein solches Amt, auf eine solche Kandidatur, für absolut richtig halte.

    Capellan: Aber er hat das bestritten, dass es so sein müsse, Sigmar Gabriel.

    Struck: Ja, er sieht das anders. Aber ich bleibe bei meiner Meinung.

    Capellan: Lassen Sie uns über Afghanistan reden. Sie waren Verteidigungsminister von 2002 bis 2005. Was sollen deine Soldaten dort? - hat Ihnen Helmut Schmidt gesagt. Mancher fragt sich heute, was sollen sie dort?

    Struck: Ja, das hat mich schon sehr nachdenklich gemacht. Ich habe oft an diese Frage von Helmut Schmidt gedacht. Ich hatte ihn besucht, gleich nach meiner Amtsübernahme, um mir ein paar Ratschläge von ihm zu holen. Er war ja mal Fraktionsvorsitzender, er war Verteidigungsminister. Und das war schon ein intensiv diskutiertes Thema dort. Ich habe dann versucht, klar zu machen, dass wir in einer Bündnisverpflichtung stehen, dass wir die Amerikaner solidarisch beim Kampf gegen den Terrorismus unterstützen. Heute ist es so, dass ich schon sage, das Afghanistan-Engagement ist ein Engagement, das ich in diesem zeitlichen Umfang überhaupt nicht erwartet habe. Das mag vielleicht blauäugig gewesen sein. Aber alle waren blauäugig, auch die Amerikaner. Wir haben gedacht, in zwei, drei Jahren können wir das Land verlassen. Dass es heute nicht so ist, das sehen wir. Da gibt es bittere Erlebnisse, die jeder Verteidigungsminister mitmachen muss, wenn er gefallene Soldaten in der Heimat dann wieder empfangen muss. Insofern sage ich, es muss eine Perspektive für einen Ausstieg aus dem Afghanistan-Engagement geben. Das setzt voraus, es muss eine eigene, tragende Sicherheit durch Afghanistan selbst garantiert werden können. Wann das der Fall sein wird, weiß ich nicht.

    Capellan: Aber es werden Daten genannt, sowohl aufseiten der Union als auch aufseiten der SPD. Frank-Walter Steinmeier hatte da wohl arge Bauchschmerzen. Hätten Sie die auch gehabt?

    Struck: Na ja, ich hätte schon ein bisschen gezögert, ein Datum zu nennen für den ersten Abzugstermin deutscher oder US-amerikanischer Soldaten. Aber Barack Obama hat den ersten Schritt in dieser Richtung getan. Bei einer Rede vor einer Militärakademie in Amerika wurde gesagt, wir wollen im Jahre 2011 schon mit dem ersten Abzug von Soldaten beginnen. Das Entscheidende muss sein, welche Bedingungen sind erfüllt, damit wirklich – nicht alle, es müssen auch noch Soldaten da bleiben, die weiter ausbilden helfen – Soldaten der größten Kontingente gehen können. Das ist aus meiner Sicht das entscheidende Kriterium, kann Afghanistan eine eigene Armee und eine eigene Polizei aufbauen?

    Capellan: Sie glauben daran?

    Struck: Ich hoffe, dass es dazu kommt. Ich bin enttäuscht von Präsident Karsai. Ich habe ihn ja kennen gelernt, lange Jahre auch öfter Termine mit ihm gehabt bei meinen Besuchen dort.

    Capellan: Er macht zu wenig?

    Struck: Ja, ich finde, er hat da zu wenig gemacht.

    Capellan: Müssten wir, der Westen, mehr Druck machen?

    Struck: Ja, man muss schon Druck machen. Ich meine, Afghanistan hängt immer noch am finanziellen Tropf des Westens, aber auch anderer asiatischer Länder, Japan hat sich auch stark engagiert. Aber die Regierung Karsai sozusagen bringt nicht das, was man von ihr erwarten kann.

    Capellan: Warum wird die Sicherheit Deutschlands Ihrer Ansicht nach – das ist das berühmte geflügelte Wort von Ihnen – immer noch am Hindukusch verteidigt? Warum nicht im Jemen, in Somalia oder etwa auch in Pakistan, wo wir jetzt sehen, dass sich die Menschen auch den Extremen zuwenden?

    Struck: Ein absolut richtiger Hinweis, Herr Capellan. Also, ich denke auch, wenn ich über Afghanistan nachdenke, viel mehr an Pakistan als früher.

    Capellan: Aber dann müssten wir ja da auch hin?

    Struck: Ja, die Frage ist nur, wohin gehen wir? Das müssen wir allein entscheiden, beziehungsweise der Bundestag entscheidet dann, wohin wir gehen auf Vorschlag der Bundesregierung. Aber dass man absolut sich irgendwo raushalten könnte, also sagen: ‚Komm, lass uns in Ruhe’, das ist, glaube ich, die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung, die sagen: Es soll kein deutscher Soldat irgendwo auf der Erde in irgendeinem Ort fallen. Das finde ich auch nachvollziehbar, das ist absolut logisch. Aber in einer heilen Welt leben wir nicht mehr. Wir müssen jeweils entscheiden, warum engagieren wir uns da oder da. Ich halte es zum Beispiel für einen Skandal, dass wir, der Westen jedenfalls, nicht mehr tut im West-Sudan. In Darfur, da werden täglich Menschen ermordet. Es sind Millionen auf der Flucht. Und der Westen sagt, die Afrikanische Union soll das klären. Die Afrikaner sagen auch, wir wollen keinen Weißen hier sehen, wir machen das alleine. Aber ich glaube, die schaffen es nicht. Man muss gucken, was kann die Bundeswehr leisten. Da sind die Überlegungen für die Reform der Bundeswehr durchaus richtig. Aber es kann ja nicht sein, dass bei einer Armee, die nach den Vorstellungen Guttenbergs vielleicht 167 Tausend haben soll, nach meinen Vorstellungen sollen es 250 sein, nicht in der Lage ist, 20.000 Soldaten irgendwo auf der Welt einzusetzen. Das kann mir keiner erklären.

    Capellan: Dann bräuchten wir aber auch eine ganz andere Bundeswehr und keine Wehrpflichtigenarmee mehr?

    Struck: Das sehe ich anders. Also, ich bin ein ganz großer Befürworter einer Wehrpflichtarmee, weil ich schon glaube, dass die Armee, die Bundeswehr, dadurch immer sozusagen in der gesellschaftlichen Debatte durch die Wehrpflichtigen, die rein kommen, eingebunden ist. Ich weiß, eine Berufsarmee ist teurer und eine Berufsarmee ist von der Qualität auf keinen Fall besser.

    Capellan: Aber ist die Wehrpflicht nicht de facto längst abgeschafft?

    Struck: Ich kenne schon das Argument der Wehrgerechtigkeit. Nur ich glaube schon, dass erstens die jetzige Wehrpflichtzeit von sechs Monaten absoluter Unsinn ist. Dann können wir es gleich sein lassen. Und zweitens, oftmals ist da die Position ‚Wir setzen die Wehrpflicht mal aus’. Einmal ausgesetzt, heißt niemals wieder eingeführt. Davon bin ich fest überzeugt. Ich bin da auch sozusagen anderer Meinung als offenbar die Mehrheit meiner Partei und erst recht anderer Meinung als Guttenberg.

    Capellan: Lassen Sie uns noch über den Start von Schwarz-Gelb sprechen. Also der Start von Rot-Grün, das beschreiben Sie ja auch, der war ja auch nicht einfach 1998-99. Glauben Sie, dass sich Schwarz-Gelb genau so berappeln könnte, wie es damals bei Rot-Grün gelungen ist?

    Struck: Ich kann verstehen, dass eine Partei, die lange in der Opposition war – wir waren es 16 Jahre lang 1998 und die FDP war es jetzt auch lange Jahre, bevor sie in die Regierung gekommen ist – sich schwer tut. Aber diese Amateure, die dort agieren, an der Spitze der Außenminister, die sind für mich schon eine Überraschung.

    Capellan: Sie haben immer gegen die Kanzlerin gestänkert zu Zeiten der Großen Koalition.

    Struck: Ja, auch. Ja, natürlich. Ich sage, sie ist ein Chefpilot. Das ist ein ganz gutes Bild, das ein Kollege, dessen Namen ich nicht nennen darf, ein eher der CDU nahestehender Kollege, mal gefunden hat. Er hat gesagt, sie ist eine Pilotin, die gut fliegen kann, aber sie weiß nicht, wohin sie fliegt. Und die Passagiere wissen es auch nicht. Also, sie ist aus meiner Sicht zu beliebig, die Kanzlerin. Sie guckt, wo sind die Mehrheiten, woher kommt der Wind.

    Capellan: Aber sie fährt doch ganz gut damit?

    Struck: Ja, das ist so.

    Capellan: Also, Schröder hat eine Basta-Politik betrieben. Er hat mehrfach die Vertrauensfrage gestellt, hat auch die eigene Partei unter Druck gesetzt. Er hat sie in die Neuwahl getrieben. Er hat sich auch bei Parteifreunden sehr unbeliebt gemacht. Er hat Macht verspielt. Ist Angela Merkel nicht die Klügere, wenn sie die Macht erhält?

    Struck: Ja, aber es geht ja nicht um Macht um jeden Preis, sondern es geht um klare Linien in der Politik. Wie will man ein Industrieland wie Deutschland, mit 82 Millionen Einwohnern, wohin soll da die Reise gehen?

    Capellan: Aber ihr geht es vor allen Dingen um Macht?

    Struck: Ja, das war eindeutig zu sehen. Auch bei den Koalitionsverhandlungen.

    Capellan: Sie schreiben auch, sie würde mit jedem koalieren, Hauptsache, sie könnte Kanzlerin bleiben.

    Struck: Ja, das ist meine Einschätzung, ja.

    Capellan: Würde das auch bedeuten, sollte jetzt Schwarz-Gelb vorzeitig platzen, dass die SPD dann sofort wieder mit Angela Merkel regieren müsste?

    Struck: Darüber müssen wir gar nicht diskutieren, Herr Capellan, das passiert nicht. Die beiden Parteien werden mit aller Macht an der Macht kleben, egal was passiert.

    Capellan: Zum Schluss noch ein paar persönliche Worte. Wie privat darf Politik sein, muss ein Politiker sein? Ich spiele an auf das, was Sie über Ihren Schlaganfall auch im Buch geschrieben haben. Sie haben versucht, das möglichst lange unter der Decke zu halten. Aber natürlich wurde sofort auch von Seiten der Medien gefragt: Kann ein Minister, der einen Schlaganfall hatte, kann der weiterhin Chef der Armee sein? Ähnliches wurde gefragt, als Wolfgang Schäuble erkrankte auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. Darf man solche Fragen stellen oder verbietet sich das?

    Struck: Ich weiß es nicht. Für den Betroffenen ist es immer sehr bitter. Es ist schon so, ich kann verstehen, dass die Menschen fragen: Kann der sein Amt noch ausüben? Auf der anderen Seite, hat nicht auch jeder ein Recht auf Intimität, dass man erst mal guckt, wie entwickelt sich die Krankheit und kann ich mein Amt noch ausüben? So war es ja bei mir. Aber wenn Sie die Situation haben, dass sozusagen am Tag meines Schlaganfalls Fernsehteams versucht haben, meiner Frau aufzulauern, um von ihr eine Stellungnahme zu kriegen, dann muss man sagen, das geht nun eindeutig zu weit. Man muss damit umgehen, dass man auch öffentliche Person ist. Aber ich habe nie mein Privatleben sozusagen thematisiert oder politisiert und erhebe deshalb auch den Anspruch, auch darauf zu sagen: Leute, jetzt lasst mich erst einmal in Ruhe, ich werde zu gegebener Zeit mich äußern.

    Capellan: Nach einem Jahr sind Sie froh, dass Sie nicht mehr in dem Maße die öffentliche Person sind?

    Struck: Ja, bin ich absolut. Ich freue mich immer, wenn Leute mich auf der Straße begrüßen und sagen: Herr Struck, schade, dass Sie nicht mehr dabei sind, Sie haben einen guten Job gemacht! Aber es ist auch ganz schön, wenn man sozusagen nicht mehr Sorge haben muss, was steht am nächsten Tag über einen in der Zeitung. Ich bin mit meinem Leben als Privatmann zufrieden.

    Capellan: Peter Struck, vielen Dank, alles Gute!

    Struck: Ich danke Ihnen auch! Danke!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.