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Petersburg

"Im Leben eines Symbolisten", schrieb die russische Dichterin Marina Zwetajewa, "ist alles Symbol. Unsymbolisches gibt es nicht." Dabei hatte sie vor allem an Andrej Belyj gedacht, der in seinem zwischen 1911 und 1913 entstandenem Roman Petersburg geradezu eine halluzinatorische Anrufung des Symbolischen unternimmt; angefangen bei den Farben, Orten, Begegnungen, bis hin zu literarischen Anspielungen, Querverweisen und musikalischer Komposition scheint alles die Aura eines Zeichens anzunehmen. Auch deshalb stieß Belyj bei der zeitgenössischen Kritik auf Ratlosigkeit.

Marica Bodrozic | 24.10.2001
    Man sprach von einem "Astralroman", empfand ihn als "dunkel, als befremdlich und unausgeglichen, als chaotisch, als abstrakt und mechanistisch, als hieroglyphisch, farb- und geschmacklos" – alles in allem einigte man sich darauf, das Buch sei mißraten.

    Andrej Belyj selbst hielt Petersburg für sein "vielleicht bestes" Werk. Die Vorwürfe, er habe gesellschaftliche und alltagsweltliche Realien außer acht gelassen, konnte er rasch entkräften, hatte er ja ohnehin mehr ein mozgovaja igra, ein "Hirnspiel" im Sinn gehabt. Der Slawist Felix Philipp Ingold schrieb über Belyj, er sei unter allen russischen Symbolisten der einzige, der in künstlerischer Hinsicht mit der Avantgarde Schritt gehalten habe, was bemerkenswert schon deshalb sei, weil es – auf denkbar unkonventionelle Weise – in der konventionellen Erzählgattung des Romans geschah, den die jungen Futuristen und Akmeisten rundweg für überholt hielten.

    Erstmals erscheint nun im Insel Verlag eine 630-seitige, ungekürzte Ausgabe dieses "Bewusstseinsromans aus dem Geiste der Musik", in einer Übersetzung von Gabriele Leupold. Als Grundlage diente ihr die Fassung von 1912/ 1913, die der Veröffentlichung von 1981 im Moskauer Verlag Nauka folgt und hiermit zum ersten Mal in deutscher Sprache zugänglich ist. Anders als alle anderen Ausgaben gibt die hier vorliegende die ursprüngliche Version wieder. Belyj selbst hatte 1922 in Berlin eine Kürzung seines Werkes vorgenommen und in der ersten deutschen Übersetzung veröffentlicht.

    Geboren wurde Andrej Belyj, eigentlich Boris Bugajew Nikolajewitsch, 1880 in der Familie eines Mathematikprofessors und starb 1934. Er studierte Naturwissenschaften und Philosophie an der Moskauer Universität. Um 1903 macht er die Bekanntschaft mit Aleksander Blok und dem Kreis der älteren Symbolisten (Brjussow, Balmont, Mereshkowski) und avanciert schon bald zum Dichter und Theoretiker der jüngeren Symbolistengeneration. Diese unterschied sich von jener rein ästhetischen Orientierung Brjussows und stellte eher eine mystisch-philosophische, "auf umfassende Erneuerung des Lebens zielende Intention" in den Vordergrund. Belyj selbst war mit den Schriften des Anthroposophen Rudolf Steiner vertraut, studierte Nietzsche und interessierte sich für Okkultismus und Versologie. In seinen nach 1902 veröffentlichten Arbeiten bemühte er sich um eine grenz-übergreifende Kunstform; Lyrik, Prosa und Musik sollten ein auratisches Ganzes bilden.

    Vorherrschende Elemente im Roman Petersburg sind denn auch das Ahnungsvolle und Rhythmische sowie das Schwebende. Man hat davon gesprochen, Belyj habe in diesem Buch seine Vorliebe für "Flugbewegungen", für eine Art kosmisches Fluten sprachlich wie in keinem seiner anderen Bücher zugespitzt. Er hat Menschen, beweglichen und unbeweglichen Dingen, Figuren und abstrakten Begriffen lichtvolle Eigenschaften zugeschrieben und sie in Raumlosigkeit versetzt:

    Die Kutsche flog in den Nebel (...) Vom feurigen Trug erfüllt ist am Abend der Prospekt. Gleichmäßig schweben in der Mitte die Äpfel der elektronischen Lampen. Seitlich spielt jedoch der wechselnde Glanz der Schilder; hier, hier und hier flammen plötzlich Lichtrubine; flammen da Smaragde. Ein Augenblick: da – die Rubine; die Smaragde – hier, hier und hier.

    Vom feurigen Trog ist am Abend erfüllt der Newskij. Und in brillantenem Licht erstrahlen die Mauern vieler Häuser; hell funkeln aus Diamanten gebildete Wörter: Kaffehaus, Farce, Brillanten Theta, Uhren Omega
    . Grünlich bei Tag, doch jetzt hellgänzend, sperrt zum Newskij ein Schaufenster seinen feurigen Schlund auf: überall Dutzende, Hunderte feuriger Höllenschlünde ...

    Zeit des Roman-Geschehens ist das Jahr 1905, der Vorabend der Petersburger Revolution. In verwickelten Erzählsträngen und rhythmischen Wort-Aneinander-Reihungen breitet Andrej Belyj die halluzinatorische Geschichte des Senators Apollon Apollonwitsch Ableuchow aus. Dieser soll ausgerechnet von seinem Sohn Nikolaj Apollonowitsch ermordet werden, der sich sozialistischen Kreisen anschließt und von den Verschwörern beauftragt wird, eine Bombe direkt im Haus seines Vaters zu deponieren.

    Mestizenhafte Satzgefüge, sprunghafte Verwicklungen und Überlappungen verschiedener Gedankenströme und zahlreicher Handlungsstränge zeichnen das in sich durch und durch ungefügige Buch aus. Petersburg erscheine, so der Erzähler im Prolog des Romans, auf den Landkarten in Gestalt zweier ineinander sitzender Kreise mit einem,

    ... schwarzen Punkt im Zentrum; und genau aus diesem mathematischen Punkt, der keine Dimension hat, kündet es energisch davon, daß es existiert: von dort aus, genau aus diesem Punkt, schießt im Strom der Schwarm des gedruckten Buches; es schießt aus diesem unsichtbaren Punkt entschlossen ein Zirkular.

    Das Kreisförmige und das Zirkulierende sind denn auch die am ehesten noch greifenden Attribute dieses Romans, der sich aus den Untiefen eines abgeschotteten Bewusstseins nährt. Dieser rumorenden Ebene des Unbewussten unterliegen Orte, Menschen und Handlungen und wirken sich in ihrer artistisch-zeichnhaften Beziehung apokalyptisch aufeinander aus.

    Der Plot orientiert sich an einigen realen Begebenheiten und Persönlichkeiten der revolutionären Terrorszene Petersburgs. Die erzählerische Struktur arbeitet sehr viel mit Verfremdungen und vor allem mit verschiedenen "unauflösbaren Gegensätzen", die aber ins innere des Kopfes, des "Hirnspiels", wie es häufig heißt, hineinführen und auf harmonische Figuren-Konstrukte ganz verzichten. Ausgefochten wird – vor dem Hintergrund der in allem wogenden Turbulenzen, Flug- und Schwebebewegungen – der Konflikt zwischen Vater und Sohn, der Gegensatz zwischen Russland und Europa, zwischen Stadt und Land, Innen und Außen, Verstand und sinnlicher Freude.

    Die traumartigen Diskontinuitäten haben Vorrang vor Harmonie und Geschlossenheit. In allem ist der Gestus der Verschwendung zu spüren. Diese Überdrehtheit und das totale Chaos der Belyj’schen Erzählökonomie sind es, die Petersburg – den gewagtesten russischen Roman des 20. Jahrhunderts – zu einem modernen Werk machen. Der "kosmische Sturm", wie ihn der Autor selbst als Idealbild für seine schriftstellerische Arbeit vor Augen hatte, führt sich hier mühelos ins Feinstoffliche hinein. In diesem Sinne sollte dieses Buch als ein Spaziergang (nicht nur durch ein russisches Reich und die Stadt Petersburg) begriffen werden, sondern vor allem als eine Einladung zur Verirrung. Die Übersetzung von Gabriele Leupold jedenfalls bietet im besten Sinne eine solide Grundlage dafür; Ilma Rakusa, die das Nachwort besorgte, betont das irritierend Großartige dieser Übertagung; diese sei "ganz dazu agetan, Belyj erstmals bewußt zu entdecken: als einen der kühnsten Experimentatoren des modernen Romans.