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Petrus Abaelard und die Gesinnungsethik

Petrus Abaelard ist einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen des Mittelalters. Bereits im 12. Jahrhundert trat er für den Vorrang der Vernunft nicht nur in der Philosophie, sondern auch in Glaubensfragen ein. Mit diesem Ansatz gehört er zu den Begründern der mittelalterlichen Scholastik.

Von Astrid Nettling | 25.06.2012
    "Mein Heimatort Le Pallet, etwa acht Meilen östlich von Nantes, liegt im Grenzgebiet der Bretagne. Mein Vater hatte schon vor dem Ritterdienst ein wenig studiert und schwärmte später für die wissenschaftliche Bildung. Als Erstgeborener legte er bei mir besonderen Wert auf sorgfältigen Unterricht. Ich machte mühelos große Fortschritte, und schließlich gewann ich die Wissenschaft so lieb, dass ich allen Glanz des Rittertums dahingab und mich von Mars' Hofhaltung ganz zurückzog, um Minervas Schoßkind zu werden."

    Mit diesen Worten blickt der über 50-jährige Peter Abaelard auf seine Anfänge zurück. 1079 geboren, beginnt der begabte Sohn des Ritters Berengar bereits im Alter von 16, nachdem er von seinem Vater den ersten Unterricht erhalten hatte, mit dem Studium der Philosophie. Dr. Matthias Perkams, Theologe und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Jena:

    "Das Mittelalter bei all seinen teilweise irrationalen Seiten ist auch ein Zeitalter der Blütezeit der Vernunft. Gerade im Mittelalter entsteht dieses methodische Bemühen, die ganze Welt und auch das Glaubensgut mit der Vernunft zu erklären, das sich dann in den Universitäten so festigt, dass es seine Wirkung bis heute entfalten kann. Und insofern ist Abaelard eigentlich schon als mittelalterlicher Mensch ein Stück weit modern"

    "Von der Philosophie sagte mir die Logik am meisten zu. Schließlich kam ich auch nach Paris, dem alten Mittelpunkt der logischen Studien, und Wilhelm von Champeaux wurde mein Lehrer. Ich war anfangs lieb Kind, später wurde ich ihm mehr als lästig, suchte ich doch etliche seiner Thesen zu widerlegen und gestattete mir, Gegengründe aufmarschieren zu lassen, was mir einige Male im Wortgefecht einen klaren Sieg über den Professor einbrachte. Dies gab das erste Glied der Leidenskette, die noch kein Ende hat."

    Heißt es in seiner Lebensgeschichte weiter, der "Historia calamitatum", von Abaelard nicht zuletzt deswegen als seine "Leidensgeschichte" bezeichnet. Denn dem ersten Glied der Leidenskette folgen rasch weitere. Gerade "die Logik ist es, die mich der Welt verhasst gemacht hat", wird er an anderer Stelle schreiben. Doch nichts kann Abaelard davon abhalten, als streitbarer Geist für die Sache der Vernunft zu fechten – freilich als ein Kind seiner Zeit, das heißt, auf dem unangefochtenen Boden von Religion und Glauben. Matthias Perkams:

    "Das Interessante ist, dass diese Strömungen, die uns ja sehr gegensätzlich scheinen, aus einer einzigen Wurzel kamen, nämlich aus der Selbstbesinnung, die im Christentum selber stattfand. Und vor diesem Hintergrund entwickeln sich einerseits ein Strang rationaler, wissenschaftlich methodischer Reflexion, der schließt an die antike Philosophie, und andererseits ein Strang der Selbstbesinnung in den Klöstern selbst. Dafür steht der Name Cluny, aber vor allen Dingen auch der Name Citeaux des Zisterzienserordens, der sich mit seiner klösterlichen Infrastruktur durch ganz Europa verbreitete. Hinter dieser Infrastruktur stand natürlich eine eigene geistige Idee, die mit einer intensiven Frömmigkeit, teilweise auch mystischen Frömmigkeit einherging. Dem gegenüber dann jemand wie Abaelard, der sagt, ich bin ein Ritter, also jemand, der eigentlich aus dem weltlichen Bereich kommt, aber ich kämpfe nicht mit dem Schwert und der Lanze, sondern ich kämpfe mit den Waffen des Geistes."

    Diese Waffen des Geistes sind die Waffen des "lógos", deren sachgemäßer Gebrauch die "Kunst der Dialektik" lehrt, die philosophische Disziplin methodischer Gedanken- und Beweisführung, wie sie in der Antike entwickelt worden war. Kein anderer als Augustinus, der spätantike Kirchenvater, hatte von der Dialektik sogar als "disciplina disciplinarum" gesprochen, als "Disziplin der Disziplinen". In diesem Sinne versichert ebenso Abaelard, dass die Dialektik "als Führerin den Vorrang vor der ganzen Philosophie besitzt" – was der wortgewandte Dialektiker, zu dessen Vorlesungen die Studenten von überall her strömen, glänzend unter Beweis stellt. Doch damit gibt Abaelard sich nicht zufrieden. Seine Leidenschaft für die Vernunft treibt ihn weiter.

    "Ich gab die philosophische Vorlesung nicht auf, ich machte sie gewissermaßen zum Angelhaken, um die Schüler mit ihrer Liebe zur Weisheit zu ködern und dann für die wahre Weisheit, die Weisheit Gottes, zu gewinnen. Meine Studenten begehrten eine verständliche philosophische Beweisführung und wollten Begreifbares hören, nicht bloße Worte. Es sei eine Lächerlichkeit, anderen etwas vorzupredigen, was Lehrer und Schüler verstandesmäßig nicht fassen könnten."
    Das aber beschert Abaelard erneutes Leiden. Namentlich in Bernhard von Clairvaux, dem der Mystik nahestehenden Zisterziensermönch, wird ihm ein erbitterter Gegner erwachsen, der mit allen Mitteln zu bekämpfen sucht, was Abaelard unter dem damals neuen Wort "theologia" zu leisten beansprucht, nämlich "menschliche und philosophische Argumente" für den Glauben zu geben. Dr. Matthias Perkams, Theologe und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Jena:

    "In der Tat, Abaelard prägte dieses Wort Theologie. Das hat es wohl vorher schon gegeben, aber nicht für eine christliche Reflexion. Es war Aristoteles gewesen, der sagte, Metaphysik und Theologie gehören zusammen. Diesen eigentlich antiken Titel, den übertrug Abaelard nun in die Philosophie, das, was vorher einfach Lehre von der Heiligen Schrift genannt wurde, das war Theologie, und offenbar waren es diese Gräzismen, die Bernhard von Clairvaux wie bombastische Monster erschienen und wo er sagte, schon diese sprachlichen Monster zeigen an, was da Schreckliches auf uns zukommt, dieses eigentlich mystische, religiöse Glaubensgut soll hier total rationalisiert werden."

    "Hier in Frankreich haben wir einen neuen Theologieprofessor, der sich aus einem Doktor der Dialektik entwickelte. Nachdem er seit seiner Jugend mit der Logik ein übermütiges Spiel trieb, tut er sich jetzt wie ein Verrückter im theologischen Fach um. So verspricht er seinen Hörern Einsicht in das, was erhabener und heiliger im unerschöpflichen Grund des christlichen Glaubens verwahrt ist."

    Schmäht Bernhard von Clairvaux in einem seiner zahlreichen Briefe gegen Abaelard. Dessen "theologia" sei in Wirklichkeit nichts anderes als "stultilogia", eine Riesentorheit, worin sich die Vernunft in Regionen versteige, die sie absolut nichts angehe:

    "Dieser Abaelard glaubt, er könne die gesamte Gottheit mit der menschlichen Vernunft umfassen."

    Doch Abaelard weiß nur zu gut, dass "die Weisheit dieser Welt bei Gott Torheit ist", wie es in einem Paulusbrief an die Korinther lautet. "Stultilogia", Torheit, wäre es in der Tat, wollte eine "theologia" Gott mit den Mitteln menschlicher Vernunft zu erfassen suchen. Eine "Beleidigung" obendrein für den Gläubigen, sich zu einem Gott "bekennen zu sollen, den menschliche Gründchen begreifen", stellt Abaelard in seiner "Theologia summi boni" klar. Seiner ersten Theologie, die er eigenhändig dem Feuer übergeben muss, als sie 1121 auf der Kirchenversammlung von Soissons als häretische Schrift verurteilt wird. Unmissverständlich aber hatte er darin erklärt:

    "Wir versprechen nicht, die Wahrheit zu lehren, von der feststeht, dass weder wir noch irgendein Sterblicher sie wissen können, aber es ist doch möglich, wenigstens etwas Wahrscheinliches und der menschlichen Vernunft Angemessenes und auch der Heiligen Schrift nichts Widersprechendes vorzubringen. Was die Wahrheit ist, weiß allein der Herr."

    "Am Anfang dieses Jahrhunderts steht ja ein Anselm von Canterbury, ein Benediktinermönch, der nach notwendigen Argumenten für die Existenz und für das Verständnis Gottes sucht. Also, wenn man die beiden vergleicht, Abaelard war ja eine Generation jünger als Anselm von Canterbury, dann ist es sehr interessant zu gucken, dass zum Teil der Mönch Anselm wesentlich mehr Vertrauen in die Vernunft hat als der Wissenschaftler Abaelard. Anselm glaubt, er kann notwendige Gründe dafür anführen, dass wir an Gott glauben müssen, Abaelard meint, dass notwendige Gründe uns hierbei überhaupt nicht helfen können, sondern er meint wahrscheinliche Gründe, Gründe der Ehrbarkeit, Gründe, die jeden Menschen in seinem Gewissen berühren, sind wesentlich überzeugender und wesentlich effektiver."

    Wohl bleibt Abaelard seiner ursprünglichen Liebe zu Logik und Dialektik treu, gerade das aber bedeutet für den Theologen, deren Grenzen nicht aus dem Blick zu verlieren. Und stammt nicht von Paulus das mahnende Wort, dass die Wissenschaft den Menschen aufblähe? Schließlich gibt es, so Abaelard, eine der "Wissenschaft immer schon sehr vertraute und ihr gleichsam von Natur aus anhängende eigentümliche Untugend" – die der Überheblichkeit:

    "Das war auch den Philosophen nicht verborgen, die der Auffassung waren, dass die Bekanntschaft mit Gott nicht durch logische Schlussfolgerungen, sondern durch eine gute Lebensführung zu erwerben sei, und die rieten, dass sie eher durch Sittlichkeit als durch Worte anzustreben sei."

    "Erkenne dich selbst" hatte einst über dem Orakel zu Delphi gestanden. Eine Mahnung an den Menschen, nicht in Selbstüberhebung zu verfallen.