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Peymann inszeniert "King Lear" am Schauspiel Stuttgart
Der alte König kehrt zurück

In Stuttgart fing sein Ruhm an, nach Stuttgart ist er zurückgekehrt. Claus Peymann hat William Shakespeares Königsdrama "King Lear" inszeniert. Trotz kleinerer Schwächen war es eine triumphale Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte.

Von Christian Gampert | 24.02.2018
    König Lear von William Shakespeare Neufassung von Jutta Ferbers nach der Übersetzung von Wolf Baudissin
    Martin Schwab als König Lear am Schauspiel Stuttgart (Schauspiel Stuttgart / Thomas Aurin)
    "Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen", sagt Shakespeare. Aber die Alten fallen gar nicht. Sie sind zwar umzingelt von hippen Jungregisseuren, machen aber einfach weiter. Altmodisch sieht es aus, was Claus Peymann mit seinem Lear anstellt. Aber es ist psychologisch sehr, sehr genau.
    Karl-Ernst Hermann hat eine wunderbare, klar strukturierte Black Box auf die Bühne gebaut. Aus drei durchsichtigen Türen stürzen die Protagonisten herein, im zweiten Teil dienen sie leider nur noch zu einem dürftigen Auf- und Abtritt-Theater. In der Mitte hängt fast den ganzen Abend lang die Krone, die ist umkämpft: der altersmüde Lear zieht sich zurück und bittet seine Töchter um Liebeserklärungen. Es geht ums Erbe, da muss man schon mal schmeicheln. Das tun jedenfalls die beiden Salonschlangen Regan und Goneril, grimassenhaft und berechnend gespielt von Caroline Junghanns und Manja Kuhl. Nur die dritte, Cordelia, die als Papas Liebling und jugendlicher Springinsfeld auf die Bühne gekommen ist, kann die rechten Worte nicht finden…
    Was sagst du, damit du das schönste Drittel kriegst? Schöner noch als deine Schwestern? – Nichts, Vater. Ich bin nicht so geschickt wie meine Schwestern. Ich kann mein Herz nicht auf der Zunge tragen.
    Der König als zorniger Vater
    Diese Szene ist schon die entscheidende, und sie ist prekär, weil das Umschlagen von Lears Gemütszustand völlig abrupt erfolgt. Vom freigiebigen, gütigen Vater wandelt er sich von einer Sekunde auf die andere zu einem zornigen, verbitterten, beleidigten alten Mann. Doch Martin Schwab, der den Abend mit seiner ungeheuren und doch unaufdringlichen Präsenz trägt, macht das alltagsnah und nachvollziehbar: aus dem Wolkenkuckucksheim des narzisstischen Alleinherrschers stürzt da einer auch in die Abgründe des machtlosen, ressentimentgeladenen Rentnerdaseins. Er ist enttäuscht, weil gerade seine Lieblingstochter ihm ihre Zuneigung nicht zeigen kann, und die starke Lea Ruckpaul als Cordelia sieht nicht ein, dass sie öffentlich dumme Floskeln hervorstoßen soll.
    Dass sie dann auch den Narren spielt, der den verstockten Lear durch seine Leere und Einsamkeit führt, ist ein nicht ganz neuer, aber doch schöner Kunstgriff der Regie – der auch dadurch aufgewertet wird, dass die junge, aber sehr geerdete Schauspielerin Lea Ruckpaul hier nicht den Zappler und Pseudophilosophen gibt. Sie hat als Narrenkappe zwar eine Art Prinzenmütze auf, als sei sie aus dem rheinischen Karneval gefallen, aber sie führt den starrsinnigen Alten mit heiligem Ernst wie eine respektlose Pflegerin, die dem immer seniler werdenden Patienten unangenehme Wahrheiten zu sagen hat.
    Welt aus Stein
    Und Martin Schwab ist ein wunderbarer Lear. An seiner Figur wird auch Peymanns Fähigkeit sichtbar, die Verworrenheit der Shakespeare-Welt auf einen heutigen Empfindungs-Kosmos herunterzubrechen. Schwab tänzelt und schwankt, bisweilen gibt er auch den fidelen Greis (oder er deutet das an), aber insgesamt spielt er eine Art hellsichtige Demenz: einen, der unnütz und verbittert ist, sich in den Wahn flüchtet und erst dadurch zu sich selbst kommt. Als er am Ende die tote Cordelia in den Armen hält wie Maria den toten Jesus, hat er endlich etwas von der bösen Welt begriffen.
    Ihr seid alle aus Stein! Hätt ich eure Augen, eure Zunge, mein Jammern würde den Himmel sprengen! Dahin ist sie, für immer!
    Stark ist auch die Parallelhandlung, die Konkurrenz der Söhne Edgar und Edmund um die Gunst des von der Macht brutal misshandelten Gloster, den Elmar Roloff als todessüchtigen Blinden spielt. Eine Spiegelung der Lear-Figur. Das alles ist sehr gutes und sehr altes Schauspielertheater der achtziger Jahre, mit viel Ruhe und Konzentration und gelegentlichen Eruptionen. Je länger die Aufführung dauert, desto mehr werden auch die Schwächen der Peymannschen Methode sichtbar: die Inszenierung verliert sich in den Intrigen und Windungen des Stücks – da müssen doch ziemlich viele Tote abgearbeitet werden. Trotzdem ist das eine triumphale Rückkehr des von Hans Filbinger Vertriebenen an seine alte Wirkungsstätte. Peymann lebt – als er auf die Bühne kam, war das, ganz ohne Pathos, ein historischer Moment.