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Pfad der Modernisierung

Rückblende auf die späten 60er - Zitat: "Wir sind das Schlangenei, aus dem die Rote-Armee-Fraktion gekrochen ist. Wir sind die Erfinder der Spaßgesellschaft. Wir hatten alle einen Kopfschuss. Gruppensex. Antisemiten. Unser Vorbild war Mao. Alles nicht wahr." Eine Montage der Klischees, die über die Kommune I und die linke Westberliner-Protestszene im Umlauf waren und sind - so rasant aneinander geschnitten, dass die Verdikte sich gegenseitig aufheben.

Von Wolfgang Stenke | 10.02.2005
    Doch das Unwahrscheinliche ist Ereignis geworden: Wer 1969 am Tresen einer Kreuzberger Kneipe prophezeit hätte, dass der APO-Anwalt Otto Schily einmal als Innenminister der mit der DDR vereinigten Bundesrepublik Deutschland in Berlin residieren würde, den hätte man kurzerhand gefragt, ob er nicht eine Tüte zuviel geraucht habe. Aber das eingemauerte Biotop - in der Diktion der DDR hieß es "besondere politische Einheit West-Berlin" -, hat in der Tat Entwicklungen hervorgebracht, die sich jeder politischen Wahrscheinlichkeitsrechnung entziehen. Wie das alles losging in den mythischen 60ern, das beschreibt in einem fulminanten Augenzeugenbericht der Schriftsteller Ulrich Enzensberger: "Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967 - 1969". Sein Buch liefert die Innenansicht einer Keimzelle der linken Studentenrevolte. Zugleich skizziert es den historisch-politischen Kontext der Verhältnisse, die eine ganze Generation auf die Barrikaden brachten.

    Ulrich Enzensberger war mit 22 der jüngste der Kommunarden aus dem Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Laut Berliner Staatsanwaltschaft entfaltete die Kommune I - "eine Gruppe von Studierenden und Berufslosen" - "seit Anfang des Jahres 1967 eine propagandistische Tätigkeit zu Universitätsfragen, zu Fragen der Innen-, der Außen- und schließlich auch der Weltpolitik", die zu "passiven und aktiven Widerstandshandlungen geführt" habe.

    Füllt man die Leerstellen dieser Juristenprosa, dann ging es den Protestierenden um die Veränderung der Herrschaftsverhältnisse an den Universitäten, die Liberalisierung der autoritären bundesdeutschen Gesellschaft und die Beendigung des amerikanischen Kolonialkrieges in Vietnam. Dafür kämpften sie mit Straßendemonstrationen, Go-ins und Polit-Happenings - Methoden, entlehnt aus dem Arsenal der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder der surrealistisch-situationistischen Kunst. Auch den Fundus der marxistischen Arbeiterparteien plünderten die Rebellen bedenkenlos - was daran Zitat war oder explizit politisches Programm, ist noch heute nicht leicht auszumachen. Der Begriff der "Kommune" beschwor frühe Formen der direkten Demokratie, entstanden aus der Erhebung der Pariser Arbeiter im Jahre 1871; er verwies zugleich auf die Kollektivierung im maoistischen China. Auf seinen roten Plakaten - unter den Porträts von Marx, Engels und Lenin - zitierte der SDS einen Slogan der Deutschen Bundesbahn: "Alle reden vom Wetter - wir nicht."

    In jedem Fall sollte der Protest auch die Lebenspraxis der Kommunarden und damit das bürgerliche Individuum verändern. Abschaffung des Privateigentums stand auf dem Programm - nicht nur in der Gruppe selbst. "Klaut bargeldlos!" hieß es in einem Flugblatt. Denn: "Wer den Spießer nicht enteignet, bleibt es selbst, auch wenn er’s leugnet!"

    Während die Bundesrepublik, wie Enzensberger schreibt, noch in den moralischen Grenzen von 1937 existierte, hängte die Kommune die Zimmertüren aus, redeten Bürgerkinder auf einmal von freier Sexualität. Die Haare wurden länger und die Polit-Aktionen gewagter. Der Versuch, gegen den Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey mittels einer Rauchbombe zu demonstrieren, rief die Justiz auf den Plan - selbst wenn die Bombe im wesentlichen aus Puddingpulver bestand. Der Staatsapparat nahm die surrealistische Spaß-Guerilla ernst.

    Der Studentenprotest traf auf eine im Kalten Krieg verkrustete Gesellschaft. Die Regierungspartei CDU hatte unter Adenauers Nachfolger Erhard abgewirtschaftet und flüchtete in eine Große Koalition mit der SPD. Nirgendwo war die Erstarrung deutlicher zu spüren als im geteilten Berlin. Der Westen hing am Bonner Subventionstropf und vergreiste. Die Sowjetunion konnte den Zugang nach Berlin jederzeit abschnüren. Die DDR auf der anderen Seite der Grenze war nach offizieller westdeutscher Lesart allenfalls ein "Phänomen".

    Wer damals in der "Frontstadt" mit marxistischem Vokabular hantierte, im Zeichen des Internationalismus Vietcongfahnen schwang, gegen den despotischen Schah von Persien oder gegen die Schutzmacht Amerika demonstrierte, lebte gefährlich. 1967, während des Schah-Besuches, erschoss ein Polizist einen harmlosen Demonstranten namens Benno Ohnesorg. Die Galionsfiguren des Studentenprotests - der SDS-Funktionär Rudi Dutschke und die Kommunarden Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann - wurden zu Objekten des Volkszorns. Springers Bild-Zeitung schrieb: " Man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen." Ein Rechtsradikaler nahm die Aufforderung wörtlich und schoss dreimal auf Rudi Dutschke. Er überlebte das Attentat nur knapp.

    Ulrich Enzensberger hat diese Geschichte als teilnehmender Beobachter beschrieben. Die Kriminalisierung legitimer Proteste durch die von alten Nazis durchsetzte Justiz wird da ebenso deutlich wie das Abdriften von Teilen der Bewegung in den Untergrund - Stichwort: Baader und Ensslin. Spitzel des Verfassungsschutzes durchsetzten die Szene und lieferten Waffen in provokatorischer Absicht. Den Kommunarden Kunzelmann zog es in die Ausbildungslager von Arafats Al Fatah. Und der Protest (inklusive Drogenkonsum) erwies sich als durchaus kompatibel mit der Popkultur des Spätkapitalismus. Enzensberger stieg damals aus und ging in die Fabrik. Andere gründeten Kaderparteien. Die Jahre der Kommune waren vorbei.

    Nach Enzensbergers Interpretation haben sie die Bundesrepublik auf den Pfad der Modernisierung gebracht. Historiker wie Ulrich Herbert, die heute die junge Bundesrepublik untersuchen, sehen das freilich anders: Die westdeutsche Fundamentalliberalisierung habe schon Anfang der 60er Jahre begonnen - mit der frühen Gesellschaftskritik von Dahrendorf, Plessner oder Walser. Auf ihren Schultern - und das unterschlägt Ulrich Enzensberger leider - stand auch die Studentenbewegung. Doch der Protest der Kommunarden hat diese intellektuellen Reformanstöße zugespitzt und ihnen - Dutschke, Teufel und Kunzelmann sei Dank - erst zur Wirksamkeit verholfen.