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Pflegealltag in Deutschland

Seit 1995 gibt es in Deutschland die Pflegeversicherung. Mittlerweile hat sich eine regelrechte Pflegeindustrie entwickelt, die nach Ansicht vieler Kritiker die Interessen der Patienten kaum noch im Blick hat. Reiner Scholz über ein neues Buch, das zum Umdenken auffordert.

04.02.2008
    "Guten Morgen, Frau Rieken."
    "Kommen Sie rein, Herr Koch."
    "Wie geht es Ihnen heute Morgen, kriegen Sie immer noch schlecht Luft?"
    "Das wird nicht anders."

    Pflegealltag. Waschen, kämmen, einkaufen, die Zeit ist knapp. Über zwei Millionen Menschen in Deutschland erhalten Geld aus der Pflegekasse, das ist ein Drittel mehr als vor zehn Jahren. Gut 30 Prozent der Leistungsempfänger leben in Heimen.

    Wer je einen Menschen in eines dieser Heime begleitet hat, wer mitbekam, wie die eigene Mutter in einem engen Zweibettzimmer abgelegt wurde, in dem eine hochbetagte alte Frau gerade im Sterben liegt, wer miterlebte, wie sie zur Weihnachtsfeier in einen Rollstuhl gesetzt und – innerlich längst zusammengesackt - zwei Stunden nicht mehr beachtet wurde, den lassen diese Bilder nicht mehr los.

    Über den Pflegealltag in Deutschland hat der Hamburger Journalist Christoph Lixenfeld ein Buch geschrieben. Es trägt den provokanten Titel: "Niemand muss ins Heim" und nennt die Pflegeversicherung eine "traurige Fehlkonstruktion":

    "Es war ein Fehler, dass, als die Pflegeversicherung entstanden ist, wir sie dem sogenannten Verrichtungsbezug unterworfen haben. Also: Kämmen 88 Cent, Mahlzeit bereiten 4,40 Euro. Das heißt: Es können nur ganz bestimmte Tätigkeiten abgerechnet werden, und was anderes können die Leute nicht kriegen. Dafür gibt es kein Budget von der Pflegeversicherung.

    Der zweite Fehler ist ein ganz entscheidender: Da die Heime relativ viel Geld bekommen, ist es in vielen Fällen für Sozialämter günstiger, Sozialhilfeempfänger in einem Heim unterzubringen, als wenn sie sie zu Hause pflegen lassen. Und deshalb sagen Sozialämter vielen Menschen klipp und klar: Wir bezahlen nur bis Betrag X. Wenn es teurer wird zu Hause, dann musst du ins Heim, fertig, aus. Und dann kommen die Leute ins Heim."

    In seiner flott geschriebenen Arbeit, die mit eingestreuten Informationskästen und etlichen Interviews zuweilen Züge eines Lesebuchs annimmt, sind es vor allem die vielen praktischen Beispiele, die einen anschaulichen Einblick in eine überbürokratisierte Pflegepraxis geben.

    Niemand wolle ins Heim, aber die Zahl der Heimbewohner steige immer weiter: Diesem Widerspruch geht der Autor nach und entdeckt dabei diverse falsch gesetzte Anreize. Es gebe in Deutschland mächtige Gruppen, die von der Heimpflege profitieren. Da ist zunächst das Interesse der Krankenkassen, deren Budget von dem der Pflegekassen streng getrennt ist. Kommen die Krankenkassen mit ihrem Geld nicht aus, müssen sie die Beiträge erhöhen. Das schmerzt. Kommt die Pflegeversicherung nicht aus, zahlt dies einfach die Allgemeinheit:

    "Die Krankenkassen können also – wirtschaftlich betrachtet – gar kein Interesse daran haben, dass Heimbewohner fitter werden und am Ende vielleicht sogar wieder zu Hause leben können. Denn dann kostet deren Behandlungspflege wieder das Geld der Kranken- und nicht das der Pflegeversicherung."

    Der Band von Lixenfeld ist ein politisches Buch. Es erschöpft sich nicht darin, den diversen Skandalgeschichten über verdurstende und wundgescheuerte alte Menschen eine weitere hinzuzufügen. Es fragt nach den Mitspielern auf dem renditeträchtigen Markt der Pflege und stößt auf Lobbyisten wie dem "Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste" - der, so der Autor, im Verbund mit den Sozialverbänden, den Gewerkschaften und Teilen der Politik alles unternehme, damit Deutschland mit Pflegeheimen überzogen werde, die es am Ende eben auch zu füllen gelte:

    "Das sind Heimbetreiber, das sind große Konzerne, die Heime bauen, es sind große Investoren. Mit einem gut organisierten Heim kann man viel Geld verdienen, und es gibt Verbände, vor allen Dingen einen – ein Lobbyverband, der massiv Druck auf die Politik macht, seit Jahren mit großem Erfolg. Der sich dem Verdacht aussetzt, dass er nicht den Pflegebedürftigen was Gutes tun will, sondern vor allen Dingen für volle Heime und damit gesicherte Einnahmen sorgen will. Das ist einfach ein Geschäftszweig, mit dem viel Geld verdient wird."

    Das vorliegende Buch "Niemand muss ins Heim" plädiert dagegen für eine andere Lösung: für die Pflege in den eigenen vier Wänden, solange es eben geht, entsprechend dem offiziellen Motto der Politik "ambulant vor stationär".

    Und dazu gehöre es auch, endlich die vielen osteuropäischen Pflegekräfte zu legalisieren, ohne die in der privaten Pflege längst nichts mehr ginge, die aber immer noch mitsamt ihrer Auftraggeber illegalisiert werden würden.

    "Ich plädiere vor allem dafür, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Ungefähr 100.000 osteuropäische Pflegekräfte sind da. Und sie sind nicht da, weil es böse Vermittler gibt oder weil sie besonders hinterhältig sind, sondern weil wir sie brauchen. Und sie werden bleiben, und sie werden mehr werden - völlig egal, ob das irgendwelchen Lobbyisten oder Gewerkschaften passt oder nicht. Also, warum geben wir ihnen nicht die Möglichkeit, das legal zu tun. Wir hätten dann auch das Problem gelöst, dass sie ausgebeutet, schlecht behandelt werden. Niemand kann man besser schlecht behandeln als jemand Illegalen."

    Der Autor beschäftigt sich intensiv mit den Alternativen zur Heimpflege. So empfiehlt er das bereits erprobte Modell der "Selbstbudgetierung", wonach den Patienten – und nicht den Pflegediensten - das Pflegegeld ausgezahlt wird. Sie könnten sich dann – unter Anleitung - passgenau die Pflege kaufen, die sie benötigen.

    Ihn begeistert das Pflegemodell der Stadt Bielefeld. Dort bemüht sich die Kommune, jeweils von etwa 50 abgeschlossenen Wohnungen acht mit Schwerstpflegebedürftigen zu belegen. Von dem Geld der Pflegeversicherung lässt sich nicht nur ein ständiger ambulanter Dienst aufrechterhalten, sondern auch ein Wohncafé betreiben - Einrichtungen, von denen auch andere Anwohner profitieren.

    Natürlich weiß der Autor, dass es auch gute Heime gibt. Und er weiß auch, dass nicht alle Heime zu ersetzen sind. Er weiß, dass viele Demenzkranke derzeit in Deutschland anders gar nicht zu versorgen wären. Aber er blickt voller Neid etwa nach Dänemark, wo ein Heimsystem "à la Germany" undenkbar wäre:

    "Es gibt Länder, da gibt es Heime, wie wir sie kennen, überhaupt nicht, und Doppelzimmer schon mal gar nicht. Da gibt es Pflegewohnungen, die ziemlich groß sind mit eigenen Möbeln. Es gibt Länder, da geht es ganz ohne dieses Heimmodell. Warum geht es denn dort, und warum bei uns nicht?"

    Das vorliegende Buch ist ein "Plädoyer für die häusliche Pflege", wie es im Untertitel heißt. Um sie zu stärken, bedürfe es allerdings eines grundsätzlichen Umdenkens, das der Autor zu Recht in der gegenwärtigen Debatte um die Reform der Pflegeversicherung weitgehend vermisst. Er kritisiert, dass sich die Politik derzeit vor allem damit beschäftige, wie sie an zusätzliches Geld komme, um die beträchtlichen jährlichen Defizite der Pflegeversicherung auszugleichen:

    "Entscheidend ist nicht, mehr Geld in die Pflegeversicherung zu pumpen, sondern das Vorhandene anders zu verteilen. Dabei müssen die Städte zu zentralen Anlaufstellen für alle Belange alter Menschen werden und so genannte Case-Manager beschäftigen, die sich um Wohnberatung, psychosoziale Betreuung und bei Bedarf auch um die Pflege kümmern. Solche Case-Manager sind in der jüngsten Pflegereform zwar vorgesehen - nur dass dabei der wichtige Punkt, die Finanzierung, nicht ausreichend geklärt ist."

    Das Buch überzeugt nicht zuletzt durch seine Anschaulichkeit, wenn auch in der Menge der Beispiele zuweilen der rote Faden verloren geht. Etwas mehr Sachtext, etwas weniger Reportage hätten ihm gut getan. Gleichwohl ist es ein gelungener Beitrag zur jetzigen Debatte um die Pflege und – nicht zuletzt durch sein Adressenverzeichnis und seine Tipps zur Beschäftigung von Osteuropäerinnen - eine gute Hilfe für diejenigen, die gerade persönlich mit diesen Fragen befasst sind.

    Es ist auch ein Gewinn für die, die an der Gestaltung einer humanen Gesellschaft interessiert sind, in denen die Alten jenseits von Renditeinteressen einen würdigen Platz finden. Denn alt werden wir schließlich alle mal.


    Christoph Lixenfeld: Niemand muss ins Heim. Menschenwürdig und bezahlbar – Ein Plädoyer für die häusliche Pflege
    Econ Verlag, Düsseldorf 2008,
    284 Seiten, 16,90 Euro