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Pflegereform
Echte Teilhabe braucht mehr Zeit und Geld

Demente und pflegebedürftige Menschen differenzierter und besser versorgen - das ist das Ziel der jüngsten Pflegereform. Doch die Bilanz nach gut einem halben Jahr fällt durchwachsen aus: Zwar haben nun mehr Menschen Anspruch auf Leistungen, allerdings gibt es auch deutliche Kritik und unerwünschte Folgen der Reform.

Von Katrin Sanders | 08.07.2017
    Eine Frau mit einem Mann in einem Rollstuhl in einem Gang eines Pflegeheims.
    Eine Frau mit einem Mann in einem Rollstuhl im Gang eines Pflegeheims. (dpa/picture alliance/Frank Rumpenhorst)
    Gemeinsames Mittagessen am großen Tisch. Es gibt Möhren untereinander. Wie immer hat eine Ehrenamtliche gekocht für die Gruppe, die sich ein Mal in der Woche im Mehrzweckraum einer Kirchengemeinde einfindet. Vertrautes Stühle rücken für 12 ältere Menschen. Einen entspannten Vormittag haben sie hinter sich: Haben Frisbee mit Papptellern gespielt, alte deutsche Schlager gesungen und sich reihum zum Tanzen aufgefordert.
    "Hier geht's darum, demenzkranken Menschen ein paar schöne Stunden zu bescheren, während die Angehörigen zu Hause mal Zeit haben, eigenen Interessen nachzugehen - dass die mal so einen Vormittag für sich haben", weiß Gabi Dreischulte, pädagogische Mitarbeiterin bei Aufwind in Brühl, einem Verein unter dem Dach der Deutschen Alzheimer Gesellschaft.
    Die Vormittagsgäste sind dement in unterschiedlichen Stadien. Jeder soll die Stunden hier auf seine Weise genießen.
    "Und wir gehen auf die Stärken der Gäste ein, versuchen sie in ihrem Herzen zu berühren durch Musik oder durch Gedichte, durch Erzählungen von früher. Und dann kommen Emotionen... so dass Körper, Seele und Geist berührt werden."
    Genau deshalb sollten diese einfachen Angebote durch die Pflegereformen der letzten beiden Jahre eigentlich gestärkt werden. Mehr Mittel für die ambulante Pflege sollten auch die Angehörigen entlasten. Doch bei Aufwind und anderen Vereinen bundesweit ist das Gegenteil eingetreten.
    Mehr Pflegegeld, weniger Betreuungsgeld
    "Wir bemerken seit dieser neuen Pflegereform, also seit Anfang des Jahres, dass es schwierig geworden ist, die frei gewordenen Plätze wieder neu zu besetzen. Weil die Angehörigen verunsichert sind. Sie kriegen zwar mehr Pflegegeld, aber das Betreuungsgeld, die sogenannten 'zusätzlichen Leistungen', sind jetzt gekürzt worden von 208 auf 125 Euro. Und da haben wir auch schon von einigen Angehörigen gehört: 'Ja ich kann mir das ja gar nicht mehr leisten'."
    "Also kann ich in meinem Fall nicht sagen, dass das ganze Pflegestärkungsgesetz so optimal ist. Für mich ist es nicht optimal", bestätigt Wilhelm Horten, der gekommen ist um seine Frau abzuholen.
    Auch er hat den so hilfreichen Betreuungsplatz gekündigt. Dabei sollten laut Gesundheitsministerium gerade Menschen wie seine Frau ganz besonders von der Reform profitieren. Demenz führt mit der neuen Pflegereform zur Einstufung in einen höheren Pflegegrad und damit zu höheren Geldleistungen.
    Wilhelm Horten aber hat das Versprechen sorgfältig geprüft. Seine Berechnungen sind auf einem Blatt Papier gelistet: Das höhere Pflegegeld ist für die häusliche Pflege bestimmt und wird da auch ganz und gar aufgebraucht. Für das Entlastungsangebot am Vormittag muss er seit Januar zuzahlen, denn der neue Entlastungsbetrag reicht nicht für das Angebot, das mit viel Ehrenamt zustande kommt - sehr wohl aber für einen Platz in der teureren professionellen Tagespflege.
    "Das ist ja das Paradoxe! Wenn meine Frau nicht hierher kommt zu 'Aufwind', steht der Entlastungsbetrag voll zur Verfügung zur Finanzierung des Eigenanteils bei der Tagespflege. Der wird dann durch den Entlastungsbetrag aufgefangen. Das heißt: Tagespflege ist dann eigentlich ein Nullsummenspiel. Gerade diese Einrichtungen wie hier 'Aufwind', das sind die Leidtragenden der Pflegereform. Diejenigen die hier sind haben dann einen höheren Eigenanteil zu tragen. Und viele können es nicht."
    Ein ungewollter Effekt - wenn jetzt Selbsthilfe und Freiwilligenarbeit aus dem Markt gedrängt werden. Jede zweite regionale Alzheimer-Gesellschaft klagt über dieses Phänomen, bestätigt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft in Berlin. Die ambulanten Angebote, auf die die Gesundheitspolitik in Berlin besonders setzen wollte, werden seltener in Anspruch genommen.
    Fünf Milliarden mehr
    "Man muss sich das alles angucken. Man darf da nicht irgendwie jetzt hochmütig sagen: 'Kann gar keine Fehlentwicklung eintreten'. Man muss sich das genau angucken. Das werden wir auch tun", verspricht der Bundestagsabgeordnete der CDU, Rudolf Henke.
    "Das wird sicher alles in der nächsten Legislaturperiode aufmerksam verfolgt und evaluiert werden. Aber ich finde trotzdem, man darf jetzt erstmal sagen: Da ist ein Riesenschritt gelungen. Chapeau, Hermann Gröhe! In dieser Legislaturperiode haben wir die finanzielle Kraft der Pflegeversicherung um 23 Prozent erhöht. Das heißt: Wir geben fünf Milliarden Euro mehr aus und das finde ich, ist durchweg gut zu bewerten."
    Der "Riesenschritt" war fällig, seit Mitte der 90er durch Bundesarbeitsminister Norbert Blüm der neue Zweig der Sozialversicherung eingeführt wurde. Wer Pflege benötigte, sollte nicht mehr zum Sozialfall werden. Pflegegeld statt Sozialhilfe - der neue Anspruch war ein wichtiger Schritt. Doch bald schon zeigte sich, dass die Mittel der Pflegekasse nicht ausreichten für das, was Pflege ambulant oder stationär wirklich kostet. Das Wort von der Teilkaskoversicherung machte die Runde. Die zweite Dauerbaustelle der Pflegeversicherung blieb, dass sie vor allem körperliche Gebrechen berücksichtigte. Demenzerkrankungen blieben weitgehend außen vor. Das hat sich jetzt geändert.
    Der Vorsitzende des Marburger Bundes Rudolf Henke trägt schwarzen Anzug und gestreifte Krawatte.
    Der Arzt und Vorsitzende des Marburger Bundes Rudolf Henke sitzt seit 2014 für die CDU als stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag. (picture alliance / dpa / Robert Schlesinger)
    Rudolf Henke: "Wir haben ja früher immer in drei Pflegegrade eingeteilt. Jetzt haben wir neue Pflegegrade und das Wesentliche ist, dass man besser die geistigen und seelischen Einschränkungen Pflegebedürftiger berücksichtigt und dass man damit auch als pflegebedürftig anerkannt werden kann. Das ist, glaube ich, eine erhebliche und große Hilfe. Die Zahl der Begutachtungen ist auch angestiegen, weil die Botschaft ‚Pflegebedürftigkeit kann auch dann anerkannt werden, wenn die bisherigen ‚körperlichen‘ Merkmale dafür nicht ausgereicht haben‘, weil sich das herum gesprochen hat und die Leute Anträge stellen, die sie vorher nicht gestellt haben."
    "Das ist ein ungedeckter Scheck"
    80.000 zusätzliche Anträge auf Pflegeleistungen hat der medizinische Dienst der Krankenkassen für 2017 gezählt. Vor der Reform hätten die meisten dieser Menschen keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung gehabt. Elisabeth Scharfenberg, für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, hat daher wie viele Fachleute zum Einstieg ein klares Lob für Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, der die Reformen im Verbund mit Karl Lauterbach, dem gesundheitspolitischen Sprecher der SPD im Bundestag, in Rekordzeit vorangetrieben habe.
    "Herr Gröhe war sehr sehr fleißig. Er hat also wirklich Dinge angepackt, er hat die Ärmel hochgekrempelt und hat losgelegt. Der Grundgedanke war absolut richtig: Wir konzentrieren uns nicht mehr auf die Defizite, sondern wir konzentrieren uns auf das Thema Teilhabe. Wir schauen nicht, was kann ein Mensch nicht mehr, sondern: Was kann er noch? Und wie können wir das, was er noch kann, auch aufrechterhalten? Aber das ist ein ungedeckter Scheck, wenn man das in den Raum stellt und auch Hoffnungen weckt, die, das ist doch klar, am Ende des Tages überforderte Pflegekräfte einfach nicht erfüllen können."
    Mehrheit will in den eigenen vier Wänden alt werden
    Zeit für einen Besuch in einem Altenheim. Fünf Milliarden Euro aus der Pflegekasse sind seit dem 1. Januar zusätzlich im System und damit im Portemonnaie der Kundinnen und Kunden auf dem Pflegemarkt: der Kranken also und ihrer Angehörigen. In Bonn Oberkassel im Seniorenzentrum Theresienau kommt das spürbar an.
    "Auf jeden Fall. Wir spüren in allen Bereichen einen sehr hohen Nachfragedruck. Insbesondere im ambulanten Bereich und da im Bereich der Hauswirtschaft und der Betreuung. So dass wir teilweise sogar Anfragen ablehnen müssen, weil wir sie nicht versorgen können, weil wir so schnell die Mitarbeiter gar nicht rekrutieren können. Wir stellen seit Jahren eine zunehmende Nachfrage fest. Aber jetzt hat es noch mal einen Schub bekommen, sicher durch die zusätzlichen Mittel, die für mehr Menschen zur Verfügung stehen", sagt Geschäftsführer Michael Thelen.
    Die Mehrheit der Menschen will in den eigenen vier Wänden alt werden. Gebraucht wird ambulante Pflege am Ort, sowie hauswirtschaftliche Unterstützung für zu Hause. Beides kann man in Theresienau bekommen. Und wer sich früh genug bewirbt, kann sogar einen der seltenen Kurzzeitpflegeplätze buchen. Außerdem existiert hier eine klassische Heimpflege für 145 Bewohnerinnen und Bewohner.
    Acht Bewohnerinnen sind auf der fünften Etage rund um den Küchentisch in kreative Tätigkeiten vertieft: Malen mit Wasserfarben. Kräftig bunte Sommerblumen entstehen, werden ausgeschnitten und wieder neu zusammengesetzt. Eine Alltagsbegleiterin betreut die Gruppe.
    49.000 zusätzliche Betreuungskräfte
    Mit der Pflegereform konnten bundesweit 49.000 zusätzliche Betreuungskräfte eingestellt werden, schätzt das Bundesgesundheitsministerium. Sie sorgen, helfen, unterstützen - und halten den Pflegekräften den Rücken frei, sagt Pflegeleiterin Yvonne Berlin.
    "Wir empfinden die Alltagsbegleiter als ganz positiv, weil auch wenn sie auf Etage sind und sich um die Bewohner kümmern, das ist einfach Ruhe. Man kann einfach gelassener, mit ruhigerem Gewissen mal in ein Zimmer gehen und auch eine Pflege dort in Ruhe zu Ende bringen, wenn man weiß, vorne ist jemand. Man muss nicht ständig Obacht haben: Muss ich jetzt nach vorne laufen, ist da schon wieder was?"
    Postoperative Wundversorgung durch einen ambulanten Pflegedienst in der Wohnung eines Patienten. 
    Viele Menschen möchten dort alte werden, wo sie schon lange gewohnt haben. Dafür benötigt es jedoch mehr Versorgung durch ambulante Pflegedienste. (dpa/picture alliance/ Hans Wiedl)
    Jede zusätzliche Personalstunde helfe, denn die Pflege sei anspruchsvoller geworden. Die Pflegereform trägt dazu bei. Mit dem Übergang von Pflegestufen zu Pflegegraden gab es Stufensprünge, sprich: Der Pflegebedarf wurde höher anerkannt als zuvor. Demenz als Diagnose führt teils zu einer deutlichen Anhebung des Pflegegrades. Wer zuvor Pflegestufe 1 hatte, ist vielleicht seit der Jahreswende im Pflegegrad 3. Mehr Menschen mit Demenz können damit professionelle Hilfen nutzen und sich in den Heimen versorgen lassen. Das verändert die Pflege, weiß Yvonne Berlin.
    "Vorher waren Zeiten, wo man eben gucken musste, wie viel Zeit brauche ich pro Bewohner, welche Pflegestufe habe ich in dem Moment. Und jetzt sind es eben Punkte und man muss nach Pflegegraden rechnen. Und da muss man sich schon mit auseinandersetzen, weil es auch andere Inhalte sind."
    Echte Teilhabe braucht mehr Zeit
    "Wenn wir daran denken, dass wir einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff haben. Das heißt: Es geht weg von der Defizitorientierung hin zu einer echten Teilhabe. Teilhabe bedeutet mehr Zuwendung, mehr Zeit, mehr Mitgenommen werden. Das bedeutet für die Pflegekräfte: Nicht mal schnell eine Grundpflege zu machen. Nicht den alten Menschen mal eben schnell zu waschen, sondern das bedeutet, sich daneben zu stellen und auszuhalten, dass jemand, der nicht mehr so kann, das selbst macht. Und das braucht mehr Zeit, das braucht mehr Kolleginnen und Kollegen. Und das findet nicht statt", ergänzt Elisabeth Scharfenberg.
    Die zukünftige Personalplanung könnte die Crux der neuen Pflegereform werden. Denn es existiert noch keine Richtlinie über die Personalstärke, die der neuen Vorstellung von Art und Umfang der Pflege demenzkranker Menschen Rechnung trägt. Das wissenschaftliche Verfahren zur Personalbemessung wurde zwar mit der Pflegereform in Auftrag gegeben - aber erst 2020 sollen Ergebnisse vorliegen. Die Pflegeexpertin der grünen Bundestagsfraktion hält das für fahrlässig.
    "Wir kennen die Problematik. Und 2020? Das ist in drei Jahren. Und da geht es nicht darum ein Personalbemessungsverfahren einzuführen, sondern es geht erstmal nur darum, Dinge auszuprobieren und die dann erstmal zu bewerten. Das heißt in dem Gesetz jetzt steht noch gar nichts von einer Einführung drin. Ich glaube, das können wir uns nicht mehr leisten, Dinge, wo wir genau wissen, wo das Problem sitzt, zu verschieben."
    Höhere Belastungen für die Pflegekräfte
    Reicht am Ende das Geld der Pflegekasse wieder nicht für alle und für eine adäquate Ausstattung in den Diensten und Heimen? Die neuen Pflegegrade jedenfalls haben Nebenwirkungen. Für ein Fazit sei es noch zu früh, aber eine Tendenz zeichne sich ab, sagt Heimleiter Michael Thelen.
    "Wir haben noch nicht genug Erfahrungen mit den neuen Gradierungen, da die meisten Menschen noch ehemalige Pflegestufen haben und dort übergeleitet sind. Die wenigen aber, die ganz neu eingestuft worden sind, da scheint sich abzuzeichnen, dass insbesondere der Bereich der körperlichen Pflegebedürftigkeit nicht mehr den hohen Stellenwert hat, wie vorher. Das ist zugunsten der kognitiven Einschränkungen festzustellen. Dort werden wir höhere Pflegegrade erreichen. Das heißt, was zugunsten der Menschen mit geistigen Einschränkungen jetzt an Mehr zur Verfügung steht, scheint zu Lasten derer zu gehen, die nur körperliche Einschränkungen haben."
    Höhere Belastungen für die Pflegekräfte sind zu erwarten. Die Zusammensetzung der Bewohnerschaft wird sich verändern, hin zu mehr schwer Pflegebedürftigen. Die Pflegereform trage dazu bei, sagt Ulrike Kempchen von der BIVA, der Interessenvertretung von Menschen in Alten- und Pflegeheimen.
    "Die Zuschüsse, die es jetzt gibt, die nicht so stark erhöht wurden wie im ambulanten Bereich und die bei niedrigen Pflegegraden ja auch weniger geworden sind, führen einfach zu einer Veränderung der Klientel, die in den Einrichtungen leben. Wir werden wahrscheinlich künftig mehr hochaltrige, mehr stark pflegebedürftige Menschen in den Einrichtungen haben, denn finanziell wird das Ganze erst attraktiv, na ich würde sagen, ab Pflegegrad drei bis vier aufwärts. Untere Pflegegrade - für die wird die ambulante Versorgung attraktiver sein. Hab ich aber nur noch Menschen, die sehr stark pflegebedürftig sind in den Einrichtungen, wird eben der ganze Betrieb - da arbeitsintensiver - auch kostenintensiver."
    Eine junge Frau reicht einem bettlägerigen alten Mann einen Löffel mit Essen.
    Vorbildliche Betreuung in Altenheimen, wie hier im Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt (AWO), ist nicht überall anzutreffen. (dpa / Klaus Rose)
    Zurzeit dürfte es in den Heimen noch nicht rumoren. Bei der Umstellung auf Pflegegrade wurde jenen, die schon mit Pflegestufe in einem Heim lebten, Bestandschutz zugebilligt. Niemand sollte nach der Reform schlechter dastehen als vorher. Mit 800 Millionen Euro, die von den Beitragszahlern aufgebracht werden, sind die Kosten für dieses Versprechen im Kabinettsentwurf beziffert. Für jene aber, die ab 2017 in ein Heim gezogen sind, wird es teurer. Zumal mehr Geld pro Pflegegrad nicht automatisch mehr Leistung bedeute, sagt Ulrike Kempchen.
    "Die Anbieter erhöhen auch ihre Preise ein stückweit. Das was mehr im System ist, wird auch ein stückweit aufgezehrt. Wir hören immer wieder von Angehörigen und auch Bewohnern, dass eben Entgelterhöhungen stattgefunden haben, aber die Leistungen sich nicht verändert haben. Und derzeit - aber das sind noch ungefestigte Meinungen - es kommt bei uns so an: Es gibt für wenige mehr und für viele das Gleiche, bzw. kaum Veränderung."
    "Beratungsnotwendigkeit wird größer"
    "Die kritischen Punkte: Wenn wir uns die einzelnen Pflegestärkungsgesetze angucken, dann sind das immer wieder neue additive Verfahren, das heißt eine Grundstruktur wurde ja nicht verändert."
    So bringt Professor Michael Isforth vom Deutschen Institut für Pflegewissenschaft (dip) das Reformprinzip auf den Punkt.
    "Es wurden jetzt über mehrere Stufen, mehrere Neuerungen, Änderungen, Erweiterungen, Ergänzungen durchgeführt und das bedeutet immer, dass sich viele Fragen ergeben und viele Fragezeichen erstmal im Raum stehen, nämlich: Was bedeutet das jetzt tatsächlich für die einzelne Einrichtung, was bedeutet das für den einzelnen Angehörigen, für den einzelnen Pflegebedürftigen. Also die Beratungsnotwendigkeit wird wesentlich größer, um den Menschen die Leistungsrechte, die sie haben, überhaupt zukommen zu lassen."
    Und nach drei Pflegestärkungsgesetzen steht einiges an neuen Leistungen auf der Habenseite: Neben der Aufstockung der Mittel können nun endlich auch für Demenzkranke Anträge bei den Pflegekassen gestellt werden. Pflegesachleistungen wurden erhöht, wovon ambulante Versorger und Angehörige in teils komplizierten Verbindungen sehr profitieren können - sofern sie im Fall des Falles von den Möglichkeiten wissen.
    Das letzte Pflegestärkungsgesetz beauftragt für die Zukunft die Kommunen mit unabhängiger Beratung. Ein großes Modellprogramm ist bereits gestartet. Werden sie es künftig besser machen, als die bisherigen Akteure der kommunale Pflegeberatung oder der Pflegestützpunkte - und mehr Menschen zeitnah erreichen? Michael Isforth hat Zweifel. Die Vorstellung, man könne Wissen auf Vorrat verbreiten, sei falsch, bestätigt auch Rudolf Henke von der CDU. Kurz verlässt er die Rolle des Gesundheitspolitikers und schlüpft in die des Arztes, der er von Hause aus ist:
    "Eigentlich braucht man in dem Moment, wo einer innerhalb der Familie pflegebedürftig wird, eine Art Crashkurs, wo man innerhalb von kürzester Zeit informiert wird, wie verhältst du dich jetzt klugerweise am besten."
    Am Beispiel Kurzzeitpflege zeigt sich das sehr deutlich: Seit Jahren werden die Möglichkeiten dazu von nicht einmal 5 Prozent der Angehörigen zu ihrer Entlastung genutzt. Aus Unkenntnis einerseits - aus ganz praktischen Gründen auf der anderen Seite: Im Gesetz mag das Recht auf Kurzzeitpflege stehen, in der Wirklichkeit aber fehlen auf dem Pflegemarkt die so hilfreichen Plätze, weiß Michael Isforth.
    "Ein weiteres Beispiel ist die Tagespflege: Da sehen wir auch, wenn sie ortsnah keine Möglichkeit zur Tagespflege haben und die ist 35 km weit entfernt, die nächste Einrichtung, dann kann ich das als Angehöriger nicht nutzen, obwohl ich einen Leistungsanspruch habe."
    Neue Leistungsrechte bleiben Theorie
    So ergibt die Zwischenbilanz sechs Monate nach dem Start des dritten und letzten Pflegestärkungsgesetzes ein zweischneidiges Bild: Der große Reformstau in der Pflegeversicherung wurde in Teilen aufgelöst. Doch die neuen Leistungsrechte bleiben Theorie, wenn der Markt die Angebote nicht bereithält und wenn dort das nötige Fachpersonal für die zusätzlichen Aufgaben nicht zu bekommen ist. Isforth rät den Heimen zugespitzt, sich das Geld für Stellenanzeigen zu sparen. Der Markt sei leergefegt.
    "Wir haben da eigentlich zwei Beobachtungen. Das eine ist: Bislang sind die ganzen Pflegereformgesetzgebungen so gestaltet, dass eben die Angehörigen und die Pflegebedürftigen in den Fokus genommen wurden. Seitens des Pflegepersonals haben wir keine gravierenden Veränderungen. Man hat sich mit dem Bereich Personalausstattung konkret vor Ort eigentlich nicht beschäftigt. Das ist auch ein ganz heißes Eisen, weil dann wird's sofort richtig teuer."
    Finanziert haben die bisherigen Fortschritte durch die Pflegereform vor allem die Beitragszahler. Anfang 2017 stiegen die Abgaben zur sozialen Pflegeversicherung um 0,2 Prozent. Es wird nicht die letzte Erhöhung sein, ist Elisabeth Scharfenberg von den Grünen überzeugt.
    "Das ist auch jetzt schon klar, dass das Geld nicht ausreichen wird. Wir werden die Beiträge für die Pflegeversicherung anheben müssen. Oder: Die Stückchen vom Kuchen der Pflegeversicherung werden für jeden kleiner. Und da müssen wir uns auch ehrlich machen."