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Pflegereform
"Pflege wird stetig teurer werden"

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat die geplante Pflegereform als stärkste "Vergrößerung eines Sozialbereichs der vergangenen 20 Jahre" bezeichnet. Die Kosten von rund fünf Milliarden Euro würden auch über eine Erhöhung des Beitragssatzes finanziert, sagte Lauterbach im Deutschlandfunk.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Christiane Kaess | 07.04.2014
    Porträt Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte
    Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte (picture-alliance/ dpa / Maja Hitij)
    Christiane Kaess: 2,5 Millionen Bundesbürger sind derzeit auf Pflege angewiesen. Bis 2020 werden es Schätzungen zufolge 3,4 Millionen sein und im Jahr 2050 schon 4,5 Millionen. Dem gegenüber stehen immer weniger Berufstätige. Die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf. Sie will Hilfe für Familien und die Betreuung in Heimen mit einem Milliardenprogramm verbessern. So sollen ältere Menschen künftig nicht mehr allein bei körperlicher Schwäche, sondern auch bei geistiger Einschränkung mehr Unterstützung erhalten. Das hat Gesundheitsminister Hermann Gröhe von der CDU am Wochenende erklärt. Außerdem sollen insgesamt rund fünf Milliarden Euro jährlich mehr zur Verfügung stehen. Die sollen durch die schon angekündigte zweistufige Beitragserhöhung um zusammen 0,5 Prozentpunkte finanziert werden. – Am Telefon ist der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Er war in den Koalitionsverhandlungen der Verhandlungsführer seiner Partei zu den Themen Gesundheit und Pflege. Guten Morgen!
    Karl Lauterbach: Guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Herr Lauterbach, diese neue Definition von Pflegebedürftigkeit, jetzt neben körperlichen Einschränkungen in Zukunft auch geistige und psychische Einschränkungen, macht das Sinn?
    Lauterbach: Auf jeden Fall. Wir haben die folgende Situation: Immer mehr Menschen mit psychischen Einschränkungen werden später auch pflegebedürftig, und für die gibt es derzeit keine Berücksichtigung in der Pflegeversicherung, zumindest keine nennenswerte, und das sind aber Menschen mit besonders hohem Aufwand. Wenn wir diese große Gruppe und ihre Familien nicht zurücklassen wollen, müssen wir jetzt sofort handeln.
    Kaess: Das Ganze soll schon in den nächsten Tagen in der Praxis getestet werden. Wie soll das funktionieren?
    Lauterbach: Wir werden in bestimmten Regionen den neuen Pflegebegriff austesten. Aber damit wir nicht ewig warten müssen, dass dies flächendeckend umgesetzt werden kann, soll unmittelbar mehr Geld zur Verfügung gestellt werden an die Einrichtungen, die solche Menschen betreuen, und da soll der Schlüssel berücksichtigt werden, der im wesentlichen sagt, so viele Pflegekräfte brauche ich für so viele zu Pflegende. Dieser Schlüssel muss überarbeitet werden. Darüber hinaus müssen die Leistungen besser bezahlt werden, dynamisiert werden. Es muss mehr Geld für die Angehörigen zur Verfügung gestellt werden. Und was auch sehr wichtig ist: Für jemanden, der noch so gut zurechtkommt, dass er nur Kurzpflege benötigt, ab und an Pflege benötigt, oder am Wochenende Pflege benötigt, müssen wir auch Geld zur Verfügung stellen, sodass die Familien dort sich kurzfristig entlasten können, auch wenn sie den größten Teil der Pflege selbst erbringen.
    Kaess: Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Lauterbach, heißt das auch mehr Personal. Woher soll das kommen?
    Lauterbach: Wir haben derzeit auch viele, die daran interessiert sind, in der Pflege zu arbeiten. Die Arbeitsbedingungen müssen dafür aber besser sein. Wenn die Arbeitsbedingungen so sind, dass man mit der Pflegearbeit A zu wenig verdient und B überlastet wird, dann interessieren sich auch mehr Menschen für die Arbeit in der Pflege. Die Pflegearbeit wird umso interessanter und es stehen umso mehr Leute für diese Arbeit zur Verfügung, je besser die Arbeitsbedingungen sind.
    Kaess: Aber bisher, Herr Lauterbach, ist ja überhaupt nicht in Sicht, dass sich da etwas ändern soll.
    Lauterbach: Doch, doch! Darum machen wir das ja kurzfristig. Und ich sagte auch: Diese fünf Milliarden, die wir jetzt für die Pflege insgesamt mehr zur Verfügung stellen wollen, das ist die größte Vergrößerung eines Sozialbereichs in den letzten 20 Jahren prozentual. Das entspricht einer Vergrößerung der Gesamtausgaben für die Pflege von fast 25 Prozent, 23 Prozent.
    Kaess: Und auf diese Vergrößerung hat auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe noch einmal hingewiesen. Er errechnet durch die erhöhten Beiträge von fünf Milliarden mehr im Jahr eine Steigerung des Leistungsvolumens um 20 Prozent. Sie haben jetzt, glaube ich, gerade 25 Prozent gesagt. Wie auch immer die Zahl sein wird, wie soll das langfristig finanziert werden?
    Lauterbach: Der Unterschied von drei Prozent – 23 ist die präzise Summe – liegt darin, ob man mitzählt, dass auch ein Teil des Geldes zurückgelegt wird. Eine Milliarde soll ja zurückgelegt werden pro Jahr, was ich auch für richtig halte. Es muss der Beitragssatz erhöht werden. Wir müssen uns da nichts vormachen. Ohne eine Erhöhung des Beitragssatzes um einen halben Beitragssatzpunkt insgesamt ist dies nicht zu leisten, und das erbringen die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer gemeinsam. Das ist also, wenn man so will, eine paritätische Erhöhung des Beitragssatzes. Das passt in die Zeit.
    Kaess: Und wie lang wird es bei diesem halben Prozentpunkt bleiben?
    Lauterbach: Wir werden mittelfristig die Pflege noch stärker ausbauen müssen, wegen der deutlichen Zunahme der Bedürftigen, aber auch wegen der Tatsache, dass die Menschen in Pflege länger pflegebedürftig bleiben und auch die Pflege noch intensiver werden wird, weil viele Menschen mit vielen Erkrankungen heute pflegebedürftig werden. Somit ist der Aufwand viel größer. Es wird daher nur ein Zwischenschritt sein können. Die Pflege in Deutschland – das ist die schlechte Nachricht – wird stetig teurer werden. Die gute Nachricht ist die: Das schafft natürlich auch Arbeitsplätze. Und die wichtigere und eigentlich beste Nachricht ist die, dass wir ein solches System haben. Darauf können wir stolz sein. Es gibt eigentlich zum jetzigen Zeitpunkt in Europa kein anderes Land, wo die Pflegeversicherung so umfassend noch aufgebaut werden konnte in jüngster Zeit wie in Deutschland. Dieses System ist ein Standortvorteil. Er erlaubt es auch, vielen Menschen in Arbeit zu bleiben, die sonst die Pflege ihrer Eltern nicht organisiert bekämen.
    Kaess: Heißt aber – das haben Sie jetzt auch klar benannt – längerfristig, langfristig noch höhere Beiträge. Womit rechnen Sie genau?
    Lauterbach: Das ist schwer zu sagen. Aber es würde mich persönlich nicht überraschen, wenn der Beitragssatz für die Pflege bis zum Jahr 2050 sich im Vergleich zu heute verdoppeln würde. Das ist allerdings eine Prognose, die gewagt ist. Das muss man einschränken, weil da hängen viele Faktoren daran, unter anderem – das ist der wichtigste übrigens -, ob es uns gelingt, bei den Menschen, die jetzt in der mittleren Lebensphase sind, die Risikofaktoren für spätere Pflegebedürftigkeit noch zu beeinflussen. Was wenige Menschen wissen ist, dass man durch die Risikofaktoren, insbesondere die zur Demenz führen, hoher Blutdruck, schlechte Cholesterin-Werte, geistige Trägheit, Bewegungsmangel, das spätere Pflegerisiko stark beeinflussen kann. Wenn uns das gelänge, wären die Kosten später geringer.
    Kaess: Herr Lauterbach, es gibt den Vorschlag, Kinderlose sollen höhere Pflegezuschläge zahlen. Da gab es am Wochenende einen Dissens von Stimmen, einerseits aus der Union und andererseits aus der SPD. Was meinen Sie?
    Lauterbach: Na ja, wir haben das im Koalitionsvertrag ja nicht vorgesehen, nachdem wir auch dies diskutiert haben. Wir machen im Koalitionsvertrag zunächst einmal die Dinge, die wir vereinbart haben. Die setzen wir um. Ich glaube nicht, dass das überhaupt eine Rolle spielen wird. Das haben wir nicht diskutiert. Das wollten wir nicht machen. Daher glaube ich nicht, dass das eine Rolle spielt.
    Kaess: Dennoch kommt der Vorschlag.
    Lauterbach: Ja, Vorschläge werden ab und an gebracht, das ist klar. Aber wir haben uns ja vereinbart, und das klappt auch bisher sehr gut. Da bin ich auch Herrn Gröhe dankbar und schätze die Arbeit der Gesundheit insgesamt, also für die SPD und für die gesamte Große Koalition, für die SPD und für die CDU. Wir halten uns sehr eng an den Koalitionsvertrag und da sind wir auch gut beraten, weil das ist ein Riesenpaket. Das ist die größte Qualitätsinitiative, die wir seit Jahren ergriffen haben. Wenn wir das alles umsetzen wollen, dürfen wir die Diskussionen nicht verwirren durch Vorschläge, die schon abgelehnt wurden.
    Kaess: Sie haben es gerade vorhin schon kurz erwähnt. Ein Teil dieser Pflegebeiträge fließt in den Fonds für Vorsorge für die Babyboomer, wenn diese starken Jahrgänge ab 2030 in ein Alter kommen, in dem sie Pflege nötig haben könnten. Jetzt ist 2030 lange hin. Wer garantiert uns denn, dass das Geld da bleibt? Wir sehen ja gerade das Gegenteil bei der Rentenkasse.
    Lauterbach: Genau daher haben wir hier vereinbart, dass das Geld von der Bundesbank verwaltet werden soll, sodass es dort eine lange Zeit liegen kann, ohne dass das Geld ausgegeben wird. Das darf nicht so etwas sein wie eine erweiterte Schwankungsreserve, dass man das Geld jetzt sammelt und in ein paar Jahren schon wieder ausgibt, sondern der Plan ist der, dass das Geld lange liegt, schätzungsweise 20 Jahre. Darüber müssen wir verhandeln, das haben wir noch nicht konkret ausverhandelt. Aber es wäre eine sinnvolle Mindestzeit aus meiner Sicht. Das ist aber noch auszuverhandeln. Es muss auf jeden Fall langfristig angelegt sein. Es muss bei der Bundesbank liegen.
    Kaess: Und die Bundesbank ist die ultimative Garantie?
    Lauterbach: Die Bundesbank bekäme diesen Auftrag und das ist auf jeden Fall eine sehr gute Garantie. Was wir nicht machen dürfen, dass wir dieses Geld in die Verfügung der Kassen geben, dass Kassen damit, ich sage mal, kurzfristig Löcher stopfen können. Wir müssen vorsichtig sein, dass diese Mittel tatsächlich für diejenigen zur Verfügung stehen, die sie jetzt einzahlen und später, wenn sie pflegebedürftig sind, nutzen wollen. Daher wäre die Bundesbank zumindest aus meiner Sicht ein brauchbarer Vorschlag. Darauf hatten wir uns ja auch im Koalitionsvertrag geeinigt.
    Kaess: Herr Lauterbach, die Rentenpläne von Andrea Nahles, die sorgen weiterhin für Streit in der Regierungskoalition. Aus der Union kommt die Befürchtung, dass die Anrechnung von Arbeitslosenzeiten für die Rente mit 63 der Frühverrentung Tür und Tor öffnet.
    Lauterbach: Das glaube ich schlicht nicht. Wir haben derzeit schon viele Anreize, noch in Arbeit zu bleiben. Man muss hier von zwei Effekten ausgehen: Missbrauch und Nutzung. Wenn jetzt tatsächlich viele diese Regeln nutzen, die auch das Anrecht haben und die arbeitslos waren, dann ist das gut. Dann ist es tatsächlich nicht ein Missbrauch, sondern dann ist das eine häufige Nutzung einer Maßnahme, die sinnvoll, weil gerecht ist. Wenn es aber so ist, dass jemand absichtlich in Arbeitslosigkeit geht, um danach in die Frühverrentung zu gehen, dann wäre das ein Missbrauch. Ich persönlich glaube nicht, dass dieser Missbrauch kommt, aber selbstverständlich ist es so, dass wir da Kontrollmechanismen einbauen werden. Das heißt: Sollte wiedererwartend dieser Missbrauch, freiwillige Arbeitslosigkeit zur Frühverrentung das System auszunutzen – das ginge ja nur mithilfe der Arbeitgeber übrigens -, sollten die Arbeitgeber diesen Weg gehen und das System diskreditieren, dann würden wir schnell Wege wissen, wie wir dem entgegenwirken.
    Kaess: Und das heißt, zum Beispiel ein Kontrollmechanismus, den die Union verlangt, ist, dass die Erwerbslosigkeit auf keinen Fall am Ende des Berufslebens liegen darf?
    Lauterbach: Das darf man nicht so machen aus meiner Sicht. Das ist ganz klar. Wenn man es so simpel handhaben würde, dann würde man gerade diejenigen bestrafen,…
    Kaess: Simpel, aber effizient, könnte man sagen?
    Lauterbach: Ja, es wäre sehr ungerecht. Wenn jemand tatsächlich arbeitslos wird, ohne dass er selbst dafür kann – er kann einfach nicht dafür -, er ist sonst nie arbeitslos gewesen, dann würde er bestraft, nur weil es ihn zum Schluss trifft. Und derjenige, der früher arbeitslos gewesen ist, vielleicht viel länger arbeitslos war, den trifft es nicht. Wenn das tatsächlich eine Arbeitslosigkeit ist, die derjenige nicht verantworten kann, dann ist meine Frage, wieso soll ich jemanden, der dieses Pech hat, bestrafen, derweil ein anderer das Geld bekommt.
    Kaess: Die Meinung des SPD-Politikers Karl Lauterbach heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk-Interview. Danke schön für das Gespräch.
    Lauterbach: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.