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"Phaedra" in Halle
Die Panik des Täters

Hans Werner Henzes Oper "Phaedra" nimmt sich eines antiken Stoffes an, der auf Motiven der Tragödie von Euripides fußt. Es geht um eine unmögliche Liebe, die in der Henzeschen Fassung nicht ganz so ausweglos endet wie bei Euripides. Nun ist "Phaedra" an der Oper Halle zu sehen - in einer Inszenierung von Florian Lutz.

Von Christoph Schmitz | 14.03.2015
    In Henzes "Phaedra" ist alles Mythos. In Halle ist alles Gegenwart. Und doch greifen die beiden Welten in dieser Neuinszenierung ineinander. Bei Henze ist alles archaisches Ringen zwischen Königinnen, Helden und Göttern. In Halle ist alles ein menschlicher Familienalbtraum innerhalb der Betonwände eines Reihenhauses im Irgendwo einer Neubausiedlung. Und doch gelingt es Regisseur Florian Lutz damals und heute zu amalgamieren oder genauer: den Schrecken des Mythos als Alltagswirklichkeit kenntlich zu machen. Und das entspringt organisch der Musik.
    Beim Orchestervorspiel wächst der Graben nach oben, alle Musiker werden sichtbar, auch die Sänger, deren Stimmen schon die Vorgeschichte erzählen, wie Theseus im Labyrinth auf Kreta den Minotaurus tötete. Kaum ist der Graben auf der Höhe der Bühne angekommen, besiedeln die Sänger das weiße Hauslabyrinth unserer Tage. Aus den Tiefen der Geschichte mitten ins digitale Zeitalter. Das Notebook ist Hippolyts ständiger Begleiter, wenn er nicht gerade seinen muskulösen Oberkörper mit Liegestützen stählt oder outdoormäßig mit Flitschebogen und Axt unterwegs ist. Sinnfälliger als mit dieser Orchester- und Sängerauffahrt kann man Henzes musikalisches Credo nicht machen, dass sich nämlich alle Musik auf das Theater hinbewegt und von dort her zurückkommt.
    Mit zunehmendem Elan schwingen sich die 24 Instrumentalisten der Staatskapelle Halle unter Robbert van Steijn am Pult in den lebendigen und vielfarbigen Klangkosmos der Partitur. Das bedrohliche Blech aus Wagners "Siegfried" meint man zu hören, die blitzenden Klangschäume aus Straussens "Salome" oder die Klagelinie einer Bach-Kantate. Und dazu pocht, wirbelt und hämmert ein großer Schlagapparat mit exotischen Lauten aus dem Nahen und Fernen Osten. Getragen, verbunden und durchdrungen ist das alles vom Flirren der Zwölftonmusik. Mit Präzision und Spielfreude machen Instrumentalisten und Sänger Henzes Klangfantasie lebendig. Während die Drehbühne unablässig rotiert.
    "Ich zeichne die Buchstaben: Alpha wie das Dach des Palastes, Omega die Schlinge... Anfang und Ende, ich schreibe: Wie er mich griff und zu Boden zwang, wie sein heißer Atem mich berührte, wie seine Hand mein Flehen erstsickte, als er in mich dran."
    Und mit der Drehbühne bewegen sich auch die vielen zackigen Treppen in mehreren aufeinandergestapelten Wohnmodulen, darin Sofa, Badewanne, Rumpelkeller. Ein Hauslabyrinth, ein Irrgarten der Erinnerungen. Die Ereignisse werden immer konfuser, eindeutige Rollenzuschreibungen lösen sich auf. Denn: Königin Phaedra mit blondem Lockenhaar in rosafarbenem Kleid sieht genauso aus wie ihre Göttin Aphrodite. Aber auch die dem Naturfreak Hippolyt zugeordnete Jagdgöttin Artemis sieht so aus wie Aphrodite und Phaedra, rosa und blond. Überhaupt werden die Figuren mittels Statisten vermehrfacht. Manchmal weiß der Zuschauer nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, zumal wenn Theseus seinem Sohn Hippolyt mit der Axt den Kopf abschlägt, den abgeschlagenen Kopf aufs blaue Sofa setzt und dieser Kopf plötzlich mit der Altus-Stimme der Jagdgöttin Artemis zu singen beginnt.
    Die Inszenierung von Florian Lutz und seinem Ausstatter Sebastian Hannak spielt den schrägen Humor, die Groteske und den Schrecken der Oper genussvoll, mitunter schmerzvoll aus. Letztlich erzählen die beiden die Kopfbilder eines traumatisierten Mannes namens Theseus. Seine realen oder eingebildeten Gewalttaten, geboren aus der Eifersucht des Ehemanns, bedrängen und verwirren seine Psyche. Nach dem Schlussakkord hockt Theseus auf dem blauen Sofa und glotzt vor sich hin. War alles nur eine Phantasmagorie? Erlöst ist in Halle am Ende jedenfalls niemand. Ganz anders als es Henzes Oper erwarten ließe. Und hier ist Florian Lutz das größte Risiko eingegangen. Mit Hippolyts Wiederauferstehung und Verwandlung in eine Waldgottheit erklingt aus dem Graben eine vermeintlich elysische Herrlichkeit. Die Bühne aber zeigt eine Ikone des Horrors: Geklonte Blondinen mit Bart grillen eine Peniswurst. Den Widerspruch löst das Orchester auf. Es deutet den goldenen Lichtklang um in schrille Hysterie. Das klappt. Henze lebt. Die Oper lebt. Bravo.