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Phantome in Berlin

Im Jahr 2005 war der kolumbianische Autor Memo Anjel Stipendiat in Berlin. Auf seinen ausgedehnten Streifzügen durch die Stadt hat er sich eifrig Notizen gemacht und sie zu den "Geschichten vom Fenstersims" verarbeitet: absurde Geschichten aus dem hektischen Alltag der deutschen Hauptstadt, in denen man sich als Leser zweifellos wiedererkennt und wiederfindet, bisweilen lauthals auflacht oder unmerklich zusammenzuckt. Zeitgleich erschien im Züricher Rotpunkt Verlag "Das Fenster zum Meer", ein Band mit 14 überwiegend in Kolumbien angesiedelten Erzählungen.

Margrit Klingler-Clavijo | 08.08.2007
    " Das Fenster ist der Teil des Hauses, der innen und außen miteinander verbindet, es gibt immer etwas hinter einem Fenster. So wie Borges Spiegel mochte, weil sie das Bild multiplizieren, mag ich Fenster, weil da die Welt größer und weiter wird. Und am Fenster bekommt man mit, was in der Welt vor sich geht. Wenn ich das Fenster schließe, weiß ich nicht mehr, was in der Welt geschieht. Ich mag die Metapher: mit der Welt in Kontakt zu sein, ohne mich von dem Ort zu entfernen, an dem ich mich befinde. Das erlaubt mir das Fenster."
    In der Titelgeschichte des Erzählungsbands DAS FENSTER ZUM MEER versammelt sich eine Familie festlich gekleidet und gut gelaunt im Zimmer der Mutter, um auf das Meer zu blicken, den Schiffen und Matrosen nachzuschauen und sich Geschichten zu erzählen. Diese Treffen haben Ritualcharakter und gewährleisten den familiären Zusammenhalt einer Einwandererfamilie, in der die Erinnerung an Krieg und Flucht genauso lebendig ist wie die Geschichte vom intensiven Flirt der Mutter in einem Café von Buenos Aires, an die sich die Kinder beim Tangohören erinnern. Gleich mehrere der insgesamt vierzehn Erzählungen handeln von Liebe und Leidenschaft: Der stolze und eifersüchtige Johnny, der an seiner unglücklichen Liebe zu Amanda Cisneros zugrunde geht. Die Arztgattin, die schon siebzehnmal den berühmtesten Roman der kolumbianischen Literatur - Gabriel Garcias Márquez HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT - gelesen hat und die allabendlich vor dem Essen auf einen Schatten wartet, der Violine spielt. Jeden Abend tanzt sie schweigend mit ihm durch das Zimmer, bis sie irgendwann mit dem Schatten durch die Zimmerwand verschwindet.

    Trotz gelegentlicher Anklänge an den Magischen Realismus eines Gabriel Garcia Márquez darf man Memo Anjel auf gar keinen Fall für einen seiner zahlreichen Epigonen halten. Er selbst sieht sich in der jüdischen Erzähltradition eines Isaac Bashev Singer. Er liebt es, mit Humor und feinem Gespür für Situationskomik literarische Figuren zu erschaffen, die mit einer blühenden Phantasie ausgestattet sind und einer reichen Vorstellungswelt, mit der sie sich gegen die Widrigkeiten des Lebens immunisieren.

    " Ein alleinlebender Mensch muss sich einen anderen Menschen erschaffen und da sind Phantome enorm wichtig; allerdings sollten sie nicht angstbesetzt, sondern angenehm sein (...) Meine Phantasiegestalten erschrecken niemand, sondern leben einfach mit dem zusammen, der allein ist. Und in dem Maß wie ich vertrauenswürdige Phantasiegestalten habe, erhält das Leben mehr Sinn. In der heutigen Zeit mit ihren grässlichen Phantasiegestalten sollte die Literatur nette Phantasiegestalten bevorzugen."

    In Kolumbien wird seit Jahrzehnten ein "schmutziger Krieg" ausgetragen, wo dem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2006 zufolge in den letzten zwanzig Jahren über 70.000 Menschen - meist Zivilisten außerhalb des Kampfgeschehens - ihr Leben verloren und mehr als drei Millionen Menschen von ihrem Wohnort flüchten mussten. Memo Anjel kommt aus Medellín, dass seit den 90er Jahren durch die Gewalt der "sicarios", den Auftragskillern der untereinander konkurrierenden Drogenkartelle, in Verruf geriet.

    " Medellín hatte einen äußerst schlechten Ruf, war fast schon eine verfluchte Stadt, wobei es dort nie mehr Gewalt als in Sao Paulo, Mexiko-Stadt oder Lima gab. Klar, es wurden Bomben gelegt, Menschen auf der Straße umgebracht, doch nicht ständig. (...) In Kolumbien gibt es eine Mittelklasse, der ich angehöre und die hat immer überlebt, weil sie keinen Kontakt zur Gewalt hat. Gewalt gibt es in der Oberschicht - die hat das Geld und die Waffen und ihre eigenen politischen Interessen - und in der Unterschicht aus Hunger und Verzweiflung. Doch die Mittelklasse überlebt ohne Gewalt. Das ist schon eigenartig, ein bisschen wie in der Erzählung über eine Frau aus Deutschland, die erst nach dem Krieg erfuhr, das Krieg war. Man kann sich aus der Gewalt heraushalten, wenn man nur mit den einem nahestehenden Menschen verkehrt (...)"

    Die Gewalt, die Kolumbien deformiert und auf sich viele kolumbianische Schriftsteller in ihren Werken beziehen - ich erwähne hier nur Jorge Francos Roman DIE SCHERENFRAU oder Fernando Vallejos DIE MADONNA DER MÖRDER - verbannt Memo Anjel weitgehend aus seinem literarischen Universum.

    HORA CERTA, die einzige Erzählung über den Tod, spielt im algerischen Oran. Dort hat sich Michel Roux in ein heruntergekommenes Hotelzimmer zurückgezogen, um sich vom Leben zu verabschieden und zuvor noch mit zwei orthodoxen Rabbis nächtelang über Selbstmord zu diskutieren.

    " Niemand weiß, wann er stirbt. Und diese Geschichte kannte ich von jemand in Oran, der sich auf den Tod vorbereitete, doch nicht starb. Daher schreibe ich die Geschichte vom Ende aus. Jemand, der kommt, um jemand zu töten, so dass der Tote der Mörder ist. Das erlaubt mir, über den Tod nachzudenken. Das ist sehr wichtig. In Kolumbien wird zwar viel über den Tod geschrieben, doch ohne darüber nachzudenken. Der Tod ist nur eine weitere Anekdote. In Kolumbien hat der Tod den gleichen Stellenwert wie eine Fahrt mit dem Bus. Ich nehme den Bus und verschwinde und das war es dann."

    EINE ADRESSE IN PARIS ist für mich eine der schönsten und gelungensten Erzählungen dieses Bandes. Nach dem Tod der in Kolumbien verstorbenen Mutter fährt der in Europa weilende Sohn nach Paris und begibt sich auf die Suche nach einem früheren Freund der Mutter, Nach einer abenteuerlichen Suche hat er herausgefunden, dass dieser Freund, der Kolumbien verlassen hatte, um in Paris zu sterben, am gleichen Tag wie die Mutter gestorben war.

    Memo Anjels GESCHICHTEN VOM FENSTERSIMS sind während oder kurz nach seinem einjährigen Berlinaufenthalt entstanden. Sie rücken den Großstadtalltag ins Blickfeld, die Welt der Singles und ihrer bizarren Verhaltensweisen : Ein Mann, der seine Pyjamas auf dem Balkon vorführt, ein anderer, der seine Wohnung nicht mehr durch die Haustür, sondern nur noch durch das hintere Fenster betritt, eine Frau, die nachts die Wohnung des Ich-Erzählers betritt, sich ans Fenster stellt und auf den Hinterhof starrt und lautlos wieder verschwindet, kurzum Menschen, denen etwas Phantomartiges anhaftet, die ins sich selbst gefangen sind, denkbar ungeübt im sozialen Miteinander: Da kann ein Nachbar wie in der gleichnamigen Erzählung, einfach alles sein "auch dass es sich bei ihm bloß um ein Hologramm oder reine Vorstellung handelt".

    " In der modernen Welt haben wir zwar unsere eigenen Stimme, hören jedoch die der Anderen nicht, dabei ist sie viel wichtiger. In einem Vers von Hölderlin heißt es, das Beste, was einem Menschen geschehen könne, sei der Kontakt zu einem anderen Menschen und ihn zu berühren und zu entdecken, dass er der gleichen Gattung angehört. Die Klage des modernen Menschen wird zum Protest: wir brauchen den Kontakt zueinander. Die Straße muss ein sicherer Raum werden. In Ländern wie Kolumbien ist die Einsamkeit so groß, weil die Straßen nicht mehr sicher sind. Nur: wer sich einschließt, erschafft Monster. "

    Memo Anjel: Das Fenster zum Meer
    Erzählungen
    Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft, unter Mitarbeit von Gert Loschütz, Dieter Masuhr, Ofelia Schultze-Kraft und Peter Stamm
    Rotpunkt Verlag, Zürich, 2007

    Memo Anjel: Geschichten vom Fenstersims
    Aus dem Spanischen von Juana und Tobias Burghardt
    Mit Zeichnungen und einem Nachwort des Autors
    Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann
    Matthes& Seitz, Berlin, 2007