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Philipp Blom
Chronik der ambivalenten Zeit zwischen den Weltkriegen

Als 1918 der Krieg zu Ende ist, findet die Welt keinen Frieden. Der Kampf zwischen den Ideologien geht weiter. Nach seinem Buch "Der taumelnde Kontinent" über Europa vor dem Ersten Weltkrieg führt Philipp Blom in "Die zerrissenen Jahre" die Geschichte weiter bis 1938 und richtet seinen Blick dabei auch auf die USA.

Von Roland H. Wiegenstein | 12.10.2014
    Ein deutscher Soldat in einem Schützengraben vor Ypern am 24. April 1915.
    Bloms Buch beginnt im Jahr 1918 mit der beispiellosen Traumatisierung so vieler Soldaten in den Schützengräben. (picture alliance / dpa)
    Der "Taumelnde Kontinent", so hat der in Wien lebende Historiker und Publizist Philipp Bom 2009 sein Buch über die Jahre zwischen 1900 und 1914 genannt, in dem er Jahr für Jahr die Erfindungen und Errungenschaften der Moderne, ihre Fortschritte und Fehler untersuchte, die sich zu einer explosiven Mischung formierten, deren wirksamstes Kennzeichen die Beschleunigung all dessen war, was sich im 19. Jahrhundert schon angekündigt hatte: Es brachte den Kontinent ins Taumeln, indes die maßgebenden politischen Mächte dieser Zeit, erstarrt in monarchischen Strukturen, am Ende nur noch den Krieg, diese "Urkatastrophe des Jahrhunderts" als Ausweg sahen. In seinem neuen Buch "Die zerrisssenen Jahre 1918-1938" führt Blom diese Chronik wiederum Jahr für Jahr fort. Er begreift diese Zeit als eine, in der die technische und politische Moderne, jeweils zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gebieten und mit gleichermaßen beängstigenden Ergebnissen sich durchsetzt, bis all das, was geschieht, sich wiederum in Krieg entläd.
    "Die Episoden, die hier exemplarisch für eine unendlich zerrissene und komplexe Zeit stehen, beschreiben einen Bogen vom Schock der Nachkriegszeit zur stärker werdenden Hoffnung 1920er-Jahre, die mit der Weltwirtschaftskrise wieder zunichtegemacht wurde, und sich von da an nicht mehr vom Schatten der nahenden Katastrophe befreien konnte. Aus der Nachkriegszeit wurde eine Vorkriegszeit."
    Episoden - darum handelt es sich: keine Welt- oder Staatenhistorie, sondern jene Geschichten, große und kleine, entscheidende und beiläufige, die in der kollektiven Erinnerung der Menschen und Völker nisten, selten erzählt, häufiger beschwiegen, aber immer im Unterbewusstsein vorhanden. Was erinnern wir? Was wollen wir erinnern? Die Kriege, oder - viel intensiver noch - die Umbrüche, die plötzlich oder zunächst fast unbemerkt, unsere Welt grundstürzend verändert haben; sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses, oder besser: der Erinnerungen des jeweils betroffenen Kollektivs geworden, ihr verdrängtes psychisches Unterfutter. So wie in Deutschland die Hyperinflation, in der man für Millionen nicht einmal ein Brot kaufen konnte, oder die Weltwirtschaftskrise der späten 20er-Jahre, von der unsere Großeltern manchmal erzählten und die bis heute Zentralbankentscheidungen hierzulande beeinflusst: nur keine Schulden bitte! Oder in den USA die Erinnerung an die große "dust bowl", die Austrocknung und die darauf folgenden Sandstürme der frühen dreißiger Jahre im mittleren Westen. Es gibt noch Zeitgenossen, die angesichts der jüngsten Sandstürme, die über Kansas, Arizona, und andere Staaten in der Mitte des Landes hinwegfegen und die sie anders als damals im Fernsehen verfolgen, der bare Schrecken ergreift: Es könnte sich wiederholen, was viele ihrer Vorfahren damals von den Feldern vertrieb. Oder in Russland die Erinnerung an Tschekisten, die bei den Bauern, kleinen Leuten wie Großbauern, den sogenannten Kulaken, das letzte Stück Vieh, den letzten Sack Getreide beschlagnahmten, bis ihnen nichts mehr blieb, als zu sterben, erst die Kinder, dann die Erwachsenen. Davon redet man in der Ukraine noch, wenn schon nur flüsternd. Oder die Erinnerungen an Aufbrüche, die vage Hoffnungen verhießen: Arbeitererhebungen der 20er- und 30er-Jahre fast überall in Europa: in Deutschland, Frankreich, in England, Spanien, die allesamt an ihren utopischen Forderungen und denen, die die Macht hatten, scheiterten, oder den Brand des Justizpalastes in Wien, den des Reichstags in Berlin.
    "Der Markt" als neuer Heilsbringer
    In der umfangreichen, wissenschaftlichen Literatur über diese Zeiten, eben der Jahre, die Bloms Thema sind, werden sie als notierte Tatsachen gleichsam zum Beifang der politischen Verwerfungen - aber wieviel von dem, was wir nicht mehr erlebten, doch unsere Vorfahren sehr wohl am eigenen Leib, hat sich sedimentiert in der Furcht der Nachgeborenen, ist nur unzureichend aufgearbeitet worden angesichts des zweiten großen Krieges und einer in Europa bisher im Wesentlichen friedlichen Nachkriegszeit, die neue Hoffnungen konkret machte, Ängste hintanstellte. Die Angst aber ist in den Kollektiven immer noch unbewusst vorhanden; doch nun soll "der Markt", der neue Heilsbringer alles richten, er bestimmt überall Verhaltensweisen von heute - mit Folgen.
    "Die Ironie dieser Situation besteht darin, dass die Theorie vom perfekten Markt genauso ideologisch ist, wie Kommunismus und Faschismus. Der Glaube an den perfekten Markt war von Anfang an zutiefst ideologisch, sogar religiös. Die großen politischen Ideologien füllten das moralische und politische Vakuum, das nach dem ersten Weltkrieg entstanden war. Sie boten eine Perspektive und eine Erklärung, Sicherheit der Menge und einen Grund zur Hoffnung. Die Hoffnung bekam eine Mitgliedsnummer.(...)"
    "Für diejenigen, die glauben, dass wir aus der Geschichte lernen können, ist die Parallele zur Zwischenkriegszeit alles andere als beruhigend."
    "Wir können nur hoffen, dass angesichts der gigantischen Probleme, die wir ungelöst lassen, die Generationen unserer Kinder und Enkelkinder Grund dazu haben, uns positiver zu beurteilen, als wir das im Hinblick auf unsere Großeltern tun."
    Wir haben vorgegriffen: Mit dieser Hoffnung Bloms endet sein Buch über die Zerrissenen Jahre. Angesichts neuer, wenn schon meist außereuropäischer und anscheinend unlösbarer blutiger Konflikte, dem Aufflackern alter, anscheinend immer noch nicht genügend falsifizierter Glaubens- und Meinungskriege, zu denen sich als neuer, universeller Feind ein kriegerischer Islam gesellt hat, ist der Blick des Autors aufs Vergangene womöglich doch lehrreich. Bloms Methode ist die harte Gegenüberstellung der Ereignisse, deren dialektische Vermittlung überlässt er dem Leser.
    Traumatisierung in den Schützengräben
    Er beginnt wenig beruhigend im Jahr 1918 mit dem, was man im Angelsächsischen "Shell shock" genannt hat: der beispiellosen Traumatisierung so vieler Soldaten in den Schützengräben, die man in Deutschland "Kriegszitterer" nannte.
    "Die meisten Soldaten starben, ohne je auch nur einen Feind gesehen zu haben. Sie waren wenig mehr als lebende Zielscheiben, die von Erkundungsflugzeugen identifiziert und dann aus der Ferne ausgelöscht wurden. Für viele Soldaten war gerade diese Erfahrung vernichtend."
    Blom beschreibt diese Erfahrung, deren Opfer wir allenfalls noch aus den Bildern von Otto Dix und George Grosz kennen, als eine, die dauerte und kaum heilbar war. Die traumatisiert Heimkehrenden wurden gnadenlos beiseite geschoben und das erste Mahnmal für den Unbekannten Soldaten in London war leer.
    Doch schon 1919 begann der Unsinn des Krieges als Parodie von Neuem: in Gabriele d'Annunzios närrischer Eroberung des kroatischen Fiume und seines kurzlebigen Operettenstaats. Von D'Annunzio und seinen absurden Abenteuern führt Blom sein Weg der unvermittelten Gegensätze zu einem der wirrsten und einflussreichsten deutschen Visionäre, jenem Oswald Spengler, der den ersten Teil vom "Untergang des Abendlandes" veröffentlichte, viel gelesene Professoren-Prosa. Denn Spenglers Zeitalter-Theorie von den Rassen wirkte einleuchtend, so sehr sie zusammengeschustert sein mochte. Sie hat in den Untergangsprophezeiungen und Welthoffnungen der Sozialisten und Kommunisten auf der einen, und der Faschisten auf der anderen Seite eine trübe Rolle gespielt.
    Prohibition, Jazz und Frauenemanzipation
    Blom lässt es nicht bei kontinentalen Problemen: Er macht einen Sprung über den Atlantik, wo eine böse Form des Rassismus politisch Gestalt annahm im Kostüm des Ku-Klux-Kan, dessen Ortsgruppen allein weißen Protestanten vorbehalten waren und die nur einen Feind kannten, die "Nigger". Dieser Rassismus, der anders auch in Europa grassierte - gegen die Juden vor allem -, blieb als Negerhass eine amerikanische Spezialität. Es waren auch die weißen, meist evangelikalen Sekten, denen 1920 ein für Amerika umstürzender Coup gelang: die Prohibition. Der achtzehnte Zusatz zur Verfassung, schon 1917 beschlossen, 1919 in Kraft gesetzt und ab 1920 von den Behörden, vor allem dem neu gegründeten FBI, rücksichtslos durchgesetzt, war, wie Blom schreibt, ein Kampf zwischen dem Amerika der Kleinstädte und dem Amerika der großen Metropolen. Die Folgen waren unerwartet: Die öffentliche Moral sank, überall in den Städten gab es in Hinterhöfen "Speakeasies", in denen Whisky ausgeschenkt wurde, und eine Mafia, mit dem berüchtigten Al Capone an der Spitze, die damit reich wurde. Der Spuk wurde erst 1929 beendet, zu spät: Eine neue Kriminalität hatte Fuß gefasst. Das Zeitalter des verbotenen Alkohols und des Jazz emanzipierte beinah beiläufig und doch wirksam auch die Frauen.
    "Weit weg von missbilligenden Nachbarn oder Bekannten, entdeckten auch Frauen die glamourös verruchte Atmosphäre dieser Clubs, wo sie nicht nur tranken, sondern auch Zigaretten rauchten. In den Speakeasies entdeckten Millionen von Amerikanern eine neue Freiheit, die lässige Verachtung aller sozialen Konventionen und den Gesetzesbruch als tägliche Gewohnheit."
    1921 bedeutete für das östliche Europa das Ende einer Hoffnung. Und mit dem Aufstand der Matrosen in der Marinebasis von Kronstadt bei St. Petersburg den Beginn einer blutigen Diktatur.
    "Die neuen kommunistischen Machthaber hatten keine Erfahrung mit der Verwaltung und Versorgung der Bevölkerung und ließen sich auf immer neue Experimente ein. Die Kronstädter Rebellen aber verlangten nicht nur Meinungsfreiheit , sondern auch sofortige geheime Wahlen, die Freiheit, neue Gewerkschaften zu bilden, sowie die demokratische Kontrolle über alle Zweige der Regierung. Sie forderten nicht das Ende der Sowjetunion oder der revolutionären Ziele, sondern etwas noch Gefährlicheres: Sie versuchten, die Revolution von der Partei zurückzuerobern und sie in einer echten Demokratie zu verankern."
    Vergeblich. Die Partei behielt die Oberhand und Lenin benutzte sie, um überall Oppositionelle auszuschalten. Und diese von Blom ausführlich beschriebene Entwicklung zu einem autoritären Staat hatte Auswirkungen nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf Amerika, wo Bergarbeiter gegen eine besonders perfide Ausbeutung in den Streik traten und Polizei und Armee sie niederknüppelten.
    Beginn der Emanzipation der Schwarzen
    1922, wieder ein harter Schnitt: Die "Renaissance in Harlem", wie sie Blom nennt, der er, ein großer Kenner des Jazz, ein ausführliches Kapitel widmet. Jazz, das bedeutete auch Emanzipation der Schwarzen, ihren Beginn jedenfalls und schwappte über nach Europa. Mit der erstaunlichen Karriere der Josephine Baker begann auch in Paris und Berlin der Aufstieg einer modernen, polyglotten, kulturellen Moderne die Massen zu erreichen, und die, die sich selbst zur "lost Generation" erklärten, kamen aus den USA nach Europa und feierten sich, ihre Literatur und künstlerische Freiheit.
    1923 wurde das Jahr, in dem von den Naturwissenschaften, der Astronomie und der Atomwissenschaft vor allem, tradierte Weltbilder in neue Ungewissheiten gestürzt wurden. Mit den Entdeckungen des Amerikaners Edwin Hubble über die Ausdehnung des Weltraums in bislang unvorstellbare, weil nicht erkundbaren Weiten, und die neue Quantenphysik, in der nicht mehr die Atome als kleinste Einheiten galten, wurden uralte Gewissheiten obsolet, der Dualismus etwa, der seit Aristoteles bestanden hatte und durch Newtons Erkundungen bestätigt zu sein schien. Aber Blom beschreibt nicht nur dies neue, im Wortsinn unvorstellbare Weltbild der neuen Physik, sondern auch die Gegenbewegung derer, vor allem ihrer deutschen Vertreter, die das nur für eine jüdische Erfindung hielten. Genau an dieser Stelle erlaubt sich Blom auch einen kritischen Blick auf die deutsche Philosophie der Zeit. Die in Deutschland so verpönte jüdische Physik hatte gleichwohl eine erstaunliche Popularität, befeuerte Filme und Bücher. Franz Kafkas Erzählung "Der Hungerkünstler", dessen Held langsam verschwindet, gilt Blom als die Metapher für die Zeit.
    1924: Vom Prager Dichter ist für ihn der Weg nicht weit nach Frankreich zu André Breton, dem Surrealismus und dessen Ausbreitung und Fraktionierung überall im westlichen Europa. Für Blom ist das auch der Anlass, die Kunst- und Literaturszene der frühen 20er-Jahre zu beleuchten. Und - auch so eine Episode, die der Autor für bemerkenswert hält - den amerikanischen Kampf um die Evolutionstheorie, die das Parlament von Tennessee an den Schulen zu lehren verbot. 1925 gärte es überall in den Köpfen, Darwin und Nietzsche wurden zu Referenzfiguren und dies führte, weithin mißverstanden, zu den in vielen Ländern virulenten eugenischen Ideen von der biologischen, durch Zucht erreichbaren Verbesserung der Menschen, Ideen, die in Deutschland später konsequent zur "Vernichtung unwerten Lebens" führten.
    Jahr der Roboter
    1926 ist für Blom das Jahr der Roboter, der künstlichen Menschen; seine Beispiele: Der erst 2013 rekonstruierte Monsterfilm "Metropolis" und Chaplins komisch warnende "Modern Times". Die in den USA von Henry Ford eingeführte und durchgesetzte Montagearbeit am Band setzte sich nicht nur in der Autoindustrie durch, sie wurde in allen entwickelten Ländern zur Regel und in der Sowjetunion zur Sklaverei, gleicherweise wissenschaftlich "verordnet" und - verschlampt, das Band veränderte das Leben der Werktätigen, wie man die Arbeiter nannte, radikal.
    Für 1927 nennt der Autor den von Canetti und Doderer erlebten und beschriebenen Brand des Wiener Justizpalastes als entscheidendes Datum. In der Republik Österreich entlud sich die Frustration über die minimierte Rolle des untergegangenen k.u.k. Kaiserreichs gewaltsam. Die von einer sozialistischen Stadtregierung begonnenen Reformen, etwa im Sozialwesen und die Anwesenheit von 200 000 Juden in Wien erregte den Hass des nostalgischen Kleinbürgertums, ein Hass, der sich auch in Frankreich Luft machte, selbst bei erlauchten Geistern wie Marcel Proust, Dreyfuss war nicht vergessen.
    "Überall zeigte sich das Dilemma, dass die Moderne tief in das Leben der Menschen eingriff und sie dabei veränderte, diese Veränderung aber mit Angst und Misstrauen beäugt wurde. In Österreich führte es zum reaktionären Ständestaat des Engelbert Dollfuß."
    Derweil rüstet die industrielle Moderne in Amerika frenetisch auf: Autos waren rasch von einem Privileg der Reichen zum Fortbewegungsmittel des Mittelstands geworden. Auch Frauen setzten sich hinters Steuer und die burschikosen "Flapper", von Film und Reklame gepriesen, wurden zum Kennzeichen der großstädtischen Massen, verbreiteten sich, aristokratisch verlarvt, selbst in England. Typisch für das Klima waren die oft zitierten Mitford-Schwestern aus alten Adel, von denen zwei den Sirenengesängen der Rechten folgten, eine zur Linken wurde, eine mondäne Romane schrieb und nur eine standesgemäß heiratete und aus der Geschichte verschwand. Bei Blom tauchen unter anderem die "Comedian Harmonists" auf und die "Dreigroschenoper" von Brecht und Weill. Und, mit einem scharfen Schnitt, die Industrieschlachten der aus dem Boden Sibiriens gestampften "Magnetstadt" von Magnitogorsk, die Kulakenmorde, die Hungersnot und als westliches Pendant die Weltwirtschaftskrise von 1929, die lang andauernde "Große Depression", die erst Roosevelts Sozialprogramme milderten - und die erst der neue Krieg mit seiner Rüstungsindustrie beenden sollte.
    Die Sowjets hatten ironischerweise amerikanische Firmen mit dem Aufbau von Magnitogorsk beauftragt, sie luden Sympathisanten aus dem Westen ein, von denen sich manche täuschen ließen, und sie machten im eignen Land allen modernen Kunstäußerungen rigoros ein Ende.
    1930 widmet sich vor allem deutschen Befindlichkeiten, dem was die Bürger als eine Art von Babylon begriffen, in dem der "Blaue Engel" als verlockendes Gespenst umging. Und dem die braunen Horden den Kampf ansagten.
    Ideologien als Refugium der Massen
    "Als die Stimmung umzuschlagen begann und die Energien der Moderne sich gegen die zu richten schienen, die ganz unten in der Gesellschaft ums Überleben kämpften, wurden die großen Ideologien zum Refugium der Massen."
    Blom beschäftigt sich ausführlich mit dem Aufstieg des italienischen Faschismus und Mussolinis, des Staatsführers seit 1922, der auch die Mittelschichten und die Kirche in sein totalitäres Modell zu integrieren verstand. Aber:
    "Mussolini war bei Weitem nicht der Einzige, der religiösen Symbolismus und fromme Gefühle für eigene Zwecke benutzte. Faschismus, Sozialismus und Kommunismus können nicht nur als politische Religionen beschrieben werden, sie erfüllten auch eine religiöse Sehnsucht nach Ordnung, Sinn und Ziel."
    Goebbels und Hitler stürzten sich auf die historische Chance und propagierten eine messianische Hoffnung, die auf Hitler als Retter und Mann der Vorsehung fokussiert war. In Russland hatte die wunderbare Zukunft ein anderes, bitteres Gesicht. Blom beschreibt die Kollektivierung der Landwirtschaft und ihre Opfer ausführlich, und in ihrer Folge das, was er "Hinrichtung durch Hunger" nennt. Er nennt auch die Zahl der Opfer des Experiments: Sieben bis acht Millionen Tote haben die Historiker gezählt.
    Was Wunder, dass in Deutschland die Versprechungen der anderen Ideologie verfingen, bereits am 10. Mai 1933, nachdem der erhoffte Retter Hitler etabliert war, die Bücher brannten, in die Flammen geworfen von Studenten, die nichts mehr wissen wollten von Thomas Mann, von Döblin, Feuchtwanger und vielen anderen, die als geistiger Glanz Deutschlands gegolten hatten. Viele Intellektuelle flohen in diesen ersten Jahren der NS-Herrschaft, andere hofften auf bessere Zeiten wie etwa Werner Heisenberg und Richard Strauss. Wieder andere erlebten einen steilen Aufstieg, vom kleinen Architekten Albert Speer bis zum großen Dirigenten Furtwängler. In Italien verweigerte sich zwar der Historiker Benedetto Croce, viele andere aber paktierten, wenn schon teils unwillig. Oder sie wurden auf der anderen ideologischen Seite, in der Sowjetunion umgebracht wie Ossip Mandelstam. Überall, wo die großen Ideologien bestimmten, hatten die Nüchternen, die Klugen, die Oppositionellen keine Chance.
    Für das Jahr 1934 führt Blom das Beispiel England an: Auch dort marschierten die faschistischen Schwarzhemden des Oswald Mosley, aber der Widerstand nüchterner Geister brachte das Liebäugeln eines Teils der Oberschicht mit faschistischen Ideen zum Verstummen. Auch der Kommunismus brachte nicht wirklich Teile der Arbeiterschaft hinter sich: Angelsächsischer Pragmatismus obsiegte, wenn schon unter Spannungen.
    1935 und die darauf folgenden waren für die USA die Jahre der Hungersnot, des großen Staubregens, den Blom ausführlich beschreibt. Es waren technische Errungenschaften, die die an sich nicht ungewöhnlichen Trockenperioden zur Katastrophe machten: Neue Pflüge, die die Erde nur oberflächlich ankratzten, trieben die flache, ausgetrocknete Erdschicht durch Tornados aufgewühlt als Staubwolken über das Land, Wir kennen aus dieser Verwüstung im buchstäblichen Sinn fast nur noch die Fotografien, etwa Dorothee Langes; ihre viel tausendfach in den Zeitungen reproduzierte "Mutter mit zwei Kindern" aufgenommen in einem Flüchtlingslager,
    "... trug vielleicht stärker als jede andere Initiative, Rede oder Darstellung dazu bei, einen breiten Konsens zu schaffen, dass mehr öffentliche Hilfsgelder für die zerstörte Region mobilisiert werden mussten. Erst 1939 kam dann der Regen zurück."
    In Europa wurde seit 1935 die Flucht aus Deutschland immer schwieriger. Die Aufnahmeländer zögerten bei der Visavergabe, und die englische Besatzung Palästinas tat viel, um die Einreise von verfolgten Juden schwierig zu machen.
    Einer alten Emigrantenlegende zufolge, hatte ein deutsch-jüdischer Akademiker in Tel Aviv ein Hitlerporträt auf dem Schreibtisch stehen. "Ich brauche es gegen das Heimweh", soll er gesagt haben.
    Derweil rüstete sich Hitler-Deutschland 1936 zur Olympiade in Berlin. Sie sollte eine Triumphfeier des arischen Menschen werden. Und als dann ein Schwarzer die 100 m gewann und noch weitere Goldmedaillen dazu, wandte sich der "Führer" angeekelt von Jesse Owens ab. Ein Schwarzer gehörte nicht zur Rasse der von ihm gepriesenen, arischen Übermenschen. Doch selbst Roosevelt riskierte es nicht, Owens zu beglückwünschen.
    Gessierender Gruppenwahn
    Der Gruppenwahn grassierte: Die Bolschewisten sahen den Menschen als Teil einer riesigen Maschine, die Faschisten versuchten, wie Blom schreibt,
    "... sich vom Joch der anonymen Existenz in der modernen Gesellschaft zu befreien oder ganz in der organischen Masse aufzugehen. (...) Der nationalsozialistische Kult der körperlichen Ertüchtigung war mit dem apokalyptischen Ziel eines Rassekriegs verbunden."
    Doch der Widersinn der biologischen Rassenverbesserung, eben die Eugenik, grassierte auch in anderen Ländern, nirgendwo freilich führte sie zu 400.000 Zwangsterilisierungen und zur mörderischen "Euthanasie".
    In Spanien zerriss der Bürgerkrieg des Obersten Franco das Land und führte zu einer lange andauernden Diktatur, die alle Schichten barbarisierte: Auf die Angriffe und Morde der Linken, folgten die Mordzüge der Rechten, eine systematische Terrorkampagne, wie Blom schreibt. Der auch die vielfältigen Hilfen Deutschlands und Italiens für Francos Truppen, diesen Probelauf für den Ernstfall, genau beleuchtet, wie das Zögern der Westmächte und die mörderischen ideologischen Kriege innerhalb der Linken. Stalins Emissäre mischten mit. Diese Kämpfe sind vielfach in die Literatur eingegangen, Blom weist auch darauf hin.
    Was sich bei den Auseinandersetzungen zwischen orthodoxen Kommunisten und den Anarchisten der POUM in Spanien gezeigt hatte, das wurde in der Sowjetunion von Stalin den Jahren der großen Säuberungen zur Mordorgie. Schauprozesse und Erschießungen ohne alle juristischen Umstände: Alles diente dazu, die Alleinherrschaft Stalins zu festigten.
    "Im Verlauf dieses Buchs habe ich versucht, die Erfahrungen der Nachkriegszeit und der darauf folgenden Jahre plastisch werden zu lassen und zu erkunden, wie die Geschichte der Moderne sich im Leben ganz unterschiedlicher Menschen manifestierte."
    Emphatischer Blick auf die Moderne
    Es ist Blom weithin gelungen, die vorwärtsdrängenden wie die bremsenden Kräfte dieser Moderne einleuchtend zu machen. Für ihn besteht die Tragödie der Zwischenkriegszeit darin, dass sie keine offene Zukunft hatte. Haben wir heute eine? Ist diese Moderne, die unsere Welt so radikal veränderte und jeden Tag weiter verändert, die ein Tausende von Jahren währendes analoges Zeitalter mit zunehmender Geschwindigkeit in ein digitales verwandelt mit neuen, noch nicht begriffenen Herausforderungen, wirklich eine offene Zukunft? Oder ein Anfang mit notwendigerweise schlimmen Ende? Schaffen die Menschen, schaffen wir es, die Erde zu einem mindestens erträglichen Ort für alle Menschen zu machen, oder wird sie am Ende ein im Weltall kreisender Ball, auf dem nur noch Insekten leben können? Bloms emphatischer Blick auf die Moderne ist einer, der trotz aller Furcht hoffen lehrt, weil er auch klarmacht, dass nichts von den Gräueln des 20. und beginnenden 21. Jahrhundert unausweichlich, "alternativlos", wie man heute sagt, sein muss, dass es möglich sein kann, auch den suizidalen Formen dieser Moderne Einhalt zu gebieten und ihre Fortschritte auszubauen. Man kann und soll nicht alles machen, was technisch und ökonomisch möglich ist! Aber dies ist am Ende eine theologische Frage. Und mit der hat Blom nichts zu tun. Er stellt dar, auf weite Strecken einleuchtend und zu unser aller Nachdenken. Alles andere ist Spekulation.
    Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918-1938.
    Hanser Verlag, München 2014, 592 Seiten, gebunden, 26 Euro