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Philippe Ariès
Rekonstrukteur vergangener Mentalitäten

Im Jahr 1960 entzündete Philippe Ariès mit seinem Werk "Die Geschichte der Kindheit" die Geister. Mittlerweile gilt der vor 100 Jahren geborene Franzose als Vorläufer der Kulturwissenschaften.

Von Maike Albath | 21.07.2014
    In einer alten mechanischen Schreibmaschine steckt ein Blatt Papier.
    "… war ich verblüfft herauszufinden, dass das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich für etwas sehr altes gehalten hatte, tatsächlich viel moderner war, als wir alle glaubten." (picture alliance/dpa-Zentralbild - Matthias Tödt)
    Ein schmaler, bebrillter Herr Mitte 40, der nie ohne passende Manschettenknöpfe das Haus verließ, veröffentlichte 1960 in Paris eine bahnbrechende Studie über die Kindheit. Aber erst die amerikanische Übersetzung zwei Jahre später verhalf ihm zu größerer Prominenz.
    "Als ich mein Buch über die Familie und die Kindheit schrieb, war ich verblüfft herauszufinden, dass das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich für etwas sehr altes gehalten hatte, tatsächlich viel moderner war, als wir alle glaubten."
    Im Mittelalter, so stellte Philippe Ariès fest, wuchsen Kinder im Kollektiv auf. Kaum kamen sie mit etwa sieben Jahren allein zurecht, wurden sie Teil der Erwachsenenwelt.
    Ariès, am 21. Juli 1914 als Sohn einer traditionsreichen Familie in Blois geboren und in seiner Jugend ein überzeugter Monarchist, hatte Anfang der 30er-Jahre an der Pariser Sorbonne in den Fächern Geografie und Geschichte Examen gemacht.
    Er nannte sich selbst einen "Sonntagshistoriker"
    An der weiterführenden staatlichen Prüfung agrégation d'histoire scheiterte er dann allerdings gleich zwei Mal. Für den wissbegierigen jungen Mann noch lange kein Grund, seine historischen Recherchen aufzugeben, im Gegenteil. Aber nicht die traditionell an den Universitäten gelehrte Ereignisgeschichte interessierte ihn, sondern Kirchenbücher und Liturgien, Friedhöfe, Gemälde, Opern und literarische Werke. 1943 trat er in das Institut für die Erforschung der kolonialen Landwirtschaft ein. Er nannte sich einen "Sonntagshistoriker": Sein fundiertes Quellenstudium betrieb er in seiner Freizeit, mit Unterstützung seiner Ehefrau. Sein Ansatz war elektrisierend.
    "Die Vorstellung, dass ein Kind bereits eine vollständige menschliche Persönlichkeit verkörperte, wie wir heute allgemein glauben, kannte man im 16. Jahrhundert nicht. Zu viele starben. 'Sie sterben mir alle als Säuglinge weg', um noch einmal Montaigne zu zitieren. Diese Gleichgültigkeit war eine direkte und unausweichliche Konsequenz der Demographie der Epoche."
    Eng mit dem Philosophen Michel Foucault befreundet und von dessen Gespür für Erscheinungsformen von Macht geprägt, hatte Ariès die Familienstrukturen und den Umgang mit Hygiene ebenso im Blick wie die Nutzung der Häuser oder den Schulunterricht. Mit erzählerischer Verve rekonstruierte er Mentalitäten, wodurch er den Historikern im Umfeld der Zeitschrift "Annales" nahe rückte.
    Ariès beklagte "Mangel an gemeinschaftlicher Fürsorge"
    Seine Anerkennung in Frankreich ließ auch nach dem internationalen Erfolg der Geschichte der Kindheit auf sich warten. Bis 1977 erforschte Aries den Umgang mit dem Tod.
    "In der ersten Hälfte des Mittelalters fügte sich der Mensch ganz in sein Geschick. In dem Augenblick, in dem er seinen Körper und seine Seele der Kirche anvertraute, fürchtete er kein Unglück. Alles, was ihn erwartete, war, dass er bis zum Ende der Zeiten schlafen würde. Aber von dem Zeitpunkt an, an dem der mittelalterliche Mensch entdeckte, dass er ein eigenes, ganz persönliches Leben, ein eigenes Schicksal hat, änderte sich das. Denn das Bewusstsein des eigenen Schicksals hatte eine Beurteilung des eigenen Lebens zur Folge, eine Beurteilung, die für das Gute wie für das Schlechte, das man in seinem Leben zu verantworten hatte, im Jenseits entweder Lohn oder Strafe verhieß."
    Während früher der Tod eine öffentliche Angelegenheit gewesen sei, grenze man ihn heute komplett aus dem gesellschaftlichen Leben aus. Es herrsche ein Mangel an gemeinschaftlicher Fürsorge, erkannte Ariès.
    "Dem Tod gegenüber habe ich eine sehr zwiespältige Haltung, wie sie wohl die meisten Zeitgenossen haben. Tatsächlich empfinde ich so etwas wie Abscheu und Ekel vor dem verbotenen Tod unserer Tage. Dagegen spüre ich eine beträchtliche Nostalgie für den mittelalterlichen, den gezähmten Tod, aber andererseits bin ich ein Kind meiner Zeit, und ich teile deshalb die Gewissheit, dass mich der Tod von jenem Menschen trennen wird, den ich liebe. Stürbe ich vor dieser Person, dann wäre dies ein sehr schmerzlicher Bruch für sie."
    Nach der Veröffentlichung der "Geschichte des Todes" 1977 ernannte man Ariès im Folgejahr zum Direktor der traditionsreichen Écoles des hautes études. Lange konnte er seinen späten Ruhm nicht mehr genießen. Philippe Ariès starb 1984 in Toulouse.