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Philosoph Michael Hampe
"Die ideologische Verwendung des Naturbegriffs ist sehr gefährlich"

"Die" Natur gibt es nicht. Auch die Vorstellung von der Natur unterliegt historischen Kontexten. Darauf weist der Philosoph Michael Hampe im Gespräch mit dem Deutschlandfunk hin. Das hat Auswirkungen auf unseren Umgang mit Naturkatastrophen aber auch mit der Vorstellung von Homosexualität.

Michael Hampe im Gespräch mit Michael Köhler | 14.05.2015
    Der Gülper See liegt im Naturpark Westhavelland in Brandenburg.
    Natur sei historische Ansichtssache, meint der Philosoph Michael Hampe (Deutschlandradio / Volker Finthammer)
    Die Rede von der Natur sei eine ideologische, unterstrich Hampe, der an ETH Zürich lehrt, und führte aus: "Ich halte die ideologische Verwendung des Naturbegriffs für sehr gefährlich." Wenn man zum Beispiel sage: "Homosexualität ist unnatürlich", was seit dem 19. Jahrhundert von diesem oder jenem getan worden sei, dann sehe man daran, was sich mit dem Naturbegriff so allerlei machen lasse. Als weiteres Beispiel brachte der 54-jährige Philosophieprofessor: "Es wird seit der Antike auch gesagt, dass das Schürfen von Erzen etwas Unnatürliches ist, wo Mutter Natur verletzt wird durch einen Tagebau." Nach Auffassung des Wissenschaftlers stimmt es einfach nicht, dass es unumstößliche Tatsachen über "die" Natur gäbe. "Wir wissen nur immer etwas über einzelne natürliche Wesen, einzelne Tiere, einzelne Pflanzen, aber nichts über 'Mutter Natur' im Ganzen."
    Hampe plädierte für eine unaufgeregtere Haltung zur Natur. "Auch die technisch-zivilisatorischen Entwicklungen sind ja nicht unnatürlich." Die Menschheit baue Häuser und Maschinen, weil sie bestimmte Naturgesetze kenne: "Wenn wir die Gravitationsgesetze nicht kennen würden, würden wir keine Statik errechnen können." Auch das habe etwas mit natürlichen Verhältnissen zu tun. Ohne dieses Wissen wäre die Überbauung natürlicher Flächen wie Flussläufe gar nicht möglich. "Zu sagen, dass unsere Bautätigkeit etwas Unnatürliches ist und sich dann der Fluss rächt, das halte ich eher für eine mythische Redeweise als für eine sachgerechte."
    Die logische Konsequenz daraus sei, dass man entweder mit dem Risiko von Naturgewalten wie Überschwemmungen oder Erdbeben leben müsse. Oder aber diesen Gefahren, dort wo sie am wahrscheinlichsten seien, aus dem Weg gehen müsse. Am heutigen Christi-Himmelfahrts-Tag, der bekanntlich auch der "Vatertag" ist, zieht es Hampe übrigens vor zu arbeiten – sprich einen Aufsatz zu schreiben: "Das macht mir, glaub ich sogar, mehr Spaß, als im Wald Bier zu trinken."

    Michael Köhler: Die Natur, sie kennt eigentlich nur Variation und Selektion – jedenfalls, wenn man so als Biologe, als Evolutionsbiologe denkt und spricht. Sie hat kein Ziel – Menschen haben Ziele. Aber die Natur macht diesen Zielen oft einen ziemlichen Strich durch die menschliche Rechnung. Katastrophen wie Erdbeben erinnern und immer wieder daran, zeigen uns, dass wir die Dinge nicht in der Hand haben, sie unverfügbar sind. Ich habe mich Michael Hampe darüber gesprochen. Er ist Philosoph und lehrt in Zürich, er hat über "Tunguska oder Das Ende der Natur" ein Buch geschrieben. Ihn habe ich gefragt: Menschen sind von Natur aus Kulturwesen, unterwerfen sich gern die feindliche Natur, auf was treffen wir da, wir zielhaften Lebewesen Mensch, wenn wir auf Natur treffen?
    Michael Hampe: Ja, die einzelnen Wesen, die es in der Natur gibt, die haben natürlich Ziele, aber die sind nicht aufeinander abgestimmt. Deshalb ist die Rede von der Natur ja auch eine abstrakte, es gibt ja nicht die Mutter Natur, die können wir ja nirgendwo antreffen, sondern wir treffen Katzen, Hunde, Eichen, Mohrrüben, die Sonne, den Mond und so weiter an. Und da gibt es, wenn wir es mit Lebewesen zu tun haben, Selbsterhaltungsbedürfnisse, da gibt es, wenn wir es nicht mit Lebewesen zu tun haben, natürliche Rhythmen, und das ist teilweise aufeinander abgestimmt durch eine lange Evolutionsgeschichte. Teilweise ist es aber nicht aufeinander abgestimmt: Überschwemmungen, Erdbeben und Meteoriteneinschläge sind natürlich nicht darauf abgestimmt, wie sich Lebewesen entwickeln, sondern machen ihnen große Probleme. Und die Vorstellung, die bis ins 18. Jahrhundert präsent war, die im Wesentlichen noch durch die biblische Schöpfungsgeschichte bedingt war, dass alles so eingerichtet ist, dass die natürlichen Wesen eigentlich miteinander zurechtkommen und sich gegenseitig nützlich sind, diese Vorstellung stimmt einfach nicht. Bei den meisten natürlichen Veränderungen gibt es sowohl Gewinner wie Verlierer, und bei bestimmten natürlichen Veränderungen gibt es, wenn wir auf die Lebewesen schauen, fast nur Verlierer – bei Vulkanausbrüchen, bei Erdbeben, bei Meteoriteneinschlägen. Und wenn wir uns ausbreiten und mehr Bauland haben, mehr Nahrungsmittel zur Verfügung haben, dann müssen darunter Tiere leiden, und wenn die Wölfe und die Bären sich wieder ausbreiten, dann werden die Schafe das nicht gut finden und die Kühe nicht, und wir kriegen vielleicht auch wieder Angst im Wald. Also es geht eben einfach nicht harmonisch zu in den natürlichen Verhältnissen.
    "Bis ins 18. Jahrhundert ist der Naturbegriff positiv besetzt"
    Köhler: Ich greif das gern mal auf, weil Sie mich auf eine Idee bringen. Es gibt im 18. Jahrhundert das berühmte Erdbeben von Lissabon, was einflussreich war auf Dichtung, auf Philosophie, auf Manuel Kant, auf Heinrich von Kleist, was geradezu zu einer Erkenntniskrise geführt hat, nämlich dass der Progress der Erkenntnisse, also dass es nicht damit getan ist, dass wir immer mehr Naturgesetze aufstellen, sondern feststellen müssen, auch die haben ihre Geschichte, auch Naturbetrachtung hat ihre Geschichte. Das ist auch ein Gedanke, der, glaube ich, bei Ihnen wichtig ist.
    Hampe: Ja, ja. Also wenn der Begriff der Natur ein abstrakter ist, dann kann man sicher sagen, dass bis ins 18. Jahrhundert dieser Naturbegriff positiv besetzt war, dass man sich vorstellte, dass die Natur ein harmonisches Ganzes ist, sowohl durch die christliche Schöpfungsvorstellung wie auch durch die antik-historische Vorstellung, dass der Naturzusammenhang ein vernünftiger ist, weshalb von den Stoikern empfohlen wurde, dass man ein naturgemäßes Leben führen sollte und dass das dann ein gutes Leben sein würde. Diese Vorstellung ändert sich radikal, sodass wir im 19. Jahrhundert zu einem negativen Naturbegriff etwa bei John Stuart Mill kommen, wo die Natur als ein Mörder bezeichnet wird, wo wir alle zum Tode verurteilt sind, ständig mit Katastrophen zu tun haben. Und unter anderem natürlich durch diese Erdbebenkatastrophe, aber auch durch Vulkanausbrüche und Überschwemmungen besonders frappant ins Bewusstsein gerückt wurde, dass diese christliche Schöpfungsvorstellung einer auf den Menschen ausgerichteten Natur eigentlich eine Idealisierung war. Und dieses negative Naturbild ist dann mit einer Technikeuphorie und einer Fortschrittsvorstellung der Technik verbunden, dass wir diese uns gefährliche Natur eben entweder beherrschen oder durch technische Umwelten ersetzen müssen. Und im 20. Jahrhundert gibt es dann den Versuch, wieder zurückzukehren durch Bewegungen, die mit natürlicher Ernährung, mit natürlicher Bewegung zu tun haben, zu einem quasi stoischen Naturverständnis, dass wenn wir der Natur nicht wehtun, wenn wir nicht in sie eingreifen, auch selbst zu einem besseren Leben finden. Also das ist so ein Schwingungsprozess, den man da vielleicht in der Geschichte des Naturverständnisses ausmachen kann, von einem idealisierten zu einem negativen Naturverständnis wieder zurück zu einem idealisierten, was heute in der ökologischen Bewegung immer noch präsent ist.
    "'Bio' ist viel zu abstrakt, als dass uns dadurch irgendetwas Sinnvolles mitgeteilt würde"
    Köhler: Ja, man kann es vor allem auch gar nicht vermeiden. Ich möchte mit Ihnen vielleicht noch den Gedanken wagen zu fragen: Was verstehen wir eigentlich heute darunter, wenn wir von natürlich sprechen? Ich hab das mal so etwas launisch genannt, eine Negativrendite im Umgang mit Natur. Was meine ich damit? Früher stand auf Lebensmitteln drauf, was alles drin ist, also sie wurden irgendwie optimiert und man fühlte sich gut, wenn man das las, was da alles an Nährstoffen drin ist, also die Verwissenschaftlichung auch des Naturbegriffs in allen Lebensbereichen. Heute steht drauf, was nicht drin ist in den Produkten, also es ist auch so eine Umkehrung, also sozusagen die Abwesenheit von Gefahren steht jetzt wieder im Vordergrund.
    Hampe: Ja, also bei einzelnen Lebensmitteln, denke ich, geht es ja relativ konkret zu, wenn man sich jetzt fragt, ob da das Lebensmittel durch Genetic Engineering erzeugt worden ist, wenn man sich fragt, ob da irgendwelche Konservierungsstoffe drin sind, dann, finde ich, sind diese Auskünfte sehr sinnvoll. Die Verwendung von natürlich im Allgemeinen oder auch von Bio im Allgemeinen ist viel zu abstrakt, als dass uns dadurch irgendetwas Sinnvolles mitgeteilt würde. Ich denke, sinnvoll wäre es, wenn wir immer über natürliche einzelne Wesen sprechen – über diesen Baum, über diese Tiergattung und über dieses Nahrungsmittel und nicht über das Natürliche oder das Biologische als solchem. Da kann man in der Gegenwart eben feststellen, dass das Natürliche und das Biologische irgendwie positiv besetzt ist, das Chemische ist irgendwie negativ besetzt, was einen auch zu der absurden Vorstellung bringen könnte, dass das Chemische das Gegenteil oder etwas anderes als das Natürliche oder das Biologische wäre, was ja nicht stimmt. Es gibt eben natürliche Wesen, die uns gut tun, und natürliche Wesen, die uns weniger gut tun – manche beißen uns, manche ernähren uns, manche Pflanzen können uns vergiften, manche können uns heilen. Und wenn wir das im Kopf behalten, dann sehen wir relativ schnell, dass die Rede von der Natur eigentlich immer eine ideologische ist.
    Köhler: Ja, das ist ein gutes Beispiel, weil das mit dem Hochwasser ist auch so eine Sache: Das ist erst mal nicht schädlich, sondern es sorgt dafür, dass das Schmelzwasser abfließen kann. Wenn man aber zu viel Landverbrauch betreibt und die Rheinauen und ich weiß nicht was alles zubaut, dann muss man sich nicht wundern, wenn's in die Keller reinregnet und das ein oder andere Haus auch mal wegrutscht.
    Hampe: Genau, ja. Das ist dann so eine Kopplung von technischen Entwicklungen und natürlichen Entwicklungen, die dann dazu führen, dass etwas, was uns nicht gefällt, passiert. Aber auch diese technisch-zivilisatorischen Entwicklungen sind ja nicht unnatürlich. Wir bauen ja die Häuser und unsere Maschinen, weil wir bestimmte Naturgesetze kennen. Würden wir die Gravitationsgesetze nicht kennen, würden wir keine Statik errechnen können, die auch etwas mit natürlichen Verhältnissen zu tun hat – dann wären diese ganzen Überbauungen ja gar nicht möglich. Also zu sagen, dass unsere Bautätigkeit etwas Unnatürliches ist und dann der Fluss sich rächt, das halte ich eher für eine mythische Redeweise als für eine sachgerechte.
    Köhler: Auch auf die Gefahr hin, albern zu klingen, aber ich vermute stark, dass Sie den Vatertag nicht im Wald verbringen werden, oder?
    Hampe: Nein, nein, werde ich nicht, ich muss leider arbeiten. Das heißt, das macht mir, glaube ich, sogar mehr Spaß, als im Wald Bier zu trinken.
    Köhler: Unter Arbeiten verstehe ich wahrscheinlich einen Aufsatz schreiben.
    Hampe: Genau, ja.
    "Es stimmt einfach nicht, dass es unumstößliche Tatsachen über die Natur gebe"
    Köhler: Also kurz und gut, abschließend vielleicht allerletzte Frage: Wenn ich das richtig raushöre, sprechen Sie sich für eine Historisierung des Naturbegriffs aus? Also man kann nicht sagen, so, wir dackeln jetzt in die Natur und machen uns jetzt mal auf die Suche nach dem Wesen von dem Ganzen, sondern müssen immer uns bewusst sein, dass das, was wir da angucken, immer schon historisch ist.
    Hampe: Also eine Historisierung und eine Konkretisierung, weil ich die ideologische Verwendung des Naturbegriffs für sehr gefährlich halte. Wenn man sagt, Homosexualität ist unnatürlich – und das wird seit dem 19. Jahrhundert von diesem oder jenem gesagt –, dann sehen wir daran, dass man mit dem Naturbegriff so allerlei machen kann. Es wird seit der Antike auch gesagt, dass das Schürfen von Erzen etwas Unnatürliches ist, wo Mutter Natur verletzt wird durch ein Tagebauwerk beispielsweise. Und das kann man so drehen und wenden, wie es einem politisch gerade passt. Man macht dann aber vermeintlicherweise keine politische Stellungnahme, sondern bezieht sich auf unumstößliche Tatsachen. Und das stimmt einfach nicht, dass es unumstößliche Tatsachen über die Natur gebe. Einerseits ist das Naturverständnis historisch, andererseits wissen wir immer nur etwas über einzelne natürliche Wesen, einzelne Tiere, einzelne Pflanzen, aber nicht über Mutter Natur im Ganzen.
    Köhler: Und so eine Sache wie so ein Erdbeben ist halt unvermeidlich und kommt eben nicht alle tausend Jahre vor, sondern vielleicht auch mal ein bisschen häufiger, und rückt unseren Begriff von Natur dann wieder ein Stück weit gerade.
    Hampe: Das kommt häufiger vor, das Einzige, was wir dagegen tun können, ist, dass wir unsere Bautechnik verbessern und dass wir nicht an Stellen bauen, wo Überschwemmungen und Erdbeben sehr wahrscheinlich sind. Aber wenn die Menschen so wagemutig sind und so risikofreudig, dann müssen sie halt die Folgen auch tragen.
    Köhler: Sagt der Philosoph Michael Hampe. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Tunguska oder Das Ende der Natur".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.